Machtkampf in der Ukraine

Wofür stehen Juschtschenko und Janukowitsch?

Keine der offiziellen Fraktionen, die gegenwärtig in der Ukraine um die Macht kämpfen, vertritt die Interessen der breiten Bevölkerung - weder die Fraktion um den Oppositionskandidaten Wiktor Juschtschenko, noch die Fraktion um Regierungschef Wiktor Janukowitsch.

Beide appellieren teilweise an berechtigte Interessen und Bedürfnisse - Juschtschenko an das Verlangen nach Demokratie und den Widerwillen gegen ein Regime, das sich durch autoritäre Führungsmethoden, die Unterdrückung der Medienfreiheit und die Manipulation von Wahlen auszeichnet; Janukowitsch an die Angst vor den verheerenden sozialen Folgen, die die Öffnung des Landes nach Westen und die Aufweichung der traditionell engen Beziehungen zu Russland für die Industriegebiete der Ostukraine nach sich zöge.

Doch diese Appelle sind falsch und verlogen. Sie dienen dazu, die Interessen einer schmalen Elite zu verschleiern, deren Reichtum und Macht in krassem Widerspruch zur Armut und Ohnmacht der breiten Massen stehen. Diese Appelle finden eine Resonanz, weil die jahrzehntelange stalinistische Herrschaft in der Arbeiterklasse ein Erbe der Konfusion und politischen Desorientierung hinterlassen hat.

Die Art von "Demokratie", die das Juschtschenko-Lager anstrebt, kann man in Ungarn, Polen und anderen osteuropäischen Ländern bewundern, wo rechte und ultrarechte Parteien darum wetteifern, den internationalen Konzernen die besten Bedingungen für die Ausbeutung der heimischen Arbeiterklasse zu bieten. Es spricht Bände über den Charakter dieser "demokratischen" Opposition, dass sie sich von Organisationen wie dem "National Endowment of Democracy" aushalten lässt, das auch maßgeblich an den Putschversuchen gegen den venezuelanischen Präsidenten Hugo Chavez beteiligt war.

Janukowitsch repräsentiert die Oligarchenclans, die in den letzten fünfzehn Jahren die ukrainische Schwerindustrie an sich gerissen haben, dabei unermesslich reich geworden sind und auf jede Herausforderung ihrer Macht mit kriminellen Methoden reagieren.

Beide Fraktionen werden vom Ausland unterstützt und mehr oder weniger offen gelenkt.

Die westlichen Medien haben viel Aufhebens von der Einmischung des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf der Seite Janukowitschs gemacht. Putin sieht durch die Ereignisse in der Ukraine vitale russische Interessen berührt. Nach dem Beitritt der baltischen Staaten zur EU, der Stationierung amerikanischer Truppen in Zentralasien und dem von Washington gesteuerten Regimewechsel in Georgien fürchtet Moskau die Isolation, falls auch in der Ukraine ein westorientiertes Regime an die Macht gelangt. Russland droht von einer der wichtigsten Industrieregionen der ehemaligen Sowjetunion abgeschnitten zu werden und die Kontrolle über die Exportrouten seiner wichtigsten Rohstoffe, Öl und Gas, zu verlieren.

Kaum Erwähnung findet in den westlichen Medien dagegen die Einmischung der USA und der EU, die zwar weniger offen, aber ungleich massiver ist. Sie reicht von der Ausbildung, Beratung und finanziellen Unterstützung der Opposition mit Millionenbeträgen bis zur offenen Stellungnahme für Juschtschenko nach der Wahl. Das hemmungslose Eingreifen der Westmächte hat zur Verschärfung der inneren Gegensätze beigetragen und das Land an den Rand der Spaltung und des Bürgerkriegs geführt.

Welche Kräfte sind am Werk?

Mit dem Machtkampf in der Ukraine kommt ein seit langem schwelender Konflikt innerhalb der herrschenden Elite zum Ausbruch. Wiktor Juschtschenko und seine wichtigste Mitstreiterin, Julia Timoschenko, repräsentieren den Teil der herrschenden Schicht, der eine radikale Öffnung des Landes für ausländisches Kapital anstrebt.

Juschtschenko war von 1993 bis 1999 Notenbankchef und danach eineinhalb Jahre lang Ministerpräsident der Ukraine. Er führt das oppositionelle Bündnis "Unsere Ukraine" an, das bei den letzten Parlamentswahlen vor zwei Jahren zur stärksten Fraktion im Parlament wurde. Juschtschenko, der als westlicher Reformer auftritt, will die politisch-wirtschaftlichen "Clanstrukturen" aufbrechen und "demokratische Institutionen" aufbauen und stärken. Er will die Ukraine in NATO und EU führen und befürwortet einen "westlich geprägten" Kapitalismus.

