Eroberung Falludschas

USA im Tötungsrausch

Die Ausstrahlung eines Videofilms von einem US-Marinesoldaten, der in einer Moschee in Falludscha einen verletzten und unbewaffneten Iraker aus nächster Nähe erschießt, hat überall im Nahen Osten Empörung hervorgerufen und die amerikanische Armee erneut in eine Krise gestürzt.

Der betreffende Soldat wurde von seiner Einheit suspendiert, während das Pentagon eine offizielle Untersuchung einleitete, um zu klären, ob die Tötung ein Kriegsverbrechen war.

"Wir respektieren die Gesetze des bewaffneten Konflikts und legen dabei Wert auf einen hohen Standard", sagte Generalleutnant John Sattler, der Kommandant der 1. Eingreiftruppe der Marines.

Bitte, General, verschonen Sie uns. Diese Tötung war nur deshalb etwas Besonderes, weil sie zufällig von der Kamera eines "eingebetteten" Reporters eingefangen wurde. Zu solchen Aktionen kam es während der Eroberung von Falludscha ständig, und die Verhaltensrichtlinien beschränkten sich im Wesentlichen auf die Anweisung: "Macht alles nieder, was sich bewegt".

Einmal mehr - wie bei der Folterung irakischer Gefangener in Abu Ghraib - wird das Pentagon einen jungen Soldaten zum Sündenbock machen. Man wird die Enthüllung dieses einen Schusses benutzen, um zu verschleiern, dass die gesamte Falludscha-Operation ein einziges gigantisches Kriegsverbrechen darstellt, begangen im Namen des Weißen Hauses und mit aktiver oder stillschweigender Unterstützung des gesamten amerikanischen Establishments.

Die Zerstörung Falludschas zeigt der Welt die hässliche Fratze des US-Militarismus und wirft gleichzeitig beunruhigende Fragen über den Zustand der amerikanischen Gesellschaft auf.

In dieser Operation verbanden sich die Rachebegierde der Bush-Regierung - in der Stadt waren im April vier US-Söldner getötet worden - und eine kaltblütige, exemplarische Strafaktion mit dem Ziel, jeden einzuschüchtern, der sich gegen die US-Besatzung des Iraks auflehnt.

Heute liegt Falludscha in Trümmern. Während die US-Armee behauptet, bis zu 2.000 "Aufständische" getötet zu haben, ist die wirkliche Zahl und Identität der Toten nicht so leicht festzustellen. Die US-Streitkräfte haben auf Gewehrfeuer aus Häusern und anderen Gebäuden mit Artilleriebeschuss, 2.000 Pfund-Bomben, Luft-Boden-Raketen und Salven aus Panzerkanonen geantwortet. Häuser, Wohnblöcke und fast jede zweite der 120 Moscheen der Stadt wurden auf diese Weise zerstört oder schwer beschädigt.

Laut Augenzeugenberichten liegen überall in den Straßen Leichen, an denen halbverhungerte Hunde nagen. Eltern waren gezwungen, hilflos zuzuschauen, wie ihre verwundeten Kinder starben, und konnten deren Leichen anschließend höchstens im eigenen Garten beerdigen. Laut einem glaubhaften Bericht mähten US-Soldaten eine ganze fünfköpfige Familie mit einem Maschinengewehr nieder, als sie versuchte, den Euphrat zu durchschwimmen, um dem Kampfgeschehen zu entfliehen.

In Falludscha wurde rund um die Uhr ein Ausgehverbot verhängt. Zurückgebliebene Zivilisten wurden angewiesen, in ihren Häusern zu bleiben, wenn sie nicht den nahezu sicheren Tod durch amerikanisches Feuer riskieren wollten. Aber was geschah, wenn sie zu Hause blieben? Da die Medien melden, mindestens zehn Prozent der Häuser seien dem Erdboden gleichgemacht worden, kann man nicht wissen, wie viele Leichen unter dem Schutt und den Trümmern liegen. Es wird auch berichtet, US-Soldaten hätten mit Wärmekameras festgestellt, ob noch Leben in den Häusern sei. Entdeckten sie welches, schlossen sie auf die Gegenwart von "Aufständischen" und reagierten mit tödlichem Sperrfeuer.

Die durch amerikanische Bomben, Raketen und Granaten Verwundeten ließ man einfach sterben. Die medizinischen Einrichtungen der Stadt waren das erste Ziel der Offensive. Das Hauptkrankenhaus der Stadt wurde von Spezialtruppen eingenommen. Eine andere städtische Klinik wurde bombardiert, wobei Dutzende Ärzte, Krankenpfleger und Patienten umkamen.

