Ukraine: Der Machtkampf schwelt weiter

Auch nach der Entscheidung des Obersten Gerichts der Ukraine, das umstrittene Ergebnis der Präsidentenwahl vom 21. November zu annullieren und ihre Wiederholung am 26. Dezember anzuordnen, gehen die Auseinandersetzungen zwischen den verfeindeten Lagern weiter.

Oppositionsführer Wiktor Juschtschenko rief am Wochenende seine Anhänger auf, in der Hauptstadt auszuharren und die seit zwei Wochen anhaltenden Demonstrationen fortzusetzen, bis die amtierende Regierung entlassen, die Wahlkommission neu besetzt und eine neue Wahlordnung verabschiedet sei. Juschtschenko verlangt, dass die Stimmabgabe - anders als beim ursprünglichen Wahlgang - nur noch am ständigen Wohnort erlaubt ist. So sollen Fälschungen und Manipulationen erschwert werden.

Juschtschenkos Anhänger blockieren weiterhin zahlreiche Regierungsgebäude. Auf einer Bühne im Zentrum von Kiew läuft ein ständiges Unterhaltungsprogramm, um die Demonstranten bei Laune zu halten. Auftritte von prominenten Sportlern, Schauspielern, Rockbands und Popstars wechseln sich ab mit Gottesdiensten, Lasershows und Ansprachen des Oppositionsführers.

Auf der anderen Seite hat sich Präsident Leonid Kutschma bisher geweigert, die Regierung von Wiktor Janukowitsch zu entlassen, der das Parlament vergangene Woche das Misstrauen ausgesprochen hatte. Janukowitsch ist der Präsidentschaftskandidat des Regierungslagers. Auch der von der Opposition geforderten Änderung der Wahlordnung hat sich Kutschma bisher widersetzt. Er will ihr nur zustimmen, wenn durch eine Verfassungsänderung gleichzeitig die Machtbefugnisse des zukünftigen Präsidenten beschnitten werden.

Unter Vermittlung des außenpolitischen Vertreters der EU Javier Solana, des polnischen Präsidenten Aleksander Kwasniewski und seines litauischen Amtskollegen Valdas Adamkus haben in den vergangenen Tagen intensive Verhandlungen beider Seiten über eine Kompromisslösung stattgefunden. Die Entlassung der Regierung, die Verabschiedung einer neuen Wahlordnung und die Änderung der Verfassung sollten dabei zu einem Paket verknüpft werden, dem alle Seiten zustimmen können. Die Verhandlungen führten aber zu keinem Ergebnis. Am Montag Abend trennten sich die Parteien ohne Einigung. Lediglich Kutschma erklärte sich bereit, die Wahlkommission neu zu besetzten. Nun soll eine "Versöhnungskommission" nach einem Kompromiss suchen.

Trotz der anhaltenden Konflikte sind die Fronten in Bewegung geraten. Vor und hinter den Kulissen wird verhandelt, gefeilscht und manövriert. Dabei zeigt sich immer deutlicher, dass es beim Machtkampf in der Ukraine nicht um Demokratie und freie Wahlen geht, sondern um eine Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Flügeln der herrschenden Elite und der hinter ihnen stehenden Großmächte. Juschtschenko hat die volle Unterstützung der USA und der EU, die sich von seiner Machübernahme einen verstärkten wirtschaftlichen und politischen Einfluss auf die Ukraine und - im Falle der USA - eine Schwächung Russlands versprechen. Hinter Janukowitsch steht Russland und sein Präsident Wladimir Putin.

Seit das Oberste Gericht letzten Freitag ein Urteil zugunsten der Opposition fällte, ist Janukowitsch zunehmend in die Defensive geraten. Präsident Kutschma, dessen Basis in der Industriestadt Dnjepropetrowsk liegt, hat sich deutlich von seinem einstigen Favoriten abgesetzt. In einem Interview mit der New York Times empfahl er ihm sogar, seine Kandidatur zurückzuziehen. "Wenn ich er wäre, würde ich nicht teilnehmen", sagte er.

In Kutschmas Heimatstadt Dnjepropetrowsk gibt der Oligarch Wiktor Pintschuk den Ton an, der mit Kutschmas Tochter verheiratet ist. Er gebietet über ein Pipeline-, Stahl- und Fernsehimperium und gilt mit einem geschätzten Vermögen von drei Milliarden Dollar als zweitreichster Mann der Ukraine.

Pintschuk hat zwar bisher Janukowitsch unterstützt, sich aber gleichzeitig früh nach allen Seiten abgesichert. So sind laut einem Bericht des Nachrichtenmagazins Der Spiegel Henry Kissinger, George Bush sen., George Soros und Zbigniew Brzezinski vor der Wahl auf Pintschuks Einladung in die Ukraine gereist, um sich "ein Bild von der Lage zu machen". Soros wie Brzezinski haben sich massiv zugunsten Juschtschenkos in den Wahlkampf eingemischt. Soros hat seine Kampagne teilweise finanziert.

Mittlerweile hat Pintschuk die von ihm kontrollierten Fernsehkanäle für die Opposition geöffnet und sogar oppositionelle Demonstrationen besucht. Schwiegervater Kutschma konzentriert sich indessen darauf, die Macht eines zukünftigen Präsidenten Juschtschenko in Grenzen zu halten.

