Eine Demonstration zwei Tage vor dem EU-Beitritt

Warschau: Protest ohne Perspektive

Eine Demonstration im Rahmen des "Gegengipfels" zum Europäischen Wirtschaftsgipfel, die am 29. April in Warschau stattfand, geriet zu einem eher nachdenklich stimmenden Spektakel.

In den letzten Jahren, seit den Protesten gegen den Weltwirtschaftsgipfel in Seattle 1999, hatten sich weitere Demonstrationen in Göteborg, Genua und, in geringerem Maße, auch in Kopenhagen und Paris zur Überraschung der Organisatoren zu echten Massenprotesten gegen Sozialkürzungen und Kriegspolitik entwickelt.

Dies war in Warschau nicht der Fall. Die Proteste waren sichtlich an den Rand der Gesellschaft abgedrängt worden. Die ein- bis zweitausend Teilnehmer entstammten nahezu ausschließlich einer recht homogenen, eng beschränkten Schicht von Jugendlichen aus dem radikalen Protestmilieu. Der Grund für diese Isolation liegt darin, dass die Organisatoren keine Lösung für die Existenzprobleme der breiten Bevölkerungsmehrheit anbieten und diese, wenn überhaupt, nur rein beschreibend zur Sprache bringen. Sie trafen sich im Rahmen des "Gegengipfels" in mehreren auf die Stadt verstreuten Gruppen zu Gesprächen untereinander.

Weder in dem Aufruf, der von verschiedenen anarchistischen und an der Sozialdemokratie orientierten Gruppen, wie attac Polen ausging, noch auf der Demonstration selbst konnte man ein politisches Statement, geschweige denn eine ausführliche Analyse der politischen Lage finden. Es gab keine Informationsstände, keine mit Texten versehenen Flugblätter, keine Reden. Am 29. April 2004, zwei Tage vor Polens Beitritt zur Europäischen Union, wurde praktisch kein Wort über diese einschneidende Entwicklung verloren, deren Folgen die Einwohner dieses größten Beitrittslandes hart treffen werden.

Mitglieder der Partei für soziale Gleichheit verteilten am Rande des Abmarschplatzes das Manifest der PSG zu den Europawahlen in polnischer Sprache. Es war die einzige ausgearbeitete Stellungnahme zu diesem Thema und zog entsprechendes Interesse auf sich. Vertreter mehrerer Radiosender kamen auf unser Team zu und fragten nach den Zielen und Forderungen der PSG. Passanten blieben stehen, um sich gern und geduldig auf Diskussionen in der gemeinsamen Fremdsprache Englisch oder mittels unserer hilfsbereiten Übersetzerin einzulassen.

Jedrzej Szymanski, ein Jugendlicher aus der Umgebung von Warschau, erklärte uns: "Nein, ich komme eigentlich nicht direkt, um die Demonstration zu unterstützen. Ich bin kein fanatischer Antiglobalisierer. Aber ich traue den Medien nicht. Sie vermitteln kein reales Bild, keine objektiven Berichte. Ich will mich einfach mit eigenen Augen überzeugen, was hier geschieht.

Ich habe von Vorfällen gehört, dass Demonstranten an der Staatsgrenze aufgehalten wurden und dass es sogar Absperrungen gab. Das finde ich schlecht. Es ist keine Demokratie, wenn die Leute nicht ihre Meinung sagen dürfen, egal was diese Meinung ist, oder wegen ihrer Meinung nicht über die Grenze gelassen werden. Es geht mir um die Demokratie. Sie geht in den Ländern der EU verloren - wie es in den USA ist, weiß ich nicht genau. Aber nach den Terroranschlägen des 11. September wird die Welt in Gut und Böse eingeteilt, und das kann nicht richtig sein."

Jedrzej sprach sich gegen die Entsendung polnischer Soldaten in den Irak aus: "Wenn wir zur zivilisierten Welt gehören wollen, dann war das falsch. Dieser Krieg ist kein Verteidigungskrieg, kein Krieg für Frieden."

Arkedivsz Mlonek, Mitte 30, brachte ebenfalls seine Verachtung für die Medien zum Ausdruck, die eine ungeheure Hetze gegen die bevorstehende Demonstration entfacht hatten. "Die Arbeiter haben keinen Einfluss mehr, das Kapital bestimmt alles. Das Big Business bestimmt über die Regierung." Arkedivsz freute sich über die Demonstrationen gegen den Irakkrieg, an denen im Februar letzten Jahres auch in Warschau Tausende teilgenommen hatten: "Früher sind die Leute nur wegen des Essens auf die Straße gegangen. In Bezug auf den Irak war es anders."

Krzysztof Jusenicz, 55, ein arbeitsloser Drucktechniker, war von außerhalb nach Warschau gekommen. Er war auf der Suche nach einer vorwärtsweisenden politischen Perspektive. Er bezeichnete es als "großen Fehler", dass er sich früher vorbehaltlos für die Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc eingesetzt hatte. "Ihre Politik war kurzsichtig. Sie hat zu der brutalen Variante des Kapitalismus geführt. Heute sitzen Leute in der Regierung, die nur noch sich selbst bedienen."

