Bildungsstandards und deutsches Schulsystem: Die Perfektionierung der Auslese

Im Eilverfahren hat die Kultusministerkonferenz (KMK) für das kommende Schuljahr bundesweite Bildungsstandards vereinbart. Anstatt die wohlbekannten Schwächen des deutschen Bildungssystems zu beheben, sind auch die Bildungsstandards Bestandteil eines Prozesses, an dessen Ende die weitgehende Privatisierung des Schulsystems stehen wird. Das Hauptmerkmal des deutschen Schulsystems, seine Funktion als Instrument der sozialen Selektion, wird auf die Spitze getrieben und perfektioniert.

Mit den Bildungsstandards werden Kompetenzen festgeschrieben, die Schüler zu einem bestimmten Zeitpunkt erlangt haben sollen. Einige Beispiele: Gemäß den von der KMK beschlossenen Bildungsstandards sollte ein Schüler nach der 10. Klasse "ein Spektrum altersangemessener Werke - auch Jugendliteratur - bedeutender Autorinnen und Autoren kennen" sowie "epische, lyrische, dramatische Texte unterscheiden [können], insbesondere epische Kleinformen, Novelle, längere Erzählung, Kurzgeschichte, Roman, Schauspiel, Gedichte". Schüler sollten ferner "medienspezifische Formen kennen: z. B. Print- und Online-Zeitungen, Infotainment, Hypertexte, Werbekommunikation, Film". Darüber hinaus "Intentionen und Wirkungen erkennen und bewerten" sowie "Informationsmöglichkeiten nutzen [können]: z. B. Informationen zu einem Thema/Problem in unterschiedlichen Medien suchen, vergleichen, auswählen und bewerten (Suchstrategien)".

Es wäre ein Riesenerfolg, wenn die Schulen und Lehrer in die Lage versetzt würden, dies jedem Schüler und jeder Schülerin zu vermitteln. Es wäre auch nichts Verwerfliches daran, das deutsche Bildungssystem, also Schulen und ihre Lehrer, mit Hilfe von Bildungsstandards zu kontrollieren, d. h. auf seine Schwachstellen zu überprüfen, und Abhilfe zu schaffen. Es ist nicht einzusehen, dass ausgerechnet diejenigen, die mit dem höchsten Gut einer Gesellschaft arbeiten, den Kindern, von jeglicher Transparenz ihrer Arbeit ausgenommen werden.

Es gäbe viele Fragen an Schulen und Lehrer. Schaffen sie es, allen Schülern eine gute Bildung zu gewährleisten? Fördern sie ausreichend schwächere Schüler oder umgehen sie ihre Aufgaben, indem sie Schüler mit schlechteren Lernvoraussetzungen an die nächstniedrigere Schule abschieben? Welche Methoden setzen sie ein? Was ist das Selbstverständnis der Schulen und Lehrer, usw.? Doch hier wird bereits klar, dass die Auswirkungen von Bildungsstandards auf ein Schulsystem vom Geist des gesamten Bildungssystems, von seinen grundlegenden Werten, Konzepten und Zielen abhängen.

In den skandinavischen Ländern, deren Bildungssysteme in der PISA-Studie sehr gut abschnitten, dienen Bildungsstandards größtenteils als Orientierung und Mittel, um etwaige Schwachstellen aufzudecken und entsprechend zu intervenieren. Die Bildungsstandards und ihre regelmäßige Überprüfung dienen dem Ziel, schwächere Schüler besser zu fördern, angewandte Methoden zu hinterfragen und zu überarbeiten. Obgleich auch in Skandinavien keine wirkliche Chancengleichheit besteht - auch in Skandinavien existieren Armut und Reichtum -, dient das Bildungssystem dort dennoch dazu, diese Gegensätze zu mildern. Es gibt dort keine vier bis fünf verschiedenen Schulformen für 11- bis 16jährige, erst sehr spät Noten, kein "Sitzenbleiben" und keine Schulverweise wegen "schwacher Leistungen".