Eine humanitäre Katastrophe

Falludscha steht vor einer humanitären Katastrophe. Die in der Stadt verbliebene Bevölkerung ist schon seit einer Woche ohne Strom oder Trinkwasser, und Nahrungsmittel sind knapp geworden. Das wurde in den amerikanischen Massenmedien vollständig ausgeblendet. Auch das Leiden der schätzungsweise 200.000 Flüchtlinge, die durch den Angriff auf Falludscha heimatlos wurden, interessiert die Medien nicht, obwohl diese Menschen die angeblichen Nutznießer der "Befreiung" durch die USA sein sollen.

Was haben die Einwohner von Falludscha und des übrigen Irak getan, dass sie so mörderisch-grausam behandelt werden? Gibt es etwas, das die Tötung so vieler Iraker rechtfertigen könnte, die kein anderes "Verbrechen" begangen haben, als in ihrem eigenen Land zu leben?

Die in die Stadt geschickten US-Soldaten sind mit der Lüge indoktriniert worden, die Besetzung des Irak sei Teil des "Kriegs gegen den Terrorismus", oder - emotionaler ausgedrückt - die Gewalt gegen die Bevölkerung des Landes lasse sich gewissermaßen als Rache für die Angriffe auf New York City und Washington vom 11. September 2001 rechtfertigen.

Das Ergebnis ist ein Blutbad. Laut einer Studie, die vor kurzem im britischen medizinisch-wissenschaftlichen Magazin The Lancet erschien, hat die US-Invasion in kaum zwanzig Monaten schon 100.000 gewaltsame Todesopfer gefordert. Das ist, als würde in diesem Land mit einer zehnmal kleineren Bevölkerung als Amerika alle anderthalb Wochen ein 11. September stattfinden.

Dabei hatten die Iraker, wie von verschiedenen US-Regierungsberichten und Untersuchungen bestätigt wurde, mit dem 11. September nicht das Geringste zu tun. Doch selbst wenn man die Lügen über den Irak außer Acht lässt, ist der "Krieg gegen den Terrorismus" eine trügerische Erfindung Washingtons, die der Begründung von langer Hand geplanter Militäraktionen dient. Die Pläne für den 11. September entstanden nicht in Bagdad, sondern im Zwielicht der amerikanischen Geheimdienste, die im Krieg gegen die sowjetischen Streitkräfte in Afghanistan islamisch-fundamentalistische Bewegungen unterstützten.

Während man den US-Soldaten befiehlt, Iraker zu töten, um den Terrorismus zu rächen, können sich die Hintermänner der Täter des 11. September, die in den Regimes von Saudi Arabien und Pakistan - beides enge Verbündete Washingtons im "Krieg gegen den Terrorismus" - und wahrscheinlich auch innerhalb der Bush-Regierung selbst sitzen, in Sicherheit wiegen.

Die angeblich allgegenwärtige Bedrohung durch den Terrorismus dient Washington als Vorwand, um den Einsatz militärischer Gewalt zu rechtfertigen und seine geostrategischen Interessen durchzusetzen, indem es die wichtigsten globalen Ölvorkommen unter seine Kontrolle bringt. Diese imperialistischen Motive werden auf der ganzen Welt klar verstanden.

Es gibt jedoch noch einen weiteren, besonders gehässigen Aspekt der US-Politik. Washington vermittelt den Eindruck, Amerika lasse sich von einer allgemeinen Wut gegen den Rest der Welt leiten und gehe gewaltsam gegen den Irak vor, um der ganzen Welt eine Lektion zu erteilen. Die US-Doktrin des Präventivkriegs bedeutet genau das: Wir können jedem von euch jederzeit dasselbe antun.

In den amerikanischen Fernsehnachrichten geben Militärkommandanten im Ruhestand und "eingebettete" Reporter den Ton an, die als Einpeitscher für die Kampfeinheiten auftreten, denen sie sich angeschlossen haben. Die Nachrichten erwecken den Eindruck, die Umsetzung dieser Wut in unbändige Gewalt sei nicht nur rechtmäßig, sondern vermittle auch ein gutes Gefühl.

Dass das Massaker an der unschuldigen Bevölkerung eines Landes, das über 5.000 Meilen weit weg liegt, als Mittel zur Stärkung der öffentlichen Moral und zur Förderung der nationalen Einheit eingesetzt werden kann, macht deutlich, dass die US-Gesellschaft an einer langen und tiefgehenden Degeneration leidet.

