Konflikte um braune Vergangenheit im Auswärtigen Amt

Mit der fristlosen Entlassung eines hochrangigen Karrierediplomaten haben die heftigen Auseinandersetzungen um die braune Vergangenheit des Auswärtigen Amtes ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Auf Antrag von Außenminister Joschka Fischer versetzte Bundespräsident Horst Köhler am Donnerstag Frank Elbe, den deutschen Botschafter in der Schweiz, mit sofortiger Wirkung in den Ruhestand. Elbe hatte den Außenminister in einem Brief heftig angegriffen, weil dieser die Ehrung von Diplomaten unterbunden hatte, die während des Nazi-Regimes Mitglied in Hitlers NSDAP gewesen waren.

Elbes Brief war gezielt darauf angelegt, einen Eklat auszulösen. Er warf der Amtsleitung miserables Krisenmanagement, "bürokratische Schlampigkeit und ein Mangel an politischer Empfindsamkeit" vor und wurde umgehend in der Bild -Zeitung sowie anderen rechten Presseorganen veröffentlicht.

Elbe, der im Mai 64 wird und kurz vor dem Pensionsalter steht, blickt auf eine lange politische Karriere zurück. Er ist Mitglied der FDP, leitete viele Jahre das Büro von Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP), war Chef des Planungsstabes im Auswärtigen Amt und galt als Kandidat für einen Minister- oder Staatssekretärsposten, falls die FDP an die Regierung zurückkehren sollte. Er bekleidete die wichtigen Botschafterposten in Neu-Delhi, Tokio und Warschau, bevor er unter Fischer in die eher unbedeutende Vertretung in Bern abgeschoben wurde.

Die Auseinandersetzung über die Gedenkpraxis für verstorbene Diplomaten erhitzt seit zwei Jahren die Gemüter im Auswärtigen Amt und hat zu einer regelrechten Rebellion gegen den Außenminister geführt. Mittlerweile herrscht "ein Klima von Verbitterung, Misstrauen und Intrige, wie es selbst altgediente Diplomaten nicht erlebt haben", berichtet der Spiegel in der Ausgabe vom 4. April. "Der Dienstherr verzeichnet einen rapiden Autoritätsverlust. Ihm droht offensichtlich die Kontrolle über sein Ministerium zu entgleiten, das zusehends einem verminten Gelände gleicht."

Die Auseinandersetzung begann mit einem Nachruf auf den deutschen Generalkonsul a.D. in Barcelona, Franz Nüsslein, der Mitte 2003 in der Hauspostille internAA erschien. Eine mittlerweile ausgeschiedene Mitarbeiterin des Auswärtigen Amtes machte Fischer auf Nüssleins Biographie und seine Mitgliedschaft in der NSDAP aufmerksam. Fischer entschied daraufhin im September 2003, dass Diplomaten, die Mitglieder der NSDAP gewesen waren, in der hausinternen Zeitschrift nicht mehr durch einen Nachruf geehrt werden.

Zum Präzedenzfall wurde dann im Oktober 2004 der Tod des Botschafters a.D. Franz Krapf, dem als ehemaliges NSDAP-Mitglied eine posthume Ehrung in der internAA verweigert wurde.

Zunächst liefen nur ehemalige Diplomaten und Staatssekretäre dagegen Sturm. Über hundert von ihnen schalteten Anfang dieses Jahres eine Todesanzeige in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in der sie ihr "ehrendes Andenken" zum Ausdruck brachten. In konservativen Tageszeitungen wie der Welt, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und dem rechten Boulevardblatt Bild meldeten sich zudem mehrere Ehemalige persönlich zu Wort.

Der Diplomat a.D. Paul Verbeek sagte in der FAZ, dass Fischer "einen Mangel an Geschichtskenntnissen und ein Maß an ideologischer Verblendung" offenbare, "die für einen deutschen Außenminister erschreckend sind". Die Diplomaten a.D. waren sich dabei der Vergangenheit von Krapf durchaus bewusst, zum größten Teil waren sie selbst Mitglieder der NSDAP gewesen.

Wie bereits in der Visa-Affäre, in der Fischer reumütig Fehler eingestand, ging der Außenminister seinen Widersachern auch hier einen Schritt entgegen. Am 17. März teilte er in einem Rundbrief an die Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes mit, dass es zukünftig in der internAA überhaupt keine Nachrufe mehr geben werde, sondern nur noch bloße Todesnachrichten.