In Deutschland hingegen ist das Bildungssystem das Instrument der sozialen Auslese, die Instanz, die die soziale Herkunft zementiert, und das bereits in frühen Jahren. Die Einführung von Bildungsstandards bei Beibehaltung der grundlegenden Ausrichtung des Bildungssystems wird die frühe und ständige Selektion perfektionieren. Bildungsstandards und deren Überprüfung in Tests werden in diesem System zu Hürden, die Schüler und Schülerinnen zu überwinden haben, um die Versetzung, Schulabschlüsse oder den Übergang in eine der weiterführenden Schulen (Haupt-, Realschule oder Gymnasium) zu erreichen. Dies lässt sich schon daran erkennen, dass die Bildungsstandards nun als erstes für die 10. Klasse entwickelt werden. Eine Intervention im Interesse des Schülers ist dann nämlich nicht mehr möglich.

Noch hält sich die Kultusministerkonferenz bedeckt, wenn es darum geht, konkret zu erklären, was mit den Bildungsstandards genau geschehen soll. Dienen sie als Orientierung für die Schulen oder als Kontrollinstrument? Denn die einzelnen Schulen werden auch extern durch Auswertung ländereinheitlicher oder gar länderübergreifender Tests daraufhin überprüft, ob sie ihre in den Bildungsstandards festgeschriebenen Aufgaben erfüllt haben. Werden die Auswertungen dieser Tests mit Hinweisen und Verbesserungsvorschlägen den einzelnen Schulen - und nur den Schulen - zurückgemeldet, wie dies Bildungsforscher vehement anmahnen, weil sie Schlimmeres befürchten, nämlich die Veröffentlichung der einzelnen Testergebnisse wie in Großbritannien? Sind weitere "Reformen", wie sie in Großbritannien bereits umgesetzt sind, geplant?

Großbritannien

Ein kurzer Blick auf die Funktion von nationalen Bildungsstandards in Großbritannien verdeutlicht die Befürchtungen der deutschen Bildungsforscher. Die Labour-Regierung unter Tony Blair führte 1998 nationale Standards ein, an denen sich alle Schulen zu messen haben. Nationale Leistungstests quälen seitdem die Schüler und Lehrer. Mit sieben und mit elf Jahren werden englische Schulkinder in Lesen, Schreiben und Mathematik, im Alter von 14 Jahren nochmals in Englisch und Mathematik landesweit getestet.

Die Testergebnisse der einzelnen Schulen werden in jedem Herbst in Rankings veröffentlicht. "Schwache" Schulen wurden schon geschlossen. "Gute" Schulen ziehen wiederum reiche Eltern an. "Gerade in und um London reagieren die Immobilienpreise wie Seismografen auf die Ergebnisse der Schultests", schrieb Die Zeit vor einigen Monaten. "Gute Schulen sind Mangelware in der großen Stadt, und wo immer eine Schule den Satz nach oben getan hat, schauen ehrgeizige Eltern sich sogleich nach einem Haus um."

Gleichzeitig hat die britische Regierung sogar die Gehälter der Lehrer an das Erreichen der Standards geknüpft. Mit dieser Regelung wird ein - wenn auch nur anfänglich oder kurzzeitig - lernschwacher Schüler zum finanziellen Problem des einzelnen Lehrers. Außerdem werden Schulen in weniger wohlhabenderen Gebieten mit einem höheren Anteil sozial schwacher Familien durch diese Art der "Evaluation" benachteiligt. Anstatt aufgrund der schwierigeren Grundvoraussetzungen mehr finanzielle und personelle Unterstützung zu erhalten, werden sie finanziell abgestraft. Erzielt eine Schule in zwei aufeinanderfolgenden Jahren schlechte Ergebnisse, übernehmen Beamte der kommunalen Bildungsbehörde die Schulleitung und -aufsicht. "Am Anfang ihrer Arbeit setzen sie zunächst untüchtige Lehrer und störende Schüler vor die Tür", berichtet Die Zeit.

