Änderungen beim Arbeitslosengeld stoßen Millionen in Armut

"Wir bekennen uns zur besonderen Verantwortung gegenüber den Schwächeren in unserer Gesellschaft. Deswegen wollen wir im Rahmen der Reform der Arbeitslosen- und Sozialhilfe keine Absenkung der zukünftigen Leistungen auf Sozialhilfeniveau." (SPD-Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2002)

Mit der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld 2 im kommenden Jahr stoßen Bundesregierung und Opposition Millionen Menschen in bittere Armut. Mit den stetigen Kürzungen in allen weiteren sozialen Bereichen - Gesundheit, Bildung, Beratungsstellen für Kranke, Arme, usw. - werden die sozialen Spannungen, die in den Großstädten und weiten Teilen Ostdeutschlands schon jetzt dem Zerreißen nahe sind, auf die Spitze getrieben. Armenviertel und Ghettos in den großen Städten, in Ostdeutschland ganze Regionen, die veröden, werden zum Alltagsbild.

Bislang wurde Arbeitslosenhilfe auf unbegrenzte Zeit gewährt. 53 Prozent des letzten Nettolohnes erhalten bislang Langzeitarbeitslose, die mehr als ein Jahr arbeitslos sind, bei Familien sind es 57 Prozent. Vorher erhalten sie Arbeitslosengeld in Höhe von 60 Prozent (mit Kind 67 Prozent) des letzten Nettolohnes. Ab dem 1. Januar 2005 soll das neue Gesetz gelten. Das neue Arbeitslosengeld 2 ist unabhängig vom früheren Lohn und liegt etwa auf Sozialhilfeniveau. In Westdeutschland beträgt der Pauschalbetrag 345 Euro im Monat, im Osten 331 Euro. Hinzu kommen Wohngeld, einschließlich Geld für die Heizung.

Außerdem steht das neue Arbeitslosengeld 2 nur "Bedürftigen" zu. Das heißt, bevor der Staat hilft, muss das Ersparte aufgebraucht werden. Davon ausgenommen bleiben lediglich selbst genutztes Wohneigentum, Sparverträge zur "Riesterrente" und bestimmte Freibeträge. Die Freibeträge liegen pro Lebensjahr bei 200 Euro Barvermögen und zusätzlich 200 Euro je Lebensjahr für die Altersvorsorge. Die Altersvorsorge darf aber erst mit 60 angetastet werden. Bei einem 30-Jährigen bleiben damit 6.000 Euro Barvermögen unangetastet, bei einem 50-Jährigen 10.000 Euro Barvermögen - sowie die jeweils gleichen Beträge für die Altersvorsorge, zum Beispiel in Form von Lebensversicherungen oder Sparplänen.

Auch die Einkommen von Partnern und im Haushalt lebenden Erwachsenen werden bei der Bedürftigkeitsberechnung des Arbeitslosengeldes 2 berücksichtigt. Auch bei Verwandten, zum Beispiel einem im gemeinsamen Haushalt lebenden Onkel, wird vermutet, dass er zum Haushaltseinkommen beiträgt.

Die bundesweit rund 2,2 Millionen Arbeitslosenhilfeempfänger werden mitsamt ihren Familien - insgesamt etwa 4,5 Millionen Menschen - in die Sozialhilfe gedrückt, zusätzlich zu den bereits 2,7 Millionen existierenden Sozialhilfeempfängern. Nach Gewerkschaftsberechnungen werden voraussichtlich 1,5 Millionen Arbeitslosenhilfeempfänger zum Teil massive Kürzungen hinnehmen müssen. Ersatzlos wegfallen wird die Arbeitslosenhilfe künftig für mehr als 500.000 Leistungsempfänger, deren Haushaltseinkommen (also einschließlich dem Einkommen ihrer Partner, ihrer volljährigen Kinder oder anderer erwachsener Haushaltsangehörigen) oberhalb der Sozialhilfeschwelle liegt. Unter Berücksichtigung der Familienangehörigen sind damit insgesamt 2,5 bis 3 Millionen Menschen finanziell negativ betroffen.