Unterstützt wird er von der Vaterlandspartei "Batkywschtschina" der Millionärin (oder einigen Quellen zufolge Milliardärin) und ehemaligen Vizepremierministerin Julia Timoschenko. In den Methoden, mit denen sie ihren Reichtum erlangte, steht sie den übelsten Oligarchen und Mafiabossen im Janukowitsch-Lager in nichts nach. Wenn sie nun vom Kutschma-Regime, dem sie ihren Reichtum verdankt, "Freiheit" und "Demokratie" fordert, ist dies der Gipfel des Zynismus.

Die 44jährige Timoschenko stammt aus der ostukrainischen Stadt Dnepropetrowsk. Von dort kam sie Anfang der Neunziger Jahre gemeinsam mit ihrem Bekannten Pawel Lasarenko nach Kiew. Die beiden kamen im Gefolge von Kutschma, der ebenfalls aus Dnepropetrowsk stammt. Lasarenko wurde 1996 Premierminister und bereicherte sich gemeinsam mit Timoschenko in massiver Weise. Timoschenko entwickelte einen Mechanismus, russisches Öl und Gas gegen ukrainische Produktion einzutauschen, wobei ein erklecklicher Teil des Erlöses bei der eigens gegründeten Firma United Energy Systems hängen blieb.

Lasarenko selbst kam dabei anderen Oligarcheninteressen zu nahe und wurde 1998 von Kutschma im Zusammenhang mit einem Korruptionsskandal wieder abgesetzt. Wegen Geldwäsche sitzt Lasarenko jetzt in den USA im Gefängnis. Timoschenko kam aus diesem Skandal mit einem blauen Auge davon und wurde 1999 Premierminister Wiktor Juschtschenko als Stellvertreterin an die Seite gestellt.

Der Guardian zitiert in seiner Ausgabe vom 26. November ein Buch von Matthew Brzezinski, "Kasino Moskau", das sich in einem Kapitel Timoschenko, der "elf-Milliarden-Dollar-Frau", widmet. Timoschenko ließ sich von einer ganzen Einheit ehemaliger sowjetischer Sonderkräfte bewachen, als es ihr in einer historisch einmaligen Leistung gelang, 20 Prozent des Reichtums des Landes unter ihre Kontrolle zu bringen, während das ganze Land hungerte.

Sie stellt sich nun als Führerin der demokratischen Opposition dar, obwohl sie sich bei der Erlangung des eigenen Vermögens die Finger ebenso schmutzig und blutig machte, wie ihre Widersacher im Janukowitsch-Lager.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte ein Teil der alten stalinistischen Führungsriege im Zuge der "Privatisierung" erhebliche Teile der Wirtschaft unter sich aufgeteilt und mit kriminellen Methoden einen obszönen Reichtum angehäuft, der in krassem Gegensatz zu dem in Armut versinkenden Land steht. Kernstück dieser Privatisierungen war die alte Sowjetindustrie, die sich im Osten des Landes konzentriert, wo große Eisenerz- und Kohlevorkommen lagern. Dort sind die Bergwerke, der Maschinenbau und die Metall- und die Rüstungsindustrie angesiedelt. Diese Schichten vertreten Kutschma und Janukowitsch.

Janukowitsch ist Vorsitzender der Partei der Regionen und ehemaliger Gouverneur des ostukrainischen Schwerindustriegebietes Donezk. Er ist der politische Arm des Donezker Oligarchenclans um Rinat Achmetow, dem mit einem geschätzten Vermögen von mittlerweile zwei Milliarden Dollar reichsten Ukrainer. Kutschma, seit 1994 amtierender Präsident, war in der Sowjetunion Direktor eines großen Rüstungskonzerns in Dnepropetrowsk und hochrangiger KGB-Funktionär. Kutschma ist der Vertreter des Dnepropetrowsker Oligarchenclans, der bis heute vor allem von seinem Schwiegersohns, dem Oligarchen und ehemaligen Ministerpräsidenten Wiktor Pintschuk, repräsentiert wird.

Aufgrund der engen wirtschaftlichen Verflechtung aus der Zeit der Sowjetunion sind die Beziehungen zu Russland auch weiterhin sehr eng und finden auch in der Verflechtung der Oligarcheninteressen ihre Widerspiegelung. So befinden sich 83 Prozent der ukrainischen Aluminiumindustrie in russischer Hand.

Auch die Abhängigkeit der Ukraine von russischem Öl und Gas - vier Fünftel des Bedarfs werden nach wie vor durch Russland abgedeckt - bestimmen die engen Beziehungen zu Russland. Russland nutzt diese Abhängigkeit, um seinen Einfluss über die Ukraine aufrechtzuerhalten. Durch die Drosselung der Energiezufuhr wegen unbezahlter Rechnungen oder die Stundung der Zahlungen kann es erheblichen Druck ausüben. Die staatsnahen russischen Energiekonzerne Lukoil und Gasprom treten in der Ukraine defacto als Filialen des russischen Außenministeriums auf, und der ehemalige langjährige russische Premierminister und Aufsichtsratsvorsitzende von Gasprom, Wiktor Tschernomyrdin, ist seit 2001 Botschafter in der Ukraine.

