Die internationale Krise des Kapitalismus und der Bankrott der "sozialen Marktwirtschaft"

Der folgende Text wird am 2. Oktober auf der bundesweiten Demonstration gegen die Hartz-IV-Gesetze in Berlin verteilt. Es kann auch als Flugblatt heruntergeladen werden.

Anderthalb Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der DDR und dem Fall der Berliner Mauer ist vom "Triumph des Kapitalismus" nichts mehr zu hören. Stattdessen nimmt die wirtschaftliche, soziale und politische Krise des kapitalistischen Systems immer schärfere Formen an.

Wer in den vergangenen Wochen darauf setzte, dass die Bundesregierung unter dem Druck der neuen Montagsdemonstrationen und Massenproteste gegen Hartz IV nachgeben und einen "Politikwechsel" vollziehen werde, wurde schnell eines Besseren belehrt. Weder Stimmenverluste bei Wahlen noch Demonstrationen und Protestkundgebungen werden sie davon abbringen, ihre geplanten Sozialkürzungen im Rahmen von Agenda 2010 und Hartz IV durchzuführen. Daran ließ die rot-grüne Bundesregierung in den vergangenen Wochen keinen Zweifel.

Hinter ihr steht eine geschlossene Front, die von der SPD und den Grünen über die Union und die FDP bis hin zu den Wirtschaftsverbänden, den Gewerkschaften, den Kirchen und sämtlichen Medien reicht. Bundespräsident Horst Köhler sprach für dieses ganze Kartell des Sozialabbaus, als er das Ende der Versprechungen verkündete und betonte, die soziale Ungleichheit solle nicht länger verheimlicht oder beschönigt, sondern müsse akzeptiert werden. Die PDS steht nur scheinbar außerhalb dieses Kartells. Sie solidarisiert sich zwar vor Ort mit den Protesten, setzt aber Hartz IV und alle anderen Sozialkürzungen überall dort in die Praxis um, wo sie selbst Regierungsverantwortung trägt.

Auch die Gewerkschaften und Attac spielen ein übles Doppelspiel. Sie kritisieren die Regierung, nutzen aber gleichzeitig ihren organisatorischen Einfluss, um den Widerstand auf niedrigstem politischen Niveau und im Rahmen von Trillerpfeifen-Protest zu halten, was zur Folge hat, dass sich die Demonstrationen totlaufen. Die Spitzen von IG Metall und Verdi stimmen mit Kanzler Schröder überein, dass es keine Alternative zur Agenda 2010 und Hartz IV gebe, und sabotieren die heutige Demonstration.

Die soziale Misere, die von Tag zu Tag schlimmer wird und immer mehr Menschen in Wut und Harnisch treibt, macht es notwendig, politisch Bilanz zu ziehen. Dazu ist es notwendig, der Realität ins Auge zu blicken.

Die Folgen der Globalisierung

Als erstes muss man sich damit konfrontieren, dass es keine Lösung im nationalen Maßstab und im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung gibt.

Wer heute behauptet, man könne den sozialen Niedergang stoppen, indem man zur Politik der sozialen Reformen von Willy Brandt zurückkehrt, ist entweder grenzenlos naiv oder ein bewusster Lügner. Aber genau darauf beschränken sich die politischen Rezepte von Oskar Lafontaine, der PDS, der "Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit", von Attac und vielen Gewerkschaftern.

In den letzten dreißig Jahren hat sich die Welt grundlegend verändert. Die herrschende Klasse hat auf die Wirtschaftskrise und die militanten Arbeitskämpfe der siebziger Jahre reagiert, indem sie nationale Regeln, Zoll- und Handelsschranken aufhob und sich Zugang zu billigen Arbeitskräften, Rohstoffen und internationalen Finanzmärkten verschaffte. Gleichzeitig begann sie eine pausenlose Offensive gegen die Rechte und Errungenschaften der Arbeiterbewegung.