Besonders drastisch sind die Einschnitte in Ostdeutschland, wo etwa doppelt so viele Menschen Arbeitslosenhilfe wie Arbeitslosengeld beziehen. Für etwa 80 Prozent der ostdeutschen Arbeitslosenhilfeempfänger drohen Einkommenskürzungen, für 36 Prozent sogar die volle Streichung der Unterstützungsleistungen.

Da sich derzeit Regierung, Opposition und Bundesagentur (BA) über die genaue Umsetzung des neuen Gesetzes streiten, kann es durchaus sein, dass Anfang nächsten Jahres die Arbeitslosenhilfeempfänger erst einmal gar nichts erhalten. BA-Chef Frank-Jürgen Weise forderte im Gespräch mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel offen eine Verschiebung des Vorhabens. Nicht weil er etwas gegen die massiven Kürzungen einzuwenden hätte. Über den Inhalt der Reform sind sich Regierung, Union und Bundesagentur einig. Der Streit dreht sich vielmehr um die genaue Aufgabenteilung zwischen den Kommunen, die die Sozialhilfe ausbezahlen, und den lokalen Ämtern der Bundesagentur, die bislang für die Auszahlung der Arbeitslosenhilfe zuständig sind.

Es geht um das Mitspracherecht der bankrotten Städte und Kommunen, die viel Geld von der Regierung fordern, weil die Unterbringung der Menschen, die in das Arbeitslosengeld 2 fallen, Milliarden verschlingen wird. Vor allem Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) beharrt aber auf einen pünktlichen Start der Kürzungen. "Ich halte am Zeitplan fest, trotz mancher Störmanöver", bekräftigte Clement.

Da die Bundesregierung außerdem durchgesetzt hat, dass Arbeitslose jeden Job annehmen müssen, werden diese in eine Abwärtsspirale in die Armut gedrängt. Verlangt werden "stärkere Eigeninitiative und Eigenverantwortung". Ab 2005 müssen Empfänger des Arbeitslosengeldes 2 jede legale Arbeit annehmen, auch geringfügige Beschäftigung in Form von "Mini-Jobs" bis 400 Euro Monatsverdienst und Teilzeitarbeit. Sogar Jobs, die unter Tarif bezahlt werden, gelten als "zumutbar".

Dabei liegen schon jetzt zahlreiche Tarife unter dem, womit ein Leben in Deutschland finanziert werden kann. Der niedrigste von den Gewerkschaften vereinbarte Tarif liegt z. B. bei einem Stundenlohn von 2,74 Euro für eine kaufmännische Hilfe in einem Gartenbaubetrieb im ostdeutschen Bundesland Sachsen.

Auch eine Berufsausbildung schützt nicht vor diesen Niedriglöhnen. Im gleichen Bundesland verdient ein Friseurmeister, der zehn Angestellte leitet, in der Stunde nur 5,56 Euro. Ein ausgebildeter kaufmännischer Angestellter verdient in der Koffer- und Lederwarenindustrie in Rheinland-Pfalz 5,34 Euro. Wer sich weigert, einen von der Bundesagentur angebotenen Arbeitsplatz anzunehmen, dem wird das Arbeitslosengeld 2 um 30 Prozent gekürzt.

Diese neuen Regelungen werden nicht nur die ohnehin Schwachen auf dem Arbeitsmarkt, Menschen ohne Schul- oder Berufsabschluss, hart treffen. Auch langzeitarbeitslose Akademiker müssen dann einfachste Tätigkeiten annehmen. In den Medien mehren sich die Reportagen, die meist unter dem Titel "Jung, dynamisch, arbeitslos" von ehemaligen Managern, Geschäftsführern, Abteilungsleitern, Softwareexperten usw. berichten, die in Hilfstätigkeiten in Büros oder Handwerksbetrieben gezwungen werden.

Die Süddeutsche Zeitung warnte am 15. Mai in einem Artikel unter der Überschrift "Armut im Reichtum" vor den Folgen der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, dem "größten Sozialabbau in Deutschland".