Kutschma versuchte seit seiner Amtsübernahme 1994 im Rahmen einer Schaukelpolitik eine selbständige Rolle für die Ukraine in den Beziehungen zwischen Russland und den USA und Europa zu entwickeln. Er ergriff Initiativen zur Aufnahme in die EU und die NATO und bemühte sich gleichzeitig um die Stärkung des Wirtschaftsraumes der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), in der die Nachfolgestaaten der Sowjetunion zusammengeschlossen sind. Die GUS steht unter russischer Dominanz.

So beteiligte sich die Ukraine an dem mittlerweile eingeschlafenen Projekt zur Wiederbelebung der Seidenstraße - einer Handelsroute zwischen Europa und Asien, die an Russland vorbeiführen sollte -, zu dem sich 1998/99 Georgien, Usbekistan, Aserbaidschan und Moldawien (GUUAM) vor allem unter europäischer Ägide zusammengeschlossen hatten. Gleichzeitig war die Ukraine unter Kutschma größter Empfänger amerikanischer Hilfsgelder.

Der heutige Oppositionsführer Wiktor Juschtschenko galt schon in den neunziger Jahren als Vertrauensmann westlicher Kapitalinteressen. Als Vorsitzender der Zentralbank gelang es ihm während der Rubelkrise, die 1998 Russland und die Länder der ehemaligen Sowjetunion erfasste, die Beziehungen zu den westlichen Banken und Institutionen für weitere Kredite aufrechtzuerhalten. Das verschaffte ihm Glaubwürdigkeit unter den Oligarchenclans, die hofften, durch ihn in ein besseres Einvernehmen mit den USA und Europa zu kommen. Im Dezember 1999 wurde Juschtschenko zum Premierminister ernannt.

Doch spätestens seit dem Kosovokrieg und der Absetzung und Verfolgung Milosevics mussten sie erkennen, dass der US-Imperialismus bei der aggressiven Durchsetzung seiner Interessen auch vor ihnen nicht halt machen würde. Juschtschenko selbst drohte mit der Schließung unrentabler Bergwerke und Stahlhütten und griff damit massiv in ihre Machtstrukturen ein. Timoschenko, Vizepremierministerin und verantwortlich für das Energiegeschäft mit Russland, kam mit dem Pipeline-Baron Wiktor Pintschuk, dem Schwiegersohn Kutschmas, über Kreuz. Sie wurde im Januar 2001 abgesetzt und in Untersuchungshaft genommen, Juschtschenko im April seines Amtes enthoben.

Insbesondere nach der "Rosenrevolution" in Georgien, die im November 2003 Eduard Schewardnadse mit Unterstützung der USA absetzte, suchte Kutschma wieder offen die Nähe zu Moskau. Weitere Versuche, Washington milde zustimmen, wie die Entsendung von 1.600 Soldaten in den Irak, scheiterten. Die USA setzten ihre Strategie fort und bauten den Oppositionskandidaten Juschtschenko weiter auf. Er verfügt über enge Beziehungen zur ehemaligen Außenministerin Madeleine Albright, zu Zbignew Brzezinsky, dem Sicherheitsberater von Präsident Jimmy Carter, und zum Finanzier George Soros. Soros’ Stiftungen haben die Studentenbewegung "Pora" ("Es ist Zeit") nach serbischem und georgischem Muster entwickelt und finanziert.

Die Popularität der Opposition stützt sich zum Teil auch auf Hoffnungen, die katastrophale soziale Lage des Landes könne sich im Falle eines Regierungswechsels nur zum besseren wenden. Seit der Auflösung der Sowjetunion ist der durchschnittliche Monatslohn auf dem Lande auf 30 Dollar abgesunken. In den Städten beträgt er kaum mehr als 60 Dollar und in Kiew rund 100 Dollar. Die Wirtschaftskraft sank bis 1999 auf 40 Prozent des Wertes von 1989.

Die sozialen Strukturen, die zu Sowjetzeiten stark an die Betriebe gebunden waren, sind mit diesen zerschlagen worden. Die Lebenserwartung ist bei Frauen auf 73 Jahre und bei Männern auf 62 Jahre gesunken - nach Russland der niedrigste Wert in Europa. Inzwischen erreicht die Rate der neu an Aids Erkrankten einen der höchsten Werte weltweit. Vier Millionen Einwohner haben in den letzten Jahren die Ukraine verlassen. In ukrainischen Bergwerken sterben nach China bei Grubenunglücken die meisten Bergarbeiter.

Siehe auch:
Machtkampf in der Ukraine verschärft internationale Spannungen
(25. November 2004)
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