Dieses Einknicken ermutigte offenbar auch amtierende Diplomaten, sich öffentlich an der Kampagne gegen ihren Vorgesetzten zu beteiligen. Siebzig Botschafter und Mitarbeiter unterzeichneten einen offenen Brief, der gegen die Nachrufpraxis protestiert und Fischer "anmaßende Selbstüberschätzung" vorwirft. Der Brief sollte in der internAA erscheinen, ist aber bisher nicht veröffentlicht worden.

Mit seinem Brief an Fischer, den er gleichzeitig per E-Mail an vierzig weitere Adressaten sandte, macht Elbe dann die Auseinandersetzung endgültig publik. Wenige Tage vorher hatte FDP-Fraktionschef Wolfgang Gerhardt die Diplomaten aufgerufen, ihrem Unmut über Fischers Politik Luft zu machen.

Die braune Kontinuität im Auswärtigen Amt

Elbes Brief beginnt mit einem Plädoyer für den verstorbenen Botschafter a.D. Krapf, den er in den höchsten Tönen lobt. Es handle sich um einen "geachteten Kollegen", dem "ein ehrendes Gedenken für seine Verdienste im Amt und für die Bundesrepublik Deutschland verweigert" werde, klagt er.

Dann folgt ein erstaunlicher Absatz. "Es gehört zur Tradition des Abendlandes, die Toten zu ehren und nichts außer Gutes über sie zu sagen", behauptet Elbe und meint, dass Fischers Erlasse "Zweifel aufkommen lassen, dass wir nicht zwischen anständigen und vermeintlich kompromittierten Mitarbeitern des Auswärtigen Amtes unterscheiden können".

"Vermeintlich" kompromittierte Mitarbeiter? Wirklich kompromittierte gibt es nach Elbes Auffassung offenbar nicht, und wenn doch, so soll man "nichts außer Gutes über sie sagen". Ob das auch auf Nüsslein zutrifft, an dem sich die Affäre entzündet hatte, erklärt er nicht. Über den rechtskräftig verurteilten Kriegsverbrecher verliert sein Brief kein Wort. Dabei ist das Auswärtige Amt ein Hort der braunen Kontinuität.

"Kein anderes Ministerium hat Nazi-Tradition so fortgesetzt wie das Auswärtige Amt", bemerkt dazu Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung. "Hier war nicht nur nationale Noblesse, sondern braune Tradition zu Hause. Zum feinen Ton im diplomatischen Dienst gehörte lange Zeit das feste Beschweigen. Fast jedes größere private Unternehmen hat Historikerkommissionen eingesetzt, die sich mit seinem Verhalten im Dritten Reich beschäftigt haben. Das Auswärtige Amt aber tat so, als habe es dies nicht nötig."

Nicht zuletzt wegen der persönlichen Beteiligung zahlreicher Mitarbeiter an der NS-Herrschaft hat es im Auswärtigen Amt nie eine Aufarbeitung der Vergangenheit gegeben. Ehemalige NSDAP-Mitglieder fanden sich zudem nicht nur unter den Mitarbeitern des Amtes, auch die Außenminister Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher, beide FDP, hatten der Nazi-Partei angehört. Eine von Scheel 1971 angeregte Untersuchung über die Vergangenheit des Auswärtigen Amtes ist nie durchgeführt worden.

Bereits 1952 war eine Debatte über die politische Vergangenheit der Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes entbrannt. Der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) musste damals zugeben, dass zwei Drittel der höheren Beamten ehemalige NSDAP-Mitglieder waren, wesentlich mehr als in anderen Ministerien, wie der Osnabrücker Historiker Hans-Jürgen Döscher recherchiert hat. Bei den Referatsleitern waren sogar vier Fünftel altgediente Nazis.

Der Organisationsplan des Ministeriums wies 1951 nur unwesentliche Differenzen zu 1936 auf. Die Zahl ehemaliger NSDAP-Mitglieder war nach 1945 sogar höher als die Zahl der aktiven Parteimitglieder im Jahr 1939. Während ehemalige Nazis keine Probleme hatten, ihre Karriere fortzusetzen, wurden Diplomaten wie Fritz Kolbe, der unter Lebensgefahr Dokumente über den Völkermord in Auschwitz in die Schweiz brachte, um die Alliierten wachzurütteln, als Nestbeschmutzer betrachtet und nicht wieder in den Diplomatischen Dienst aufgenommen.

Adenauer verließ sich auf die ehemaligen Nazis, weil er, so Döscher gegenüber der Financial Times Deutschland, schnell ein funktionsfähiges Amt haben wollte und auf die stramm anti-kommunistische Haltung der NSDAP-Mitglieder vertraute, um die Westanbindung der jungen Bundesrepublik gegen die Opposition durchzusetzen.