Die Zeitung rief eine Sozialstudie aus den frühen 1930er Jahren in Erinnerung, in der die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit und Armut auf die Bevölkerung des kleinen Dorfes Marienthal bei Wien untersucht worden waren. Diese Studie sei auch heute aktuell. "Ein Jahr Arbeitslosigkeit genügt für einen 50-Jährigen, um in die Sozialhilfe zu fallen", warnt die Süddeutsche Zeitung vor den Auswirkungen des Arbeitslosengeldes 2, "ein Absturz in eine staatlich verordnete Armut, ohne Beschäftigungsgarantie. Viele werden sich davon nicht mehr erholen. Vermögen jenseits der Schongrenzen müssen aufgezehrt und Wohnungen, die als nicht mehr angemessen gelten, aufgeben werden. Die Zahl der Obdachlosen wird steigen. Soziale Brennpunkte und weite Armutsregionen im Osten werden entstehen. Zehn Prozent aller Kinder, 1,5 Millionen, werden von 2005 an zu den Armen in der Gesellschaft gehören."

Schon jetzt verarmen die Menschen in den Großstädten. Die Hauptstadt Berlin ist gleichzeitig auch Hauptstadt der Armen. 533.000 Menschen müssen dort laut dem im letzten Monat veröffentlichten Sozialatlas mit weniger als 600 Euro im Monat auskommen, das ist mehr als jeder siebte Einwohner der Stadt. Spiegel-Online titelte: "Ein Armenviertel so groß wie Hannover".

Mit dem Geld schwinde auch die Gesundheit, mahnt die Süddeutsche Zeitung. "Die Politik verliert die Solidarität aus den Augen". Die "soziale Stabilität" sei gefährdet, da die Politik "von unten nach oben und nicht umgekehrt" spare. "Geld wird verschwendet, die wahren Sozialschmarotzer werden geschont."

In der Tat sind die Sparprogramme der rot-grünen Bundesregierung auf Kosten der Armen und Arbeitslosen beispiellos. Schon jetzt muss ein Drittel aller Haushalte in Deutschland mit weniger als 820 Euro auskommen. In der Wissenschaft wird dies als Niedrigeinkommen bezeichnet. Jeder zehnte Haushalt gilt als arm und muss sogar mit 550 Euro monatlich oder weniger auskommen.

In Deutschland sind neben den derzeit 2,7 Millionen Sozialhilfeempfängern offiziell 4,4 Millionen arbeitslos. Diese Zahl ist stark untertrieben. Fast monatlich fallen Arbeitslose aufgrund neuer Zählmethoden aus der Statistik heraus. Die Arbeitslosenzahl im letzten Monat ist zum Beispiel um 80.000 Teilnehmer von sogenannten Trainingsmaßnahmen bereinigt worden. Mit mindestens 1,3 Millionen Menschen rechnet man bei der sogenannten "stillen Reserve" - Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht in den Arbeitslosen- und Sozialhilfestatistiken auftauchen.

Die Behauptungen der Regierungspolitiker, die staatlichen Kassen seien leer, sind dabei nichts als Augenwischerei. Der Reichtum in Deutschland hat sich in den letzten Jahren enorm erhöht. Das private Gesamtvermögen beträgt nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Erbrechtskunde (DGE) umgerechnet rund 7 Billionen oder 7.000 Milliarden Euro, eine Verzehnfachung in den letzten 20 Jahren. Jährlich werden weit mehr als 200 Milliarden Euro vererbt oder verschenkt. In Deutschland gab es im Jahr 2000 rund 365.000 Euro-Millionäre. Ein halbes Prozent der Bevölkerung verfügt damit über 25 Prozent des privaten Gesamtvermögens. 3.700 unter ihnen besitzen sogar mehr als 30 Millionen Euro. Doch die Steuern der Reichen und Unternehmen werden nicht erhöht.

Siehe auch:
Die Maatwerk Insolvenz
(13. März 2004)
Die Pläne zum Arbeitslosengeld 2
( 20. August 2003)
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