Die Bush-Regierung und der 11. September: Was folgt aus Richard Clarkes Enthüllungen?

Richard Clarke, der ehemalige Terrorabwehrchef der Bush-Regierung, hält an seinem Vorwurf fest, dass die Bush-Regierung die Gefahr eines Terroranschlags durch Al Qaida bis zum Tag der Angriffe auf das Pentagon und das World Trade Center herunterspielte und diese anschließend als Vorwand benutzte, um bereits bestehende Pläne für eine Invasion des Iraks umzusetzen. Dies bekräftigte er am 24. März vor der nationalen Untersuchungskommission zu den Terroranschlägen des 11. Septembers und am 28. März in einem einstündigen Interview mit dem Nachrichtensender NBC.

Clarkes Vorwürfe werden in seinem jüngst erschienenen Buch Against All Enemies dargelegt und von Dokumenten und Aussagen anderer Beteiligter zur Genüge untermauert. Die Kontroverse hat die Bush-Regierung in die größte politische Krise seit ihrem Amtsantritt im Januar 2001 gestürzt.

Eine ganze Reihe von Vertretern der Bush-Regierung, führenden Kongressabgeordneten der Republikaner und "Experten" der rechten Medien haben Clarkes Darstellung angegriffen, ohne sie auf faktischer Ebene zu widerlegen. Ebenso wenig können sie erklären, weshalb ein ehemaliger Terrorabwehr-Berater des Präsidenten, seines Zeichens bekennender Republikaner, versuchen sollte, Bushs politische Glaubwürdigkeit ausgerechnet auf dem Gebiet zu zerstören, auf das sich der Wahlkampf des Präsidenten konzentriert - seine Führungsrolle im "Krieg gegen den Terror".

Clarkes Vorwürfe konzentrieren sich auf ein Thema von außerordentlicher politischer Sprengkraft: den Zusammenhang zwischen den Terroranschlägen vom 11. September und der Entscheidung der Bush-Regierung zum Krieg gegen den Irak. Die Untätigkeit, welche die Regierung vor dem 11. September in Bezug auf die Gefahr eines Al-Qaida-Angriffs an den Tag legte, bringt Clarke explizit und nachdrücklich damit in Verbindung, dass sie um jeden Preis einen Krieg gegen den Irak anstrebte. Im amerikanischen Geheimdienst herrschte, so Clarke, die einmütige Auffassung, dass der Irak nichts mit den Terroranschlägen zu tun hatte. Den Irakkrieg bezeichnet er als Ablenkung vom eigentlichen "Krieg gegen den Terror" und strategischen Fehler, der die muslimische Welt in Aufruhr versetzt und den Einfluss der Al Qaida gestärkt hat.

Clarke, der auf eine 30-jährige Erfahrung in der nationalen Sicherheitspolitik zurückblickt und hohe Positionen unter den Regierungen Reagan, Bush senior und Clinton einnahm, bevor er für den zweiten Bush im Weißen Haus tätig war, ist kein Kriegsgegner. Er ist ein rücksichtsloser Befürworter von militärischen und verdeckten Aktionen zu Gunsten der Interessen des amerikanischen Imperialismus. Dies macht seine Anklage gegen die Bush-Regierung umso vernichtender.

Sowohl bei seiner Aussage vor der Untersuchungskommission als auch in dem Fernsehinterview am 28. März wies Clarke darauf hin, dass die Clinton-Regierung auf eine Zunahme der Terrorgefahr ganz anders reagiert hatte, als später unter vergleichbaren Umständen die Regierung Bush.

In der Zeit vor den Feiern zur Jahrtausendwende, im Dezember 1999, meldeten die US-Geheimdienste eine dramatische Zunahme an abgefangenen Nachrichten, die auf eine Bedrohung durch Al Qaida hinwiesen. Auf Weisung Clintons berief sein Nationaler Sicherheitsberater Samuel Berger tägliche Treffen der höchsten Sicherheitsbeamten ein, unter ihnen die Leiter von CIA und FBI, um vorbeugende Maßnahmen zu koordinieren. Diese angespannte Arbeit verhinderte laut Clarke einen für den Sylvesterabend geplanten Anschlag auf den Flughafen von Los Angeles, weil der von Al Qaida mit der Mission beauftragte Attentäter verhaftet werden konnte, als er nahe Vancouver die amerikanisch-kanadische Grenze überqueren wollte.

Wenn man sich im Sommer 2001, als der Geheimdienst erneut vermehrte Hinweise auf eine terroristische Bedrohung durch Al Qaida erhielt, ähnlich intensiv bemüht hätte, so wären laut Clarke die Anschläge vom 11. September aufzuhalten oder zu verhindern gewesen.

Die meisten Medienberichte über Clarkes Aussagen konzentrieren sich auf eine Reihe von Treffen und Memoranden zwischen Vertretern des Weißen Hauses in den ersten acht Monaten des Jahres 2001 und werfen ihm vor, dass er damals in seiner Rolle als Bushs Berater anders gesprochen habe als heute. Aber Clarke besteht darauf, dass die Trägheit der Regierungsbehörden die Bemühungen, einen Terroranschlag in den Vereinigten Staaten zu verhindern, schwer beeinträchtigte.

Gut dokumentierte Fakten stützen seine Behauptung. Als beispielsweise die CIA erfuhr, dass zwei Al-Qaida-Mitglieder, die an einem hochrangigen Planungstreffen in Malaysia teilgenommen hatten, in die Vereinigten Staaten eingereist waren, informierte sie das FBI über ein Jahr lang nicht darüber. Weder die CIA noch das FBI informierten Clarke oder seine Terrorabwehrgruppe im Weißen Haus. Diese beiden bekannten Al-Qaida-Mitglieder gehörten zu den Entführern, die am 11. September unter ihren richtigen Namen an Bord der Flugzeuge gingen, ohne dass sie von Seiten des Staates oder der Luftfahrtgesellschaft daran gehindert worden wären.

Clarke bemerkte bitter: "Ich glaube, wir hatten sogar ihre Fotos. Ich hätte, das darf ich wohl sagen, entweder selbst eine Presseerklärung mit ihren Namen und ihrer Beschreibung herausgegeben oder das FBI dazu veranlasst. Ich hätte eine Pressekonferenz einberufen und versucht, ihre Namen und Fotos als ‚America's Most Wanted' auf die Titelseite jeder Zeitung und in die Abendnachrichten zu bringen, und so eine erfolgreiche landesweite Jagd auf zwei der 19 Entführer in Gang gesetzt."

Der beschriebene Kommunikationsmangel bestand trotz der Tatsache, dass Clarke im Juni 2001 ein hochrangiges Treffen von Verantwortlichen der staatlichen Sicherheitsdienste zur Verhinderung eines Terroranschlags von Al Qaida einberufen hatte, nachdem vermehrt Hinweise auf eine Bedrohung eingegangen waren. Anwesend waren unter anderem Vertreter von CIA, FBI und der für die Luftfahrtsicherheit zuständigen Behörde Federal Aviation Administration.

Clarke sagte am vergangenen Mittwoch vor der Untersuchungskommission zum 11. September: "Ich hatte dem FBI, den anderen Sicherheitsbehörden und der CIA aufgrund dieser Geheimdiensterkenntnisse gesagt, dass etwas bevorstand und dass sie ihre Benachrichtigungsschwelle senken und uns alles melden sollten, was auch nur im geringsten ungewöhnlich erschien. Nachdem ich ihnen das immer wieder gesagt hatte, finde ich es rückblickend vollkommen unverständlich, dass diese Informationen [über die beiden späteren Flugzeugentführer] irgendwo im FBI vorlagen, mir aber nicht gemeldet wurden."

In der gleichen Zeugenaussage vor der Kommission erklärte Clarke, dass das FBI das Terrorabwehrbüro im Weißen Haus nicht über den Fall Zacharias Moussaoui informiert hatte. Moussaoui war als mutmaßliches Al-Qaida-Mitglied verhaftet worden, als er in einer Flugschule im Bundesstaat Minnesota das Steuern einer Boing 747 erlernen wollte. Das Kommissionsmitglied Richard Ben-Veniste, ein ehemaliger Ankläger im Watergate-Skandal, fragte: "Und wenn Sie zudem noch gewusst hätten, dass es vor dem 11. September einen identifizierten, in den Vereinigten Staaten verhafteten Dschihadisten gab, der sich in einer Flugschule ungewöhnlich verhielt..."

Clarke antwortete: "Ich möchte meinen, Sir, dass ich auch ohne das jetzige Wissen über die weiteren Geschehnisse in der Lage gewesen wäre, Zusammenhänge zu erkennen."

Die World Socialist Web Site vertritt seit langem die Ansicht, dass die offizielle Version der Bush-Regierung, die seit zweieinhalb Jahren ständig über die amerikanischen Medien verbreitet wird, die am wenigsten plausible Erklärung für die Ereignisse des 11. Septembers darstellt. Ihr zufolge konnten 19 Al-Qaida-Attentäter in die Vereinigten Staaten einreisen, am selben Tag vier Flugzeuge entführen und - durch an US-Flugschulen ausgebildete Selbstmordpiloten - in das World Trade Center und das Pentagon steuern, ohne dass irgendeine staatliche Behörden auch nur den blassesten Schimmer von ihren Machenschaften gehabt hätte.