Die Globalisierung von Produktion und Finanzmärkten hat allen nationalen Reformprogrammen den Boden entzogen. Sie ist der eigentliche Grund für den Zusammenbruch der Sowjetunion und der DDR. Gescheitert ist dort nicht der Sozialismus, sondern der Stalinismus - der Versuch einer privilegierten Bürokratie, im nationalen Rahmen eine staatlich gelenkte Produktion zu entwickeln. Die abgeschottete Wirtschaft dieser Länder konnte dem wachsenden Druck des Weltmarkts nicht standhalten. Eine sozialistische Gesellschaft kann nur im Weltmaßstab aufgebaut werden.

Aber auch die reformistischen Rezepte der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften sind angesichts der Globalisierung bankrott. Ganze Wirtschaftsbranchen - wie der IT-Sektor, die Autoindustrie, die Buchhaltung großer Konzerne und andere Dienstleistungen - können heute mit minimalem Aufwand in Niedriglohnländer verlagert werden. Selbst Branchen, die an den jeweiligen Ort gebunden sind, unterliegen dem globalen Wettbewerbsdruck. Lohnstreiks werden wirkungslos, wenn wenige Kilometer weiter - in Polen und in Tschechien - für dieselbe Arbeit nur ein Fünftel der Löhne bezahlt und in China und Indien für ein oder zwei Dollar am Tag gearbeitet wird. Und der öffentliche Dienst fällt dem Standortwettbewerb um niedrige Steuern zum Opfer.

Hartz IV ist kein Ostproblem. Was mit dem Angriff auf Langzeitarbeitslose begonnen hat, setzt sich mit der Erpressung der Belegschaften von Siemens, Daimler, Opel, VW und Karstadt/Quelle systematisch fort. Im Vergleich zu den USA und England findet der rabiate Angriff auf Löhne und soziale Errungenschaften in Deutschland mit Verspätung statt, dafür erfolgt er umso heftiger. Wer heute noch behauptet, die Globalisierung sei bloß Propaganda, steckt den Kopf in den Sand und verschließt die Augen vor der Realität.

Die SPD reagiert auf diese Entwicklung so, wie sie immer in Krisenzeiten reagiert hat: Sie stellt sich uneingeschränkt auf die Seite der Herrschenden. In den Jahren der rot-grünen Koalition hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich drastisch verschärft. Nach Angaben der Bundesbank ist das Durchschnittsvermögen der reichsten zehn Prozent seit Schröders Amtsantritt im Westen um 40 und im Osten um 100 Prozent gestiegen, das bescheidene Vermögen des ärmsten Viertels schrumpfte dagegen dramatisch.

Die historische Krise des Kapitalismus

Die wachsende internationale Konkurrenz lässt alle ungelösten historischen Probleme des 20. Jahrhunderts wieder aufbrechen. Als hätte es den Ersten und Zweiten Weltkrieg nicht gegeben, ist unter den Großmächten erneut ein Wettlauf um die Beherrschung der wichtigsten Energiequellen und die Kontrolle von Absatz- und Rohstoffmärkten entbrannt.

Der Irakkrieg hat schlagartig deutlich gemacht, dass sich das größte und einflussreichst westliche Land - die USA - aus einem Faktor der internationalen Stabilität zum wichtigsten Faktor der Instabilität verwandelt hat. Das Ziel des Kriegs bestand darin, den USA die Kontrolle über das Öl des Mittleren Ostens und eine unangreifbare globale Hegemoniestellung zu sichern. Stattdessen mündete der Krieg in ein Desaster, das selbst Vietnam in den Schatten stellt.

Die europäischen Regierungen reagieren darauf, indem sie ihrerseits aufrüsten und sich darauf vorbereiten, der amerikanischen Aggression durch Präventivkriege in eigener Regie zu entgegnen. Der Preis dafür zahlt die Bevölkerung.

