Niederlande: 200.000 demonstrieren gegen Sozialabbau

In den Niederlanden haben am Samstag mehr als 200.000 Menschen gegen die von der christlich-liberalen Regierung unter Jan Peter Balkenende (CDA) geplanten sozialen Einschnitte demonstriert. Die Veranstalter, die 100.000 Menschen erwartet hatten, sprachen von einer Viertel Million Teilnehmern. Menschen aus dem ganzen Land folgten dem Protestaufruf der drei großen Gewerkschaftsverbände unter dem Motto: "Nederland verdient beter" (Die Niederlande verdienen Besseres).

 

Die Proteste am Samstag gelten als die größten gewerkschaftlichen Proteste in der Geschichte der Niederlande und als die größten Proteste seit den Massendemonstrationen gegen die Atomare Aufrüstung Anfang der 1980er Jahre.

Zur Demonstration hatten vor allem die drei größten niederländischen Gewerkschaftsdachverbände aufgerufen, FNV (mit mehr als einer Million Mitglieder), CNV (christlich) und MHP (mittlere und höhere Angestellte). Daneben unterstützten rund 500 weitere Organisationen und Parteien den Aufruf, die sich in dem Bündnis "Keer het Tij" ("Wendet das Blatt") zusammengeschlossen hatten.

Die Kürzungen, die von der Balkenende-Regierung bereits Anfang des Jahres angekündigt worden waren, werden - wie inzwischen in jedem Land - mit der mangelnden internationalen Konkurrenzfähigkeit des Landes begründet. Laut Finanzminister Zalm (VVD) sind in den Niederlanden die Arbeitskosten zu hoch und der arbeitende Bevölkerungsteil zu klein.

Betroffen von den Angriffen der Regierung sind vor allem Arbeitslose und Arbeiter. So soll die Arbeitsunfähigkeitsversicherung (WAO) nur noch für 100 Prozent Arbeitsunfähige gelten. Der Kreis derjenigen, die Anspruch auf die Arbeitslosenversicherung (WW) haben, soll stark beschränkt werden. Vor allem Junge sind die Leidtragenden.

Beim Frühverrentungsprogramm, das langfristig ganz abgeschafft werden soll, wird das Eintrittsmindestalter von 55 auf 57 erhöht, das Renteneintrittsalter steigt von 65 auf 66 oder sogar 67 Jahre.

Der Massenprotest in Amsterdam war der Höhepunkt einer Kampagne der Gewerkschaften, in deren Rahmen zuvor schon sechs Demonstrationen organisiert worden waren. Der erste Protest fand am 20. September in Rotterdam statt. Bereits dort kamen statt der erwarteten 30.000 rund 45.000 Menschen.

Begleitet wurden die Demonstrationen von Warnstreiks in den größten niederländischen Städten Amsterdam, Rotterdam, Den Haag, Utrecht, Eindhoven und Arnheim. Bis zu 90 Prozent der Beschäftigten in den Betrieben beteiligten sich an den Streiks.

Streiks im Transportwesen legten sowohl den innerstädtischen Verkehr als auch den landesweiten Bustransport lahm. Die niederländische Bahn wurde nicht bestreikt. An den Streiks beteiligten sich Krankenhaus- und Museumspersonal sowie Lehrer. In Rotterdam streikten die Hafenarbeiter. Auch die Feuerwehrleute beteiligten sich an den Demonstrationen und den Streiks.

Während die hohe Zahl der Beteiligten bei den Streiks und Demonstrationen die Wut und Empörung der Bevölkerung über die Regierungspolitik deutlich machen, sind die Gewerkschaftsfunktionäre vor allem darüber empört, dass die Regierung bei der Umsetzung von sozialen Einschnitten nicht mehr eng mit ihnen zusammenarbeitet. "Von dem berühmten,Poldermodell‘, wo Regierung, Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich einigen konnten, ist wenig übrig geblieben", klagt der FNV in einer Presseerklärung.