Historiker, die sich mit Hitler-Deutschland befassen, bemühen sich seit sechzig Jahren um eine Erklärung, was den Aufstieg eines solchen Regimes im technisch und kulturell fortschrittlichsten Land Europas möglich machte. Allen außer den oberflächlichsten, die alles auf die Person Hitlers schieben, stellt sich die Frage: Welche tiefen Widersprüche in der deutschen Gesellschaft brachten die mörderische Raserei des Nationalsozialismus hervor?

Während die Grausamkeiten des Hitler-Regimes ein anderes Ausmaß hatten, als jene, die jetzt von der Bush-Regierung verübt werden, gibt es doch unbestreitbare Parallelen. Erstmals seit der Verwüstung Europas durch die Wehrmacht erlebt die Welt wieder, wie eine imperialistische Großmacht einen unprovozierten Aggressionskrieg entfesselt, ein ganzes Land militärisch besetzt und kollektive Starfaktionen gegen die Zivilbevölkerung durchführt. Solche abscheulichen Taten müssen Wurzeln in Amerikas eigenen gesellschaftlichen Widersprüchen haben.

Es steht außer Zweifel, dass dieser Krieg der amerikanischen Bevölkerung mittels Lügen aufgezwungen wurde. Die Medien waren bei dieser Irreführung die wichtigsten Komplizen. In Anbetracht des politischen Umfelds und der Rolle der Medien ist es bemerkenswert, dass am Wahltag etwa 56 Millionen Menschen - knapp die Hälfte der Wähler - gegen Bush, und was für sie gleichbedeutend war, gegen den Irakkrieg gestimmt haben.

Obwohl sich Kerry öffentlich zur Fortsetzung der Besatzung und zu einem "Sieg" im Irak bekannt hatte, gab ihm die große Mehrheit seiner Wähler ihre Stimme, weil sie diesen Krieg beenden wollten. Diese weitverbreitete Stimmung ist ungewöhnlich, wenn man bedenkt, dass sie von keiner einzigen wichtigen Führungsperson der Demokratischen Partei und keinem prominenten Medienvertreter unterstützt wurde.

Auch unter den 59 Millionen Bush-Wählern gibt es eine ambivalente Haltung zum Krieg. Außerdem herrscht viel Verwirrung. Umfragen haben gezeigt, dass eine erhebliche Mehrheit dieser Wähler immer noch an die Lügen der Regierung über die nicht-existenten Massenvernichtungswaffen des Irak und seine Verstrickung in die Geschehnisse vom 11. September glauben.

Die gesellschaftlichen Wurzeln des Militarismus

Die unermüdlichen Bemühungen - von Republikanern und Demokraten - einen globalen "Krieg gegen Terrorismus" als wichtigste Frage für die amerikanische Bevölkerung hinzustellen, hat offensichtlich Wirkung gezeigt. Aber es tragen auch mächtige soziale und ideologische Kräfte dazu bei, dass selbst Teile der ärmsten Bevölkerungsschichten den amerikanischen Militarismus auf konfuse Weise akzeptieren.

Da sind als erstes die Interessen der Finanzoligarchie, die die US-Gesellschaft dominiert. Die Vermögen der Multimillionäre und Milliardäre Amerikas sind unlösbar mit Washingtons Streben nach Weltherrschaft und dem Einsatz militärischer Gewalt zur Sicherung der amerikanischen Dominanz über die Weltwirtschaft verbunden. Die Interessen der Spitze der Gesellschaft bilden die Grundlage für die vorherrschenden politischen, philosophischen und religiösen Ansichten, die der Bevölkerung über eine Vielzahl von Kanälen durch die Massenmedien und die Massenkultur vermittelt werden.

Außerdem spielt der Militarismus selbst eine objektive Rolle in der US-Gesellschaft. Schon der Präsident und ehemalige Spitzengeneral Dwight Eisenhower hatte bei seinem Ausscheiden aus dem Amt vor einem "übermäßigen Einfluss des militärisch-industriellen Komplexes" gewarnt. In den 43 seither vergangenen Jahren ist dieser Komplex weit über Eisenhowers schlimmste Befürchtungen hinaus gewachsen. Das US-Militärbudget beträgt inzwischen fast eine halbe Billion Dollar - mehr als das Budget der zwanzig nächstgrößten Militärmächte zusammengenommen.

Außer den über 2,5 Millionen Berufssoldaten und Reservisten gibt es Hunderttausende weitere Menschen, deren Jobs direkt von der Waffenindustrie abhängen, die nicht nur für die scheinbar unersättlichen Bedürfnisse des Pentagon arbeitet, sondern auch einer der profitabelsten Exportsektoren der US-Wirtschaft ist.

