54. Internationale Filmfestspiele Berlin - Teil II

Verwirrte Gefühle

"Gegen die Wand" und "Was nützt die Liebe in Gedanken"

Der deutsche Film "Gegen die Wand" von Fatih Akin gewann den Wettbewerb des Festivals und erhielt den goldenen Bären. Der Film thematisiert, wie bereits Akins erfolgreicher erster Film "Kurz und schmerzlos", (1998) das Leben der zweiten und dritten Generation der türkischen Bevölkerung Deutschlands.

In einem Krankenhaus begegnen sich Sibel und Cahit. Beide haben einen Selbstmordversuch hinter sich. Die junge lebenshungrige Sibel hielt es zu Hause nicht mehr aus. Der konservative muslimische Vater achtet auf die Ehre der Familie und der gewalttätige Bruder überwacht jeden Schritt der Schwester. Der zwanzig Jahre ältere Cahit hat eine Trennung hinter sich und will von Familie nichts wissen. Der etwas verwahrloste Einzelgänger hängt in Kneipen herum, spricht ein miserables Türkisch und arbeitet als Gläserabräumer in einem Hamburger Kulturzentrum.

Sibel will das pralle Leben. Die einzige Möglichkeit sich der Familie zu entziehen sieht sie in einer Heirat. Cahit, der eigentlich nur noch in Ruhe sein Bier trinken will, willigt widerwillig ein, sie zur Frau zu nehmen. Abmachung ist: Jeder geht seiner Wege. Beide schlafen getrennt. Aus dem konfliktreichen Nebeneinander entwickelt sich, ohne dass sie es eigentlich merken, eine tiefere Beziehung .

Cahit tötet im Affekt einen von Sibels zahlreichen Liebhabern, worauf diese von ihrer Familie verstoßen wird. Nur die attraktive Selma in Istanbul hilft und besorgt Sibel einen Hoteljob. Sibel fühlt sich dort fremd und einsam, vermisst die Freiräume, die sie in Deutschland hatte, und versinkt langsam in einem Morast von Alkohol und Drogen. Eines Nachts, schwer betrunken, wird sie von Männern zusammengeschlagen und mit einem Messer schwer verletzt. Ein Taxifahrer liest sie blutüberströmt auf.

Nachdem Cahit aus dem Gefängnis entlassen ist, sucht er Sibel auf. Sie trägt ihr Haar inzwischen modisch kurz und hat eine kleine Tochter. Cahit will in der Türkei bleiben und mit Sibel am Ort seiner Kindheit, irgendwo in der Provinz ein neues Leben beginnen. Sibel erscheint nicht zum vereinbarten Treff. Cahit steigt allein in den Bus.

Der Film hat seine stärksten Stellen, wenn er zeigt, wie alte ländliche Traditionen, die in Deutschland ihren Sinn verloren haben, als inhaltslose Hülsen weiterleben, wie damit ironisch gespielt wird, während man äußerlich die Tradition wahrt.

Als es darum geht, auf herkömmliche Weise bei den Eltern um die Hand der Tochter anzuhalten, weiß Cahit nicht wie er sich verhalten soll. Viel scheint davon abzuhängen, dass er Pralinen ohne Alkohol kauft. Er stellt sich als solider Geschäftsmann vor. Diejenigen, die ihn durchschauen, spielen dennoch das Spiel mit. Später, als Sibels Bruder Cahit zur Rede stellt, warum er log, antwortet dieser: Hättest du deine Schwester einem Gläserwäscher gegeben? Der Bruder akzeptiert Cahit, als dieser erklärt, seine Schwester zu lieben.

Wie ein roter Faden und ironischer Fingerzeig taucht immer wieder eine traditionell-türkische Volksmusikgruppe auf, die sich auf einem großen Orientteppich vor einer malerischen Stadtansicht wie auf einer Urlaubspostkarte präsentiert. Das wirkliche Leben hat damit nicht viel zu tun. Sibel bewunderte immer schon Selma aus Istanbul, für sie der Inbegriff einer schönen, emanzipierten modernen Frau.

Als sie deren Leben kennen lernt, verwandelt sich Bewunderung in Verachtung. Sie rackert sich für das Hotel ab, das sie in ein paar Jahren hofft zu managen. Noch vor dem Fernseher trimmt sie ihren Körper. Der Preis für die Unabhängigkeit war hoch. Sie hat weder Mann noch Kinder und ist verbittert.

Sibel mag sich nicht entscheiden zwischen konservativer Familientradition und modernem Kapitalismus. Sie zieht ein rauschhaftes Leben in einer gesellschaftlichen Nische vor, wo man Verrücktheiten macht, trinkt, tanzt, Drogen nimmt, sich stürmisch umarmt, um sich gleich darauf hysterisch anzuschreien und zu prügeln, und das alles mit ungebremster Kraft und Leidenschaft. Rationales Denken und bewusstes Handeln besitzen in der Welt von Sibel und Cahit keinen Stellenwert.

Der Film zeigt die Destruktivität ihrer blinden Gefühle . Mit dem Anspruch auf ein freies, ungezwungenes Leben rennen sie immer wieder gegen eine nicht nachgebende unsichtbare Wand. Ursprünglich war ein Filmschluss geplant, in dem beide wieder in den alten alkoholreichen Sumpf geraten.

Sibel und Cahit scheitern ganz offensichtlich. Dennoch ist der Film der Gefahr einer Verherrlichung des Spontanen, Instinktiven nicht ganz entgangen. Das elementar Kraftvolle, Ungebändigte, Entfesselte ihrer Gefühle wird stark betont. Immer wieder lassen die Filmemacher Cahit ausrasten. Mehrmals fegt er Biergläser mit einem unbeherrschten Ruck vom Tisch, splitterndes Glas verletzt seine Hand.

Man hat den Eindruck, die Art wie Sibel und Cahit leben, ist den Filmemachern sympathischer, als die beherrschte Lebensweise von Selma, die Sibel so angepasst und spießig vorkommt. Deren Stärke besteht allerdings in der Fähigkeit bewusst und durchdacht zu handeln. Sie entscheidet sich für ein aktives Leben in der Gesellschaft. An den für sie tragischen Konsequenzen trägt sie keine Schuld. Sibel und Cahit sind Randexistenzen, die sich trotz ihrer hektischen Betriebsamkeit passiv treiben lassen.

Der Regisseur kennt das Milieu, das er beschreibt, und zeigt es wohl nicht ohne Grund hermetisch abgeschlossen. Da ist der türkische Friseur, der nur von Türken besucht wird, wie auch die türkische Diskothek. Nur ein türkischer Ehemann wird von Sibels Familie akzeptiert. Das beruht ohne Zweifel auf Erfahrungen. Im Film fehlt jedoch jedes Element, das den Zuschauer anregen könnte, den Grund dieser Isolation und das hartnäckige Weiterleben konservativer Traditionen in nicht wenigen türkischen Familien Deutschlands zu hinterfragen.

Haben diese mit Kulturpflege zu tun, die man unterstützen sollte, oder steht es eher in einem bestimmten Zusammenhang zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland? Der Regisseur stellte fest, dass heute stärker als früher ein Hang zur Tradition unter jungen Türken zu beobachten sei. In der Türkei selbst, in Großstädten wie Istanbul, seien die Menschen dagegen modern.

Die türkische Bevölkerung in Deutschland gehört zum großen Teil immer noch zu den unterdrücktesten sozialen Schichten mit einem sehr hohen Anteil an Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern. Diese Situation ist verbunden mit gesellschaftlicher Ausgrenzung, schleichender sozialer Verwahrlosung, Erziehungs- und Schulproblemen. Der fortwährende Sozialabbau verschärft diese Situation. Das alles zusammen bildet einen günstigen Nährboden für nationalen und religiösen Konservatismus, Kriminalität und alle möglichen emotional-aggressiven Ausbrüche, was manche immer noch für südländisches Temperament halten.

Es gibt ein bestimmtes Publikum, empfänglich für überschwängliche Gefühle, das dem eine gewisse Romantik abgewinnt. Dieses Publikum verdient in der Regel nicht schlecht und betrachtet große Gefühle als soziale Brücke nach dem Motto: Geld ist nicht wichtig, wirklich wichtig sind im Leben Gefühle. Es macht sich oft Sorgen über die kulturelle Identität türkischstämmiger deutschen Bürger, jedoch kaum über deren soziale Identität.

Was nützt die Liebe in Gedanken

Nach "England" (2000) ist dies der zweite Film von Achim von Borries. Er wurde in der Reihe Panorama gezeigt. Es geht ebenfalls um den Inhalt großer Gefühle. Wieder rennen Menschen ohnmächtig gegen eine Wand.

Die Geschichte spielt zur Zeit der Weimarer Republik im Jahr 1927 und beruht auf einer wahren Begebenheit. Günther, Sohn wohlhabender Eltern, und der dichtende Paul aus ärmlichen Verhältnissen sind 18 und 19 Jahre alt, wollen ohne Kompromisse leben und lesen expressionistische Dichter wie Georg Heym und Jakob van Hoddis.

Beide gehören einer Generation an, die geprägt ist von den sozialen Auswirkungen des ersten Weltkrieges, der revolutionären Explosion 1918/19, und dem Bemühen der Weimarer Politiker, der wachsenden Polarisierung der Gesellschaft bürokratisch Herr zu werden. Es ist ein Lebensgefühl zwischen dem lustvollen Auskosten des Niedergangs und der Hoffnung auf ein neues Gemeinschaftsgefühl, auf eine neue bessere Gesellschaft, zwischen Apokalypse und Sozialismus.

In ihrer Zeit, in der die äußere Welt aus den Fugen ist, eine Welt, die sie nicht verstehen, scheint es für sie nur einen Kompass für das Leben zu geben: den Blick nach innen, in die eigene Seele, um sich am Gefühl der Liebe zu orientieren. Sie treffen ein Abkommen: Sie wollen in dem Augenblick aus dem Leben gehen, in dem sie keine Liebe mehr spüren und die mit in den Tod nehmen, die ihre Liebe zerstörten. Liebe sei das Einzige, wofür es sich wirklich lohne zu sterben und zu töten. Eine Gartenparty mit Freunden auf dem Grundstück von Günthers Eltern wird zum Katalysator der tragischen Ereignisse. Am Ende sind zwei junge Menschen tot.

Was der Regisseur aus dem Stoff macht ist ziemlich erbärmlich. Er habe sich bemüht, erläuterte er, die historischen Ereignisse korrekt wiederzugeben, wollte aber keinen zwanziger Jahre-Film drehen, mit den üblichen "Historismen" von Dekoration und Ausstattung. Solche Details sollten nicht den Blick auf das Wesentliche verstellen. Er habe die Geschehnisse mit seinen eigenen Gefühlen während der achtziger Jahren abgeglichen und versucht eine zeitlose Sprache zu finden.

Jeder erlebe die erste Liebe, die ersten Enttäuschungen. In jeder Klasse sei so ein Jungenschwarm wie Hilde, die sich später dann vielleicht gar nicht als so toll herausstellt, oder ein Mauerblümchen, das man unterschätzt hat. Jeder habe in der Jugend den hohen Anspruch, das Leben solle mehr sein als ein kompromissvolles Dasein. Natürlich seien die Drogen in den Achtzigern andere gewesen und er hätte nicht Jakob van Hoddis zitiert, sondern vielleicht John Lennon.

Nachdem der Regisseur mit dem Ziel, die "Jugend allgemein" darzustellen, die einzelnen Charaktere so reduziert, dass von ihnen als Individuen nichts übrig bleibt, und sie hermetisch von ihrer gesellschaftlichen Umwelt abgeschlossen hat, wird der Zuschauer zu einer sehr banalen Schlussfolgerung gedrängt: Eigentlich gehe es in erster Linie um Sex.

Im Film stellt sich das so dar: Der zynische homosexuelle Günther will den jungen dichtenden Paul aus seiner Schule mit seiner sinnlichen Schwester Hilde verkuppeln, damit diese die Finger von seiner Liebe Hans, einem Kochlehrling lässt. Die Schwester weiht den Schöngeist in die handfeste Seite der Liebe ein, will sich jedoch nicht binden. Als sie im Nebenzimmer mit Hans schläft, fühlen Paul und Günther sich beide in ihrer Liebe verraten. Vor Eifersucht erschießt Günther Hans, dann sich selbst.