Während das Auswärtige Amt seine braune Vergangenheit vertuschte, betrieb es eine ganz eigene Form der "Vergangenheitsbewältigung". Es hat, wie Heribert Prantl unter Berufung auf den Freiburger Historiker Ulrich Herbert schreibt, "über viele Jahre hin auch als eine Art Zentralstelle zum ‚Raushauen’ von NS-Leuten aus ausländischen Gefängnissen und als Frühwarnsystem für NS-Verbrecher fungiert, die in Abwesenheit im Ausland verurteilt worden waren".

Franz Nüsslein, der im Herbst 2003 von internAA noch voller Lob und Anerkennung geehrt wurde, ist sicherlich ein krasses Beispiel für die Verstrickung bundesdeutscher Diplomaten in die Verbrechen des NS-Regimes. Er ist aber kein Einzelfall.

Nüsslein war nicht nur NSDAP-Mitglied der frühen Stunde, sondern unter dem Stellvertretenden Reichsprotektor und SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich auch Oberstaatsanwalt in Prag im deutschen Protektorat Böhmen und Mähren. In tschechischen Archiven finden sich Hunderte Todesurteile, die den Namen Nüssleins tragen.

Einer der engsten Mitarbeiter Hitlers, Martin Bormann, hob in einem Schreiben an die NSDAP-Parteikanzlei hervor, "dass Dr. Nüsslein bei der Handhabung des Kriegsstrafrechts und bei der Durchführung der politischen Strafsachen besonderes Verständnis für die Notwendigkeit einer entschlossenen Bekämpfung der Rechtsbrecher und Staatsfeinde bewiesen hat". Der Brief wurde vom ZDF-Fernsehmagazin Frontal21 zitiert.

Nüsslein war seinem Vorgesetzter Heydrich offensichtlich treu ergeben. Heydrich war bis zu seinem Tod 1942 an der Planung und Durchführung der Vernichtung der Juden beteiligt. Die Ghettoisierung der Juden in Polen geht ebenso auf ihn zurück, wie Massenexekutionen von Kommunisten in der Sowjetunion.

Nüsslein selbst wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von den USA an die Tschechoslowakei ausgeliefert und dort 1948 wegen seiner Kriegsverbrechen zu 20 Jahren Gefängnishaft verurteilt. Er kam jedoch bereits nach sieben Jahren frei und wurde in die Bundesrepublik überführt. Dort erhielt er eine Haftentschädigung und machte erneut Karriere, diesmal im Auswärtigen Amt. Nüsslein wurde Generalkonsul in Barcelona, nicht zuletzt aufgrund seiner ideologischen Nähe zum faschistischen Franco-Regime.

Auch der von Elbe gepriesene Franz Krapf weist eine eindeutig braune Biografie auf. Er wurde zwar erst 1936 NSDAP-Mitglied, war aber bereits im Mai 1933 in die SS eingetreten. Gleichzeitig mit seinem Eintreten in den Auswärtigen Dienst 1938 wurde er zum SS-Untersturmführer befördert und inoffizieller Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes der SS. Der SS-Sicherheitsdienst war dem Reichssicherheitshauptamt angeschlossen und ein wichtiges Werkzeug des NS-Terrorregimes. Zwischen 1940 und 1945 war Krapf als Legationssekretär und Attaché bei der deutschen Botschaft in Tokio und als Informant des Sicherheitsdienstes tätig.

Der Historiker Ulrich Herbert erklärte dazu gegenüber Frontal21 : "Mitglied der SS und in diesem Fall der (...) Reiter-SS - das ist schon eine sehr spezifische Variante, da bedarf es einer doch erheblichen Nähe zum Regime."

Doch Krapfs Beteiligung an den Nazi-Verbrechen wird systematisch geleugnet. Der Bild- Kolumnist Graf Nayhauß verharmlost Krapfs Mitgliedschaft in der Reiter-SS, indem er zynisch unterstellt, dieser sei nur wegen seiner Liebe zum Pferdesport dort eingetreten. Die FAZ, die die Attacken der Diplomaten gegen Fischer unterstützt, blendet die Vergangenheit von Krapf fast völlig aus, während die CDU/CSU-Bundestagsfraktion in einer Presseerklärung seine Nachkriegsverdienste würdigt, seine Beteiligung an den NS-Verbrechen als "Jugendsünden" beiseite schiebt und darauf verweist, dass er nach dem Krieg durch eine Spruchkammer "entlastet" worden sei.