Kutschmas Forderung, die Macht des Präsidenten einzuschränken und von einer Präsidial- zu einer parlamentarischen Demokratie überzugehen, in der die Regierung dem Parlament und nicht dem Präsidenten verantwortlich ist, stammt ursprünglich von der Opposition. Sie wollte damit die Macht Kutschmas einschränken. Bevor das Oberste Gericht sein Urteil fällte, hatte sie sich in den Gesprächen am Runden Tisch noch bereit erklärt, zusammen mit dem Wahlgesetz auch die Verfassung entsprechend zu ändern. Doch nun, wo er an der Schwelle zum Präsidentensitz steht, will Juschtschenko nichts mehr davon wissen. Er fürchtet, von einem Parlament behindert zu werden, in dem er nicht über die Mehrheit verfügt.

Über diese Frage ist zum offenen Konflikt mit dem Führer der Sozialisten, Oleksander Moros gekommen. Moros hatte selbst für das Präsidentenamt kandidiert und war im ersten Wahlgang hinter Juschtschenko und Janukowitsch auf dem dritten Platz gelandet. Bei der Stichwahl hatte er seine Anhänger aufgefordert, für Juschtschenko zu stimmen. Vor allem im Osten und Süden des Landes hat Juschtschenko laut Wahlanalysen von den Stimmen der Sozialisten in beträchtlichem Ausmaß profitiert. Nun wirft Moros Juschtschenko vor, er halte die Zusage, die er am Runden Tisch gegeben habe, nicht ein. "Das bedeutet, dass es vielleicht gar keine Verfassungsänderungen gibt und die monarchistische Herrschaftsform in der Ukraine weitergeführt wird", sagte er.

Kutschma, Pintschuk und Moros, dessen Partei aus der alten Kommunistischen Partei hervorgegangen ist, vertreten den Teil der neureichen Elite, der traditionell versucht, einen Mittelkurs zwischen Russland und dem Westen zu steuern. Kutschma pflegt enge Beziehungen zum russischen Präsidenten Putin, hat aber zeitweilig auch die Aufnahme der Ukraine in die Nato angestrebt und im Rahmen des polnischen Kontingents ukrainische Truppen in den Irak geschickt.

Hinter Juschtschenko steht der Flügel der neuen besitzenden Klasse, der das Land verstärkt auf die USA und die EU ausrichten will. Als sein wichtigster Geldgeber gilt der Chef des Mischkonzerns Ukrprominvest, Pjotr Poroschenko, der über ein Konglomerat von Konditoreien, Werften und Maschinenbauunternehmen herrscht. Ein weiterer Geldgeber, David Schwania, handelt mit Kernbrennstäben. Julia Timoschenko, neben Juschtschenko die wichtigste Oppositionsführerin, hat ihre Millionen durch den Erdgashandel verdient.

Aufgrund der massiven Unterstützung durch die USA fühlt sich Juschtschenko stark genug, mit hohem Einsatz zu spielen und die ungeteilte Macht anzustreben. Er riskiert damit die Spaltung des Landes.

In der Donbass-Region, wo 40 Prozent der Bevölkerung der russischen Minderheit angehören, stößt Juschtschenkos Kurs auf erbitterte Ablehnung. Auf Demonstrationen in Donezk wurden Plakate mit der Aufschrift "Unsere Seele verkaufen wir nicht an Bush" getragen. Diese Haltung ist nicht nur auf die massive Propaganda der örtlichen Machthaber zurückzuführen, wie dies westliche Meiden weismachen wollen. Die Donbass-Region lebt von der Bergbau- und Stahlindustrie, die vor allem auf Russland ausgerichtet ist, und viele Arbeiter fürchten im Fall einer Machtübernahme Juschtschenkos um den Verlust ihrer Arbeitsplätze. Anfang Januar soll ein Referendum über eine Autonomie der Region stattfinden, das einen Zerfallsprozess wie im ehemaligen Jugoslawien auslösen könnte.

Die Oligarchen der Region sind allerdings nicht an einer allzu engen Bindung an Russland interessiert. Sie verdanken ihren Reichtum der Abspaltung von der Sowjetunion und drohen ihre Unabhängigkeit zu verlieren, wenn sie zu stark unter den Einfluss Moskaus geraten. Rinat Achmetow, reichster Mann des Landes und Herrscher über ein Kohle- und Stahlimperium, soll auf die Autonomie-Drohungen seines Schützlings Janukowitsch äußerst wütend reagiert haben.

Die Oligarchen wollen aber Garantien, dass ihr Vermögen bei einem Machtwechsel in Kiew nicht angetastet wird. Dasselbe gilt für die Oligarchen aus Dnjepropetrowsk. Eine solche Garantie dürfte Juschtschenko nicht schwer fallen. "Eine Amnestie für Kutschma, ein Nichtangriffspakt mit seinem Umfeld und eine stillschweigende Garantie für darin gehäufte Vermögenswerte gilt in der Opposition als unstrittig", schreibt der Spiegel in seiner jüngsten Ausgabe.

Siehe auch:
Weitere Artikel zum Machtkampf in der Ukraine
Loading