Türkei: Sinkende Inflation und fallende Löhne

Laut kürzlich veröffentlichter Zahlen hat die türkische Wirtschaft es geschafft, für 2003 innerhalb der offiziellen Zielvorgaben für die Inflation zu bleiben. Das Staatliche Institut für Statistik (DIE) hat erklärt, dass im Dezember des Jahres die Konsumentenpreise um 0,9 Prozent stiegen und die Inflationsrate über die gesamten letzten zwölf Monate 18,4 Prozent betrug. Die Großhandelspreise stiegen im Dezember um 0,6 Prozent im Vergleich zum November, und um 13,9 Prozent über das ganze Jahr.

Das so genannte wirtschaftliche Stabilisierungsprogramm, das der Türkei vom IWF auferlegt wurde, visiert einen jährlichen Anstieg der Konsumentenpreise von maximal 20 und einen Anstieg der Großhandelspreise von maximal 16,5 Prozent an. Im Jahr 2002 waren die Konsumentenpreise noch um 29,7 Prozent und die Großhandlespreise um 30,8 Prozent angestiegen.

Wie die meisten offiziellen Experten begrüßte der Chefvolkswirt der Türkischen Bank für Industrielle Entwicklung (TSKB), Gündüz Findikcioglu, die sinkende Inflation: "Nach 30 Jahren scheint endlich etwas zu passieren. Es ist schwer zu glauben, sicher. Aber es gibt wirklich eine Veränderung bei der Inflation, einem Fluch, der über die Jahre zu einer Art Erbsünde geworden ist. Sie scheint sich jetzt auf einem erträglichen einstelligen Niveau einzupendeln." (Monatliches Wirtschaftsbulletin der TSKB, Dezember 2003)

Ein Artikel von Mustafa Ünal in der Zeitung Zaman vom 7. Januar mit der Überschrift "Wer von den Rekordzahlen glücklich und unglücklich gemacht wird" erklärt: "Unglaubliche wirtschaftliche Zahlen! Ein 28 Jahre alter Rekord ist gebrochen, die Inflation fällt auf 18,4 Prozent. Man mochte von so etwas kaum träumen, aber es ist wahr geworden. Während das Pro-Kopf-Einkommen im Jahr 2001 noch 2.300 $ betrug, sind es heute über 3.300 $." Ünal fügt noch hinzu: "Und die Börsenkurse nähern sich der Marke von 20.000."

Amateurökonomie

Dieses Absinken der Inflationsrate hat viele in der Türkei dazu gebracht, die Wirklichkeit durch rosa Brillengläser zu sehen. Ein Zeitungsartikel in der Dünya weist darauf hin, dass Premierminister Recep Tayyip Erdogan und andere Minister sich brüsteten, "2003 sei zwar ein schwieriges Jahr gewesen, aber trotzdem habe ihre Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) viel erreicht. Bei jeder Gelegenheit weisen sie auf die Inflationsrate hin und nennen das den wichtigsten Erfolg ihrer Regierung."

In den letzten Wochen hat auch die Istanbuler Börse neue Rekordhöhen erreicht; außerdem sinken die Zinsen. Kurz, die Trends an den Finanzmärkten sind positiv. Andererseits zeigen die fortbestehenden Haushalts- und Handelsbilanzdefizite, wie instabil die Grundlagen der türkischen Wirtschaft in Wirklichkeit immer noch sind.

Zwei positive Entwicklungen haben im Jahr 2003 stattgefunden, die möglicherweise den "rosigen" Blick gefördert haben. Letzten Sommer hat der IWF einen Kredit von 476 Mill. Dollar an die Türkei freigegeben und Schuldenrückzahlungen, die eigentlich 2004 und 2005 fällig gewesen wären, auf 2006 verschoben. Damit hat der IWF natürlich implizit akzeptiert, dass ein solcher Aufschub dringend nötig war. Er hat Spekulationen ein Ende gesetzt, dass die Türkei Schwierigkeiten haben könnte, dieses und nächstes Jahr ihre Schulden zu bezahlen.

Außerdem haben die türkische und die amerikanische Regierung im September 2003 ein Finanzabkommen geschlossen - wahrscheinlich als Gegenleistung für Ankaras Unterstützung des Irak-Krieges - und der Türkei 8,5 Mrd. Dollar an Krediten zur Verfügung gestellt. Zweck dieser Vereinbarung war, so Washington, "den anhaltenden wirtschaftlichen Reformprozess der Türkei zu unterstützen".

Diese beiden Ereignisse waren bedeutsam genug, um den generell düsteren Ausblick zu erhellen. Das frische Klima hat allerdings ein recht begrenztes Verfallsdatum. Es wird nicht lange dauern, bis das anwachsende Haushaltsdefizit oder das Außenhandelsdefizit zeigen werden, dass dieser Optimismus weder gerechtfertigt noch haltbar war. Die so genannten Erfolge der türkischen Wirtschaft im Jahr 2003 beruhten hauptsächlich auf einer überbewerteten Türkischen Lira. Das Schuldenmoratorium des IWF und der 8,5 Mrd.-Dollar-Kredit machten diese Überbewertung möglich. Tatsächlich erinnert diese Entwicklung an die Politik der "Desinflation", bei der die türkische Regierung Ende 1999 die Währung an den Wechselkurs gebunden hatte. Dieses Programm war im Februar 2001 unter seinem eigenen Gewicht zusammengebrochen.

Arbeitende Bevölkerung zahlt die Zeche

Für die Arbeiterklasse ist die zeitweilige "Erholung" eine Katastrophe. Zwischen 2000 und 2003 sanken die Reallöhne dramatisch. Laut den Zahlen der DIE sind die Reallöhne der Arbeiter in der verarbeitenden Industrie seit 2001 stetig gefallen. Eine nominelle Anhebung der Löhne um 82,6 Prozent zwischen März 2001 - nach einer verheerenden Finanzkrise - und Juni 2003 ging mit einem Anstieg der Konsumentenpreise um 121,2 Prozent einher.

Am stärksten fielen die Reallöhne im Jahr 2001, als die Konsumentenpreise um 68,5 und die Löhne nur um 31,8 Prozent stiegen. Von diesem drastischen Fall konnten die Reallöhne sich 2002 und 2003 nicht mehr erholen. 2002 wurden die Lohnerhöhungen von ebenso hohen Steigerungen der Konsumentenpreise um 30 Prozent aufgefressen. Im Januar 2003 akzeptierten die türkischen Gewerkschaften eine weitere Vereinbarung, mit der die Reallöhne für 2003-2004 unterminiert wurden. Danach stiegen die Löhne im ersten Halbjahr 2003 lediglich um lächerliche 6-7 Prozent. Im selben Zeitraum erhöhten sich die Konsumentenpreise um weitere 12 Prozent.

Diese Zahlen beweisen, dass die Reallöhne recht dramatisch gesunken sind. Das erklärt auch der jüngste Wirtschaftsbericht der OECD über die Türkei: "Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt nach einen scharfen Anstieg der Produktivität in der Industrie und Arbeitskräfteanpassungen im öffentlichen Sektor weiterhin gering. Die Arbeitslosigkeit außerhalb der Landwirtschaft hat Mitte des Jahres 13 Prozent erreicht. Die Reallöhne sind zurückgegangen und die Desinflation schreitet voran, unterstützt von einer Aufwertung der Währung." Der Bericht erklärt auch, dass die Arbeitsproduktivität angestiegen ist: "Die Jahresinflation ist im Oktober auf 21 Prozent gesunken, von 33 Prozent im Jahr davor. Erleichtert wurde das durch einen moderaten Anstieg in den staatlich festgesetzten Preisen und einem Anstieg der Arbeitsproduktivität."

Ein Bericht des Washingtoner Büros des Verbands der Türkischen Unternehmer und Geschäftsleute (Tüsiad) vom 3. Oktober 2003 mit dem Titel "Türkei: Wieder auf Kurs" führt aus: "Die ursprüngliche reale Abwertung der Währung im Februar 2001 wurde später wieder aufgehoben, und der reale Wechselkurs kehrte im Januar 2002, genau ein Jahr später, auf den Stand vor der Krise zurück. Trotz einiger Schwankungen ging die Aufwertung weiter und die reale Aufwertung zwischen 1995 und Juli 2003 bewegte sich laut Angaben der Zentralbank zwischen 35 Prozent (WPI) und 45 Prozent (CPI). Die negative Auswirkung der erheblichen Aufwertung der Türkischen Lira auf die Konkurrenzfähigkeit nach außen wurde zum großen Teil durch einen scharfen Anstieg der Arbeitsproduktivität und einen Fall der Reallöhne im selben Zeitraum wettgemacht. Die Arbeitsproduktivität in der privaten verarbeitenden Industrie stieg zwischen Februar 2001 und Dezember 2002 um 20 Prozent an und ging mit einem Fall der Nominallöhne in US-Dollar gerechnet einher. Im Ergebnis sank der Stücklohnindex in der privaten verarbeitenden Industrie in US-Dollar um 30 Prozent."

Die Haushalte verarmen nicht nur wegen der sinkenden Reallöhne, sondern auch weil die Arbeitslosigkeit steigt. Nach der bisher schlimmsten Finanzkrise im Februar 2001 verloren Zehntausende ihre Arbeit, während viele von denen, die noch Arbeit hatten, erschöpft und verzweifelt waren. Laut einer Studie des Verbandes der Unternehmer (TISK) hat die Arbeitslosigkeit in der Türkei 16 Prozent erreicht. Selbst laut den offiziellen Statistiken liegt die Rate bei den "gebildeten" Jugendlichen in den Städten bei 30 Prozent.

Einhergehend mit diesen Entwicklungen sind die Ausgaben im öffentlichen Sektor gekürzt worden, während sich die Finanzpolitik der Regierung darauf konzentriert, Haushaltsdefizite auf Kosten der Bevölkerung zu schließen.

Die letzte Studie des türkischen Gewerkschaftsdachverbandes Türk-Is hat gezeigt, dass im November die Armutsgrenze für eine vierköpfige Familie auf 1.383 Mill. TL und die Hungergrenze auf 485 Mill. TL gestiegen ist. (http://www.turkis.org.tr/kasim2003gida.doc) Dabei verdienen die schlechtbezahltesten Arbeiter im öffentlichen Dienst 420 Mill. TL (240 €) im Monat, und der Mindestlohn, von dem Millionen Arbeiter leben müssen, liegt bei 303 Mill. TL (175 €).

Und die Arbeitskämpfe?

Die Arbeiterbewegung, traumatisiert von der blutigen Unterdrückung der 80er Jahre und der Wirtschaftskrise von 2001, mit durch und durch korrupten Gewerkschaften, verharrt gegenwärtig in Stagnation. Die türkische Arbeiterklasse hat keine Organisation, mit dem sie ihre Rechte verteidigen kann.

Unter den unerträglichen Bedingungen wird sie früher oder später in Kämpfe gehen. Um jedoch dieser krisengeschüttelten Gesellschaft ein Ende zu setzen, braucht sie ihre eigene revolutionäre sozialistische Massenpartei.

Siehe auch:
Wachsende soziale Ungleichheit und Armut in der Türkei
(23. April 2003)
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