Es ist diese historische Krise des Kapitalismus, die dem Trommelfeuer auf Löhne, Sozialleistungen und jede Art sozialer Absicherung zu Grunde liegt. Als die DDR zusammenbrach wurde behauptet, der Kapitalismus habe sich als das überlegenere Gesellschaftssystem erwiesen, weil er Freiheit und Demokratie mit wachsendem sozialen Wohlstand verbinde. Doch die Globalisierung der Produktion und die Krise des Kapitalismus im Weltmaßstab, die den stalinistischen Regimes den Boden entzog, hat auch das Ende der "sozialen Marktwirtschaft" eingeleitet.

Damit muss man sich konfrontieren und die politischen Schlussfolgerungen daraus ziehen.

Sozialistische Perspektiven

Die Arbeiterklasse muss sich der Unversöhnlichkeit ihrer elementaren Interessen mit dem gesamten politischen und gesellschaftlichen System bewusst werden. Sie muss die Lehren aus der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts ziehen und zu den sozialistischen Überzeugungen zurückkehren, die von der Sozialdemokratie und vom Stalinismus verfälscht und verraten wurden. Sie muss sich als Teil einer internationalen Klasse begreifen, die ihre Probleme nur gemeinsam lösen kann. Das wird sie in die Lage versetzen, sich vom lähmenden Einfluss der alten, bankrotten Organisationen zu lösen und als unabhängige Kraft ins politische Geschehen einzugreifen.

Das erfordert den Aufbau einer internationalen sozialistischen Arbeiterpartei. Dafür tritt die Partei für Soziale Gleichheit als deutsche Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale ein. Sie stützt sich dabei auf mächtige objektive Faktoren. Die Globalisierung der Wirtschaft hat nicht nur die stalinistischen Regime zum Einsturz gebracht und der "sozialen Marktwirtschaft" den Boden entzogen, sie hat gleichzeitig zu einem starken Anwachsen der Arbeiterklasse im Weltmaßstab geführt. Von den USA bis nach China, von Russland über Polen bis nach Frankreich sind die Klassengegensätze zum Zerreißen gespannt. Das wird zu einem Anwachsen revolutionärer Klassenkämpfe im Weltmaßstab führen.

Unter diesen Bedingungen gewinnt die Perspektive der "Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa" große Bedeutung. Die Überwindung der europäischen Grenzen und die gemeinsame Nutzung der enormen technischen und kulturellen Ressourcen und materiellen Reichtümer des Kontinents würde die Voraussetzungen schaffen, um die Probleme von Armut und Rückständigkeit in kurzer Zeit zu überwinden und das allgemeine Lebensniveau in ganz Europa anzuheben. Das ist allerdings nicht möglich, solange der Einigungsprozess von den Profitinteressen der Wirtschaft bestimmt wird. Eine fortschrittliche Einigung Europas setzt voraus, dass sich die europäische Arbeiterklasse politisch zusammenschließt. Die arbeitende Bevölkerung Osteuropas und der Türkei sind wichtige Verbündete im Kampf gegen die Kapitalinteressen, die den Kurs der EU bestimmen.

Mit der World Socialist Web Site verfügt die Vierte Internationale über ein wichtiges Werkzeug zum Aufbau einer internationalen marxistischen Partei. Wir rufen alle Interessierten auf, unsere Analysen und Berichte zu verfolgen, Leserkreise der WSWS zu gründen und der Partei für Soziale Gleichheit beizutreten. Kommt am 10. Oktober zur Veranstaltung mit David North. Diskutiert mit dem Chefredakteur der World Socialist Web Site über das Desaster der amerikanischen Kolonialpolitik im Irak, die Bedeutung der US-Präsidentschaftswahlen und die Aufgaben der internationalen Arbeiterklasse.

(auch als PDF-Flugblatt)

Siehe auch:
Hartz IV und die internationale Krise des Kapitalismus
(28. August 2004)
Die Montagsdemonstrationen: 1989 und heute
( 20. August 2004)
Wie weiter im Kampf gegen Hartz IV?
( 14. August 2004)
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