Das Ergebnis ist eine Zunahme der sozialen Ungleichheit im Bildungssystem. Die Unterschiede zwischen den leistungsstärkeren und -schwächeren Kindern werden größer, genauso wie die Kluft zwischen Jungen und Mädchen. Jeder vierte Elfjährige kann am Ende der Grundschulzeit nicht ausreichend lesen, schreiben und rechnen.

Für die Kinder sind die Tests eine Tortur. Da sehr viel Geld am Testergebnis hängt, werden sie unter starken Druck gesetzt. Wochenlang werden sie auf die Bewältigung der Testfragen gedrillt. Eine Untersuchung ergab, dass zwei Drittel aller Elfjährigen vor ihrem zweiten Test eindeutige Stresssymptome zeigen: Weinkrämpfe, Schlaflosigkeit, Konzentrationsmangel und Angstattacken. Den Lehrern ergeht es nicht viel anders.

Diese Quälerei aller Beteiligten - die Testerhebungen und ihre Veröffentlichung - kostet inzwischen jedes Jahr 3 Millionen Pfund (4,32 Mio. Euro). Geld, das die Schulen für ihre heruntergekommenen Gebäude und veralteten Einrichtungen gut gebrauchen könnten.

Berlin als Vorreiter

Offen geben nur die Wenigsten zu, dass das deutsche Bildungssystem dem britischen folgen soll. Doch sprechen alle Indizien dafür. Denn die Bildungsstandards sind nur ein Bestandteil weitergehender Konzepte für das Schulsystem. CDU/CSU und FDP sind in dieser Hinsicht sehr deutlich. Sie verstehen Bildungsstandards und nationale Testerhebungen als Mittel zur Kontrolle der Schulen und vor allem ihrer Schüler - ihr Zweck: Selektion.

Es bleibt aber einmal mehr den Grünen überlassen, die blumigen Umschreibungen für diese Politik zu liefern. Sie sind Meister darin, in Stellungnahmen mit hochtrabenden Floskeln und Modewörtern zu hantieren, um unschöne Banalitäten zu verschleiern. Die Bundesarbeitsgemeinschaft "Bildung der Grünen" erklärt in einem Positionspapier, dass Bildungsstandards für sie "Teil eines Paradigmenwechsels der Schulpolitik" seien. Darunter verstehen die Grünen u. a. die "Selbstständigkeit und Eigenverantwortung der Schulen, auf Kerncurricula reduzierte Lehrpläne mit gleichzeitigem pädagogischem und organisatorischem Freiraum für die Schulprofilentwicklung", sowie "schulinterne und -externe Evaluation".

Mögen die grünen Bildungspolitiker sich auch gegen Schulrankings und Standardtests als "Leistungsbewertung einzelner SchülerInnen" aussprechen: "Selbstständigkeit", "Eigenverantwortung" und "Schulprofilentwicklung" sind die Schlagworte, unter deren Namen der Prozess in Gang gesetzt wird, der zwangsläufig zu britischen Verhältnissen führen wird.

Die SPD-PDS-Regierung in Berlin nimmt in Deutschland in vielerlei Hinsicht eine Vorreiterrolle ein und exerziert genau dies vor. Unter dem Namen "Modellvorhaben eigenverantwortliche Schule" (MeS) wird in den Schuljahren 2003/04 bis 2005/06 der Mechanismus erprobt, der den Privatisierungsprozess im Schulsystem vorantreiben soll. 28 Schulen wurden im Juni vergangenen Jahres vom Senat ausgewählt (19 allgemeinbildende Schulen aus allen Schulformen, acht Berufsschulen und eine Schule mit Sonderstatus), um an dem Modell teilzunehmen.