Weite Strecken widmet sich der Film der Sauforgie, die am Wochenende auf dem Grundstück von Günthers Eltern vor romantischer Wald- und Seekulisse stattfindet. Um Aktualität zu betonen, verwendet der Film genau die oberflächlichen "Historismen", die der Regisseur eigentlich ablehnt. Jemand scratcht auf dem Grammophon, am Lagerfeuer ertönt ein amerikanischer Song zur Gitarre, um Assoziationen an die sechziger und siebziger Jahre zu wecken. Die heutigen Partydrogen gab es damals nicht, aber es gab Absinth. Die Pistole, die sich Günther zum Schluss an die Schläfe setzt, ist während des ganzen Films bedrohlich präsent. Ständig wird auf der Party damit herumgefuchtelt und irgendwo hingeballert.

Die meditative Musik macht den Film inhaltlich nicht tiefer, nur langweiliger. Die Dichtversuche, wie auch Pauls Tagebuch, das immer mit den Worten beginnt: "Liebes Weltall", erscheinen nur als etwas überspanntes, verträumtes Geschreibsel eines Schülers, der noch nie mit einem Mädchen schlief. Die wirklich schönen, lyrischen Naturaufnahmen machen den Mangel an Substanz bei der Gestaltung der Charaktere nicht wett. Was den Figuren fehlt ist das Spezielle, das Gefühl ihrer Zeit, das sie zu lebendigen Individuen macht und gleichzeitig zu historischen Charakteren.

Achim von Borries hat vor seinem Filmstudium in Berlin mehrere Jahre Geschichte, politische Wissenschaften und Philosophie studiert. Dass mag jeden zunächst überraschen, der diesen hausbackenen, biederen Film sieht, aus dem geschichtliche, politische und philosophische Fragen sorgfältig ausgeklammert sind. Es ist jedoch typisch für die heutige Zeit.

Es ist interessant, diesen Film mit einer Verfilmung des gleichen Stoffs zu vergleichen, die 1960 entstand. Die Gesellschaft und ihr geistiges Klima waren anders als in den zwanziger Jahren und anders als heute. Das spürt man sofort.

"Geschminkte Jugend" von Max Nossek stellt die individuelle Sehnsucht nach Liebe in einen Zusammenhang mit gesellschaftlicher Kultivierung, als Sehnsucht nach einem harmonischen Leben innerhalb der Gesellschaft. Liebe erscheint dem Zuschauer als intensivster Ausdruck gesellschaftlichen Zusammenlebens. Liebe ist der Brennpunkt, wo sich die verschwommenen Sehnsüchte aller Menschen nach Harmonie und Schönheit zu einer Einheit verdichten. Als ein Transportmittel dieser Liebe erscheint die Kunst.

Günther will aufbrechen zu neuen, weiten künstlerischen Horizonten. Sein Problem ist, dass er völlig desillusioniert vom Leben ist. Es langweilt ihn, es erscheint ihm banal, was zu Zynismus geführt hat. Der junge Mann mit christlichem Hintergrund hadert nicht nur mit Gott. Was ihn daran hindert und unfähig macht überhaupt an ein höheres Ideal wie die Liebe zu glauben, ist gerade seine Abwendung vom wirklichen Leben, die sich ausdrückt in seiner tiefen Verachtung gegenüber der Masse der Bevölkerung. Er will mit ihr nichts zu tun haben. Sie erscheint ihm als eine jederzeit beliebig zu manipulierende, unkultiviert-stumpfsinnige Herde. Wie soll es mit diesem riesigen Klotz am Bein möglich sein, wirkliche, uneigennützige Liebe zu verwirklichen? Zum Schluss selbst von seinen Freunden isoliert, erschießt er sich aus Selbstverachtung.

Die Dimension der Gedanken und Gefühle ist tiefer und umfassender als bei Günther in Achim von Borries Film. Nossek hat offenbar gründlich über die Jugend dieser Zeit nachgedacht und fand gerade dadurch etwas heraus, was über diese Zeit hinaus, auch heute noch von Bedeutung ist.

Bei Nossek scheitern die Figuren nicht an jugendlicher Unreife. Was Günther daran hindert, von der Verschwommenheit des Ideals einer allumfassenden Liebe loszukommen, ist seine Abwendung von der Realität, die ihn verwirrt und frustriert. So kann er sein Ideal nie konkret fassen und verbleibt trotz der Erkenntnis, sich etwas vorzumachen in romantischen, mystischen Vorstellungen befangen.

Siehe auch:
54. Internationale Filmfestspiele Berlin - Teil 1
(5. März 2001)
"Ein unheilbar Kranker in einer kranken Welt?" Der Film "England" von Achim von Borries
( 12. Oktober 2001)
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