Zählt man noch all jene hinzu, die bei der sogenannten "Heimatschutzbehörde" beschäftigt sind - dazu gehören alle nationalen, staatlichen und kommunalen Polizeibehörden und die Legionen von Gefängniswärtern, die anderthalb Millionen eingesperrte Amerikaner bewachen - so kommt man auf eine beträchtliche Wählerschaft, deren gesellschaftliche Rolle sie für den "Krieg gegen den Terrorismus" mit all seinen Lügen empfänglich macht.

Es gibt noch ein weiteres Element, das weniger sichtbar, dafür aber widersprüchlicher ist. Eine Hauptfunktionen des Militarismus besteht darin, soziale Spannungen abzulenken, d.h. den Zorn der Bevölkerung über schlechte soziale Verhältnisse nach außen, gegen wirkliche oder erfundene äußere Feinde zu richten. Die Explosivität und Wut, mit denen der amerikanische Militarismus in der Weltarena ausbricht, wiederspiegelt das Ausmaß dieser Spannungen und den Umstand, dass es keinen politischen Mechanismus gibt, durch den sie ausgedrückt, geschweige denn überwunden werden können.

Die amerikanische Gesellschaft ist das Produkt der ungezügelten, weltweiten Entwicklung der freien Marktwirtschaft. Sie ist die weitentwickeltste Form der kapitalistischen Zivilisation - oder Un-Zivilisation. Ein darwinistischer Kampf ums Überleben beherrscht alle Aspekte des Lebens, während die Kluft zwischen der reichen Elite und den Massen der arbeitenden Bevölkerung weiter als in jedem andern kapitalistischen Land auseinander klafft.

Arbeiter werden als Wegwerfartikel behandelt und immer neuen Wellen von Betriebsschließungen und Massenentlassungen unterworfen, während die Manager an der Spitze der Konzerne Entschädigungspakete von vielen Millionen Dollar an sich raffen. Jeder Aspekt der Gesellschaft und alle ihre Mitglieder sind dem Profitstreben unterworfen.

Ein politisches System, das von zwei kapitalistischen Parteien beherrscht wird, die beide die Interessen der Konzerne und Finanzelite verteidigen, bietet weder eine Alternative noch die Möglichkeit, soziale Unzufriedenheit zu artikulieren. Einrichtungen, die in einer früheren Zeit eine solche Rolle spielten - die Gewerkschaften, Bürgerrechtsorganisationen, etc. - sind entweder zu leeren Hüllen verkommen oder direkt als Stützen der existierenden sozialen Ordnung integriert worden.

Die Regierung und die Medien haben während der gesamten Nachkriegszeit daran gearbeitet, den Antikommunismus zur Staatsideologie zu machen. Heute halten sie ein de-facto-Verbot von sozialistischen Anschauungen aufrecht. Sie bestehen darauf, dass es keine Alternative zu einer Gesellschaft gebe, die auf der Akkumulation des Reichtums durch eine schmale Oberschicht auf Kosten der breiten Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung beruht.

Unter diesen Bedingungen sind viele verzweifelte und verwirrte Leute für die nationalistische Hetzpropaganda und für den Hass empfänglich, der gegen äußere Feinde, die als Ursache von Amerikas Problemen dargestellt werden, geschürt wird. Diese Kampagne dient dazu, die Bevölkerung blind gegenüber den schrecklichen Verbrechen zu machen, die im Ausland in ihrem Namen begangen werden, und sie davon abzulenken, wie die herrschende Elite den Nationalismus benutzt, um ihre eigenen räuberischen Finanzinteressen durchzusetzen.

Dieselben tiefen gesellschaftlichen Widersprüche, die in der verbreiteten Resonanz des Militarismus einen vergifteten Ausdruck finden, können und geben auch einer völlig entgegengesetzten politischen Perspektive Auftrieb: der Opposition gegen die bestehende Gesellschaftsordnung, die durch Ungleichheit, Ausbeutung und massive Gewalt geprägt ist.

Diese Opposition finden im Rahmen der aktuellen amerikanischen Politik keinen Ausdruck. Sie kann sich nur in Verbindung mit einem sozialistischen und internationalistischen Programm für die Umformung der Gesellschaft im Weltmaßstab entwickeln.

Die Bedingungen, unter denen diese Perspektive ihren Weg in das Bewusstsein der Arbeitermassen finden, reifen schnell heran. Sie gibt ihnen ein Mittel, um ihre eigenen sozialen Interessen zu verwirklichen und den US-Militarismus ein für allemal abzuschaffen.

Siehe auch:
US-Soldaten nehmen Falludscha ein - der Aufstand breitet sich aus
(18. November 2004)
Deutsche Medien und Falludscha: Komplizen eines Kriegsverbrechens
( 12. November 2004)
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