Clarkes Aussagen bestätigen, dass die Al-Qaida-Anschläge deshalb möglich wurden, weil die gesamte Terrorabwehr, die in den letzten Jahren der Clinton-Regierung - zumindest seit den Bombenanschlägen auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania im August 1998 - betrieben wurde, de facto aussetzte.

Weder Clarke noch die Kommissionsmitglieder noch die Medien haben die Frage angesprochen, ob dieses Aussetzen Absicht war, ob also auf irgendeiner Regierungsebene die Entscheidung fiel, einen Terroranschlag zuzulassen, um den notwendigen Vorwand für eine Militäraktion im Mittleren Osten und Zentralasien zu erhalten - eine Aktion, die bis zu diesem Zeitpunkt politisch nicht durchsetzbar war.

Nicht nur Clarke, sondern alle ehemaligen und derzeitigen Sicherheitsbeamten, die am vergangenen Dienstag und Mittwoch vor der Untersuchungskommission aussagten, erklärten übereinstimmend, dass die Opposition der Öffentlichkeit eine solche Militärintervention vor dem 11. September unmöglich gemacht hatte. Diese Tatsache wurde sowohl von Clintons Außenministerin Madeleine Albright als auch von Bushs Verteidigungsminister Donald Rumsfeld bestätigt.

Wie zuvor schon der ehemalige Finanzminister Paul O'Neill und andere Augenzeugen bekräftigt Clarke, dass die Bush-Regierung vom ersten Tag ihrer Amtsübernahme an einen Krieg gegen den Irak vorbereitete. Anfangs hofften Rumsfeld und andere Kriegstreiber, irakische Verteidigungsmaßnahmen, beispielsweise Luftabwehrfeuer gegen amerikanische Kampfflugzeuge in den Flugverbotszonen in Nord- und Südirak, als Kriegsvorwand nutzen zu können. Aber es zeigte sich, dass die öffentliche Meinung hierdurch kaum zu beeinflussen war.

Clarke hat niemals angedeutet, dass die Bush-Regierung einen Terroranschlag bewusst zugelassen habe, um in der Bevölkerung Unterstützung für einen Krieg zu erzeugen. Aber er gibt eindeutig nicht sein gesamtes Wissen über die Hintergründe des 11. Septembers preis. Man beachte beispielsweise seinen Kommentar während der Anhörung am Mittwoch: "Wissen Sie, leider nimmt dieses Land manchmal tote Soldaten in Kauf und braucht tote Soldaten, um wirklich harte Entscheidungen in Bezug auf Geld und Staatsangelegenheiten zu treffen."

Ein anderes bedeutsames Detail ist Clarkes Darstellung, dass er, nachdem sein Amt im Sommer 2001 auf Grund der geheimdienstlichen Hinweise das Militär landesweit in Terroralarmbereitschaft versetzt hatte, vom Pentagon unter Druck gesetzt wurde. Das Verteidigungsministerium beschwerte sich, dass die einsatzbereiten Militäreinheiten erste Erschöpfungssymptome zeigen würden. Die Alarmbereitschaft, die auch die Luftsicherheitsbehörde einschloss, wurde Ende August gesenkt - zwei Wochen, bevor die 19 Selbstmordattentäter ihre Flugzeuge bestiegen. Dieses Timing lässt die Vermutung zu, dass die Auftraggeber der Attentäter Kenntnis darüber hatten, wann die Sicherheitsvorkehrungen gelockert wurden. Woher erhielten sie ihre Informationen?

Vor mehr als zwei Jahren trug die WSWS detailliert alle Beweise zusammen, wonach die US-Regierung lange vor dem 11. September vor den Terroranschlägen gewarnt worden war. [Siehe Artikelserie War die US-Regierung vor dem 11. September vorgewarnt? ] Die Bush-Regierung reagierte auf diese Warnungen - nicht mit dem Ziel, solche Anschläge und damit den Verlust Tausender Menschenleben zu verhindern, sondern um eine terroristische Gräueltat als Vorwand für eine lange geplante Militäroperation in den ölreichen Regionen Zentralasiens und des Mittleren Ostens zu benutzen.

Die Enthüllungen von Richard Clarke liefern weitere Beweise dafür, dass sich hinter dem staatlichen Versagen, den schlimmsten Terroranschlag der amerikanischen Geschichte zu verhindern, etwas viel Schlimmeres und Gefährlicheres verbirgt als bloße Inkompetenz.

Siehe auch:
Terrorexperte wirft Bush Manipulation eines Kriegsvorwand vor
(26. März 2004)
11. September: Zwei Jahre danach beginnt die Abdeckung zu bröckeln
( 23. September 2003)
War die US-Regierung vor dem 11. September vorgewarnt? Vierteilige Artikelserie
( 23. Januar 2003)
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