"Beim MeS geht es nicht mehr um die Frage, ob Schulen zukünftig größere Selbstständigkeit haben sollen, sondern, wie die Eigenverantwortlichkeit auszugestalten ist", heißt es auf der Website des Berliner Senats (Hervorhebungen im Original). "MeS ist das zentrale schulpolitische Leitprojekt der nächsten Jahre." Als Ziel nennt der Berliner Senat die "veränderte Bildungssteuerung durch Standardvorgabe und Ergebniscontrolling" und warnt: "Die Einzelschule wird die Verantwortung für den Ertrag ihrer Bildungsbemühungen übernehmen."

Ähnlich wie in Großbritannien sind die Schulen verpflichtet, ein Schulprogramm und ein eigenes "Schulprofil" zu entwickeln und umzusetzen. Gemessen werden sie an den Bildungsstandards. Welche Sanktionen drohen, wenn eine Schule die Standards nicht erfüllt, ist selbstverständlich nicht niedergeschrieben. Doch erhalten die Schulen Einzelbudgets für Personal, Fortbildung und Sachmittel. Man zähle eins und eins zusammen.

Ohnehin sollen die Schulen mit ihrer finanziellen "Selbständigkeit" gezwungen werden, anderweitig Geld einzuholen. Dies ist ausdrücklich Zweck des Berliner Modellvorhabens. Unter der Überschrift "Rechte" der Schulen befinden sich neben dem Erhalt der einzelnen Schulbudgets noch die "Hausherrenfunktion für die Nutzung des Schulgebäudes", der "Rückgriff auf Beratungs- und Unterstützungssysteme" sowie die "Auswahl des Schulpersonals".

Einer Zwei-Klassen-Bildung ist so Tür und Tor geöffnet. Schulen in reicheren Vierteln könnten ihre "Selbständigkeit", "Eigenverantwortung" und "Schulprofilentwicklung" mit weitaus größerem Vorteil nutzen, als Schulen in ärmeren Vierteln. Sie könnten auf verschiedenen Wegen Geld von den Eltern oder auch von Firmen ("Kooperationen") einkassieren, etwa durch Werbung an den Schulen oder durch Vermietung ihrer Gebäude. "Siemens stellt sich vor: in der Aula des Gymnasiums XY am kommenden Samstag." Mit solchen oder ähnlichen Aufschriften könnten dann Werbebanner an den Schulen flattern.

Es ist unwahrscheinlich, aber selbst wenn der Senat die Prüfungsergebnisse nicht veröffentlichen würde: Wer will eine eigenständige Schule davon abhalten, ihr Ergebnis zu publik zu machen, um damit bei reichen Eltern und Firmen (womöglich auch Immobilienhändlern) zu werben?

Selbstverständlich wird auch bei der Werbung der soziale Unterschied sichtbar bleiben. Die reichen Schulen wären in der Lage, nicht jedes Werbeangebot annehmen zu müssen: McDonalds-Plakate und Werbestände für Softdrinks auf dem Pausenhof der Schulen in ärmeren Vierteln, ein neues Rechenzentrum von Siemens oder die Präsentation einer renommierten Firma in der Aula der Schulen in den "besseren Stadtteilen".

Mit den Geldern der Industrie und der Reichen könnten anschließend auch mehr und kompetentere Lehrer eingekauft werden. Und wenn schon das Personal eigenständig ausgewählt wird, warum nicht auch die Schüler?

Ähnlich wie die Hochschulreform, die mit der Forderung nach mehr "Autonomie" und "Eigenverantwortlichkeit" der Universitäten begann und inzwischen bei der Erörterung über "Elite-Universitäten" angelangt ist, ist auch das gesamte Modellvorhaben in Berlin darauf angelegt, eine Spirale in Gang zu setzen, bei der die "guten" (reichen) und die "schlechten" (armen) Schulen immer weiter auseinanderdriften.

Siehe auch:
Bildung ist ein Grundrecht keine Ware
(12. Dezember 2003)
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