In der Tat konnte Krapf nach 1945 schnell wieder Karriere machen. Nach seinem Eintritt in das Auswärtige Amt 1950 war er zunächst in der Politischen Abteilung beschäftigt und wurde danach Ständiger Vertreter des deutschen NATO-Botschafters. Er war Gesandter der deutschen Botschaft in den USA, Leiter der Politischen Abteilung II des Auswärtigen Amtes, Botschafter in Tokio - wie bereits während des Zweiten Weltkriegs - und schließlich von 1971-1976 Botschafter bei der NATO.

Hintergrund der Auseinandersetzungen

Als Joschka Fischer 1998 an die Spitze des Auswärtigen Amtes trat, war er sich über dessen braune Vergangenheit durchaus bewusst. Die 68er Protestbewegung, aus der seine Grüne Partei hervorgegangen war, hatte sich ausführlich mit dem Thema befasst. Aber Fischer dachte ebenso wenig wie seine Amtsvorgänger daran, den braunen Flecken aus der Vergangenheit nachzuspüren. Er bemühte sich vielmehr darum, das Vertrauen der standesbewussten Diplomatenkaste zu erwerben.

Der diplomatische Dienst hatte sich nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 jahrzehntelang fast ausschließlich aus Angehörigen des preußischen Adels rekrutiert. Er hasste die Weimarer Republik und warf sich Hitler an den Hals, um die eigenen Weltmachtsansprüche zu befriedigen. Auch wenn die Anzahl der Diplomaten mit Adelstitel zurückgegangen ist, hat sich im Auswärtigen Amt bis heute eine auch ideologisch relativ homogene Personalstruktur gehalten.

In seiner ersten Ansprache vor den versammelten Diplomaten schmeichelte ihnen Fischer mit den Worten, er sei ein Mensch, der gern lerne. Er freue sich, den reichen Erfahrungsschatz des Amtes zu nutzen. Er versicherte ihnen, für ihn zähle nicht die Weltanschauung, sondern nur "Kompetenz und Loyalität". "Es gibt keine grüne Außenpolitik, sondern nur eine deutsche", lautete eine andere Formel Fischers aus jener Zeit.

Fischer musste zudem stets fürchten, dass ihm sein Vergangenheit als anarchistischer Straßenkämpfer vorgehalten wird, sollte er den konservativen Diplomaten zu nahe treten. Zu Beginn seiner Amtszeit gab es solche Versuche, die ihre Wirkung nicht verfehlten. So veröffentlichte der Stern damals Bilder eines vermummten Demonstranten, bei dem es sich angeblich um Fischer handelte, und es kursierten Gerüchte, Fischer sei an einem lebensbedrohenden Angriff auf einen Polizisten beteiligt gewesen. Doch diese Versuche wurden bald wieder eingestellt, als Fischer das Amt ganz im Sinne der traditionellen deutschen Diplomatie führte.

Auch jetzt sind wieder Anspielungen auf Fischers Vergangenheit aufgetaucht. Laut Spiegel haben die Diplomaten ihren offenen Brief mit dem Satz verziert: "Wer von euch ohne Fehler ist, der werfe den ersten Stein". Und der CDU-Abgeordnete Michael Hennrich äußerte, "dass der heutige Außenminister eine sehr militante Vergangenheit hat. Anderen Menschen wirft der Minister aber immer wieder ihre Vergangenheit vor."

Die Rebellion im Auswärtigen Amt und der ungewöhnlich scharfe Angriff des jetzt geschassten Botschafters Elbe auf den Außenminister zeigen, dass ein großer Teil der Diplomatenkaste heute nicht mehr hinter Fischer und der Regierung Schröder steht. "Es darf unterstellt werden, dass die Attacke kalkuliert war, und dass sie nicht nur der Gedenkpraxis galt", kommentierte die Süddeutsche Zeitung den Brief Elbes. "Das Auswärtige Amt ist längst gespalten, weil viele Diplomaten die Außenpolitik der Regierung Schröder mit Unbehagen sehen.... Elbe wollte keine Dinge klären - er wollte zum Ende seiner Karriere noch einmal eine politische Botschaft aussenden, die mehr über die Zustände der deutschen Außenpolitik verrät als über das Unbehagen eines einzelnen Botschafters."

Die Auseinandersetzung um die Ehrung ehemaliger NSDAP-Mitglieder ist nur der vordergründige Anlass für den Konflikt. Ja, dass der Umgang mit der Vergangenheit zu einer derart wichtigen Frage wird, ist selbst ein Ergebnis grundlegender Veränderungen in der deutschen Außenpolitik. Diese bemüht sich seit der Wiedervereinigung und verstärkt seit dem Irakkrieg darum, wieder als eigenständige Weltmacht ins internationale Geschehen einzugreifen. Die Forderung nach einem permanenten Sitz im UN-Sicherheitsrat, einst nur verschämt hinter vorgehaltener Hand geäußert, wird heute offen und lautstark vertreten. Deutsche Soldaten, einst strikt auf die Landesverteidigung beschränkt, sind heute überall auf der Welt im Einsatz. Und sowohl in der EU wie in der Nato verfolgt Deutschland zunehmend egoistisch seine eigenen Interessen.