Auf die Frage nach seiner Haltung zum Irakkrieg erklärte Krysztof Jusenicz, er sei "total dagegen". "Bush ist ein Wahnsinniger. Die polnischen Truppen sollten abgezogen werden. Ich habe in meiner Jugend gegen den Vietnamkrieg protestiert und hätte mir so etwas nie träumen lassen - die Polen, wir, besetzen den Irak! Das ist verrückt. Gerade wir sollten keine anderen Länder besetzen."

Die Kluft zwischen dem offiziellen Politikbetrieb und den einfachen Menschen in Polen könnte gar nicht ausgeprägter sein. Die derzeitigen Regierungsparteien SLD (Demokratisches Linksbündnis) und UP (Union der Arbeit) liegen bei Umfragen mittlerweile unter 5 Prozent. In Vorbereitung auf den EU-Beitritt hat die SLD/ UP-Koalition unter Leszek Miller soziale Leistungen abgebaut und die Privatisierung staatlicher Betriebe sowie die Umstrukturierung der Landwirtschaft vorangetrieben. Die offizielle Arbeitslosenquote von 20 Prozent ist nur eine Folge dieser Politik. Des weiteren führten zahlreiche Korruptionsaffären und die Beteiligung Polens an der Besetzung des Iraks zu einer weit verbreiteten Feindschaft gegen die Regierenden. Im Spätsommer des vergangenen Jahres entlud sich die Wut Tausender Bergleute über die Privatisierung bzw. Schließung ihrer Zechen auf einer Demonstration in Warschau in gewalttätigen Ausschreitungen gegen das Parteibüro der SLD. Auch die Landwirte und Beschäftigte des Gesundheitswesens hatten wiederholt protestiert.

Doch ungeachtet ihres Aufrufs, in dem von "radikalen Alternativen" die Rede war, stellte sich auf der Demonstration heraus, dass die wichtigsten teilnehmenden Gruppen den Beitritt Polens zur EU in Wirklichkeit unterstützen.

Auf der Ladefläche eines Lastwagens, der lautstarke Musik verbreitete, tummelten sich vor einer Fahne der Jugendorganisation der deutschen SPD, der Falken, einige Mitglieder der "Federacja Mlodych Unii Pracy" (FMUP), der Jugendorganisation der Union der Arbeit. Auf die Frage, weshalb sie an der Demonstration teilnehmen und wie sie zur Europäischen Union stehen, antwortete uns ein junger Mann ohne weiteres, dass die FMUP selbstverständlich für die EU sei. Als seine Vorbilder bezeichnete er Ken Livingstone und Oskar Lafontaine. Beide bezeichnen sich als linke Kritiker der Sozialdemokratie, obwohl sie kampflos vor dem rechten Flügel kapitulieren und dessen Politik mittragen. Auch die UP, eine kleine Partei, die dem linken Flügel der Solidarnosc entstammt, findet nichts dabei, sich an der Regierung der SLD mit allen ihren sozialen Schandtaten zu beteiligen.

Fast den gleichen Standpunkt vertraten einige Mitglieder der Nowa Lewica, der Neuen Linken, die sich vor kurzem unter Piotr Ikonowicz von der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) abgespalten hat. Sie waren mit eigenen Fahnen zur Demonstration am 29. April gekommen. Während sie sich als "weit links" vom übrigen politischen Spektrum stehend bezeichneten, als "sozialistisch" und "an der Arbeiterklasse" orientiert, bekannten auch sie sich ebenfalls ausdrücklich zur Europäischen Union, zu der es keine Alternative gebe.

Diese politischen Standpunkte waren mit Sicherheit nicht der Grund für die wahre Sicherheitshysterie, die von der Regierung und den Medien im Vorfeld der Demonstration erzeugt worden war. Große Teile der Innenstadt waren abgeriegelt, die Fenster fast aller Geschäfte und Kaufhäuser mit Platten aus Sperrholz oder Styropor zugenagelt. Nur wenige Läden und Gaststätten blieben geöffnet. Etwa 13.000 Polizeikräfte waren in Warschau zusammengezogen worden. An jeder Straßenecke standen Polizisten, zum Teil bis an die Zähne bewaffnet und in martialische Kampfuniformen gekleidet. Über der Demonstration flog unaufhörlich ein Polizeihubschrauber hin und her, in Nebenstraßen waren Wasserwerfer und Panzerfahrzeuge stationiert. Die gesamten Sicherheitsmaßnahmen kosteten den polnischen Steuerzahler rund 2,3 Millionen Euro.

Die herrschenden Kreise Polens stellten zur Schau, dass sie offenbar allen Grund zu einer geradezu hysterischen Angst vor der eigenen Bevölkerung haben.

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