Noch im Herbst vergangenen Jahres hatten sich Gewerkschaften, Regierung und Wirtschaft auf einen zweijährigen Lohnstopp geeinigt. Mit den jetzigen Sozialkürzungen "nahm die Regierung die Grundlage aus dem Kompromiss, die Gehälter einzufrieren", so der Dachverband FNV. Er will daher gemeinsam mit den Arbeitgebern die Regierung wieder an den Verhandlungstisch drängen.

Die Demonstration in Amsterdam am Samstag war Teil dieser Strategie. Dies ließen sich die Gewerkschaften einiges kosten. Auf der Demonstration wurde von den Gewerkschaften teure Reklame und Werbung gemacht. Für die Hunderttausenden gab es nicht nur kostenlos Kaffee, Gebäck und Knabbereien. Tausende von Fahnen, T-Shirts, Caps, Schals, Stirnbändern, Pfeifen, Tröten, Aufklebern, Luftballons, Kugelschreibern, etc. wurden verteilt. Ständig kreisten drei bis vier Flugzeuge über dem Hauptkundgebungsplatz, die Banner der Gewerkschaften zogen: "Kabinettspläne: Asozial", "Jetzt ist es genug: Zeit für Aktion" und natürlich "Nederland verdient beter".

Bereits um 10 Uhr strömten Zehntausende auf den Dam Square, wo eine Auftaktkundgebung stattfand. Eine Stunde später waren der Platz und der Weg vom Hauptbahnhof völlig überfüllt. Hier sprachen vor allem Mitglieder des "Keer het Tij"-Bündnisses.

Fatma Özgümüs von der niederländischen Flüchtlingsorganisation berichtete über die geplante massenhafte Abschiebung von Flüchtlingen durch die Regierung. Flüchtlinge seien wie alle Armen Leidtragende der Sozialkürzungen. Sie rief zu einem gemeinsamen Kampf von Einwanderern und Einheimischen gegen die Kürzungen auf.

Kim Toering, Sprecherin der niederländischen Studenten, sprach über die Kürzungen in der Bildung. Die Ankündigung, bis zu 15.000 Euro Studiengebühren pro Jahr zu erheben, mache ein Studium nur noch für die Reichen möglich.

Nach einer Reihe weiterer Sprecher und kulturellem Rahmenprogramm setzten sich Zehntausende in Richtung Museumplein (Museumsplatz) in Marsch. Dort, auf dem größten Platz der Stadt, fand ab 12 Uhr die zentrale Kundgebung der Gewerkschaften statt. Es sprachen nur Vertreter der Gewerkschaften. Politiker der großen Parteien waren nicht als Sprecher zugelassen.

Der Museumplein war für die Menschenmassen zu klein. Auch hier waren schon um 10 Uhr Zehntausende gekommen. Als schließlich der Demonstrationszug vom Dam Square den Museumsplein erreichte, mussten Tausende in den Straßen rund um den Platz stehen.

Stimmen von Teilnehmern

Alle Teilnehmer, mit denen wir sprachen, waren einstimmig der Meinung, dass nach Jahren des Abbaus sozialer Errungenschaften jetzt "Schluss" sein müsse.

May Verbrugge aus dem Süden des Landes, die für ihren Arbeitgeber Konzepte für die Arbeit mit geistig behinderten Menschen entwickelt, brachte diese Haltung zum Ausdruck: "Es wird endlich Zeit, dass die Leute auf die Straße gehen. Die Regierung ergreift eine Maßnahme nach der anderen, hat aber keine andere Vision als nur immer weitere soziale Kürzungen für die Menschen. Anstatt weiter zu kürzen, muss alles sozialer werden.

Man jagt uns Angst ein, dass wir das nicht mehr zahlen können, uns dies und jenes nicht mehr leisten können, die Grenzen für Flüchtlinge geschlossen werden müssen. Das ist Unsinn. Die Niederlande sind ein reiches Land. Wir können noch viel gerecht teilen, dies wird nur nicht getan.

Es ist doch nicht richtig, dass Alte, die ihr Leben lang geschuftet haben, noch länger arbeiten müssen, und gleichzeitig viele junge Menschen keine Arbeit finden. Es besteht eine große Solidarität zwischen alten und jungen und zwischen ärmeren ungebildeten und mittleren gebildeteren Schichten [Einzelne Medien hatten die Proteste angegriffen, indem sie behaupteten, nur ungebildete Menschen würden sich daran beteiligen]. Alle sagen, jetzt ist Schluss. Und es muss auch endlich Schluss mit den Angriffen sein."

Peter van Vliet und Miriam Landard bemerkten: "Den Armen werden Kürzungen zugemutet, die Reichen werden verschont. Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst. Alles geht in Richtung USA."

Wie alle, mit denen wir sprachen, sahen sie keine Lösung im nationalen Rahmen. "Diese Demonstration und auch eine andere Politik in den Niederlanden wäre schon ein Anfang, aber es ist ein internationales Problem. Wir brauchen internationale Solidarität, denn es ist ein riesiges Problem, vor dem wir stehen."

Auch Bob Van der Mih, Arbeiter in einer Rollstuhlfabrik, sagte: "Die Lebenslage hier in den Niederlanden wird für die Arbeitenden immer schlechter. Während eine Schicht von Reichen immer reicher wird, werden die Armen immer ärmer. Das ist kein guter Zustand."

Bob berichtete: "Ich bin fünfundvierzig Jahre alt und mein Arbeitsplatz ist in Gefahr. Falls ich arbeitslos werde, wird die Situation unmöglich sein. Ich werde nur schwer einen neuen Arbeitsplatz finden und die Unterstützung für Arbeitslose wird gekürzt. Selbst für diejenigen, die einen festen Job haben, ist das Leben schon schwer.

Ich habe bisher noch an keiner Demonstration teilgenommen. Aber jetzt ist es soweit. Die Regierung ist diesmal zu weit gegangen. Da dachte ich mir, ich kann nicht einfach sitzen bleiben. Ich muss dagegen protestieren.

Ich bin der Auffassung, dass die Entwicklung hier in den Niederlanden ganz ähnlich überall in Europa und in anderen Teilen der Welt verläuft. Diejenigen, die davon betroffen sind und betroffen sein werden, brauchen daher eine gemeinsame politische Lösung."

Viele Teilnehmer der Demonstration, die an den Informationsstand der World Socialist Website kamen, kannten diese schon. Andere zeigten viel Interesse an den Flugblättern und politischen Perspektiven der WSWS. Die Diskussionen drehten sich nicht nur um die Sozialkürzungen in den Niederlanden, sondern auch um die Bedeutung des Irak-Kriegs und der amerikanischen Präsidentschaftswahlen.

Es war auffallend, dass fast alle, die mit den Vertretern der WSWS diskutierten, den Zusammenhang zwischen den sozialen Kürzungen in jedem Land und dem wachsenden Militarismus sahen, allen voran dem der USA, den die niederländische Regierung mit eigenen Truppen im Irak unterstützt. Die Bedeutung einer internationalen Zusammenarbeit der arbeitenden Bevölkerung war allgemeiner Konsens. Ein Demonstrationsteilnehmer brachte stellvertretend für viele die Diskussion auf den Punkt: "Das Problem in den Niederlanden ist, dass hier keine Partei oder Organisation existiert, die die Interessen der Armen und Arbeiter vertritt."

Siehe auch:
Das Ende des Asylrechts in den Niederlanden
(19. August 2004)
Niederlande: Staatsaufrüstung als Antwort auf wachsende Armut und Arbeitslosigkeit
( 6. Februar 2004)
Niederlande: Gewerkschaften stimmen zweijährigem Lohnstopp zu
( 5. November 2003)

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