Das aggressive Eintreten für deutsche Interessen erzeugt Gegendruck. Unter diesen Umständen können sich ungeklärte Fragen aus der Vergangenheit zu einem ernsthaften außenpolitischen Problem entwickeln. Das haben die Auseinandersetzungen um die Zwangsarbeiterentschädigungen ebenso gezeigt, wie die jüngsten antijapanischen Massendemonstrationen in China, die sich an der Verharmlosung japanischer Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs entzündeten. Daher Fischers plötzliches Vorgehen gegen eine Gedenkpraxis, von der er seit Beginn seiner Amtszeit gewusst haben muss - schließlich hängen die Bilder der Geehrten in den Fluren seines Amtes.

Die Diplomatenkaste zeigt sich gegenüber einer aggressiveren imperialistischen Außenpolitik keineswegs abgeneigt. Aber es gibt eine Reihe von Gründen, weshalb sie den Kurs der Regierung Schröder-Fischer ablehnt.

Da ist zuerst der Umstand, dass das Kanzleramt die außenpolitische Initiative immer stärker an sich gezogen hat - unter Umgehung des Auswärtigen Amtes. Ein Vorwurf gegen Fischer lautet (in den Worten des CDU-Außenpolitikers Wolfgang Schäuble), er habe sich von Schröder "entmachten" lassen.

Der Kanzler arbeitet eng mit den Spitzen der großen Konzerne und Wirtschaftsverbände zusammen, die ihn auf seinen zahlreichen Auslandsreisen ständig begleiten. Seine eng an wirtschaftlichen Interessen ausgerichtete Außenpolitik stößt dabei vielfach auf Kritik. Das enge Bündnis mit Putins Russland trifft ebenso auf Vorbehalte, wie die Bemühungen um eine Aufhebung des Waffenembargos gegen China und der Konfrontationskurs mit den USA.

Gerade weil Deutschland verstärkt als Weltmacht auftritt, verlangt das diplomatische Korps, in Bismarckscher Tradition gewohnt, mit einer gewissen Verachtung auf die Wirtschaftsvertreter herabzublicken, wieder seinen angestammten Platz. Elbes Brief appelliert ganz offen an den Korpsgeist der Diplomatenkaste, den er neudeutsch als "corporate identity" bezeichnet.

"Der Auswärtige Dienst verträgt keine Spaltung", heißt es dort. "Seine Angehörigen sind nur allzu häufig Krisensituationen ausgesetzt, die einen engen menschlichen Zusammenhalt erfordern. Die ‚corporate identity’ reicht im Auswärtigen Amt weiter als in einem auf Profit orientierten Wirtschaftsunternehmen. Der Zusammenhalt baut auf dem Respekt vor den menschlichen und professionellen Leistungen auf."

Weiter hat die Visa-Affäre die Autorität des Außenministers unterhöhlt. In den ersten Jahren seiner Amtszeit wurde Fischer von den Berufsdiplomaten weitgehend anerkannt. Aber die Kampagne um die Visa-Affäre, die sich nicht nur gegen den Minister richtete, sondern auch auf das Amt selbst abfärbte, hat ihn den Respekt vieler Beamten gekostet.

Zu diesen unmittelbaren Gründen kommt schließlich die allgemeine Krise und Orientierungslosigkeit der deutschen Außenpolitik hinzu. Sie gibt zu zahlreichen Konflikten und Spannungen Anlass, die sich quer durch die politischen Institutionen und Parteien ziehen.

Der Zeithistoriker Hans-Peter Schwarz, Professor an der Universität Bonn, beschreibt den "kritischen Zustand deutscher Außenpolitik" in seinem jüngsten Buch mit dem Titel "Republik ohne Kompass" wie folgt: "Der Westen löst sich auf und mit ihm jene festgefügten Strukturen, die der Bundesrepublik über ein halbes Jahrhundert hinweg Stabilität gaben. Das Vertrauen in Amerika ist erschüttert, die alte NATO nur noch eine historische Reminiszenz. Aber auch die hybrid erweiterte Europäische Union mit nunmehr fünfundzwanzig Mitgliedern, in der sich Deutschland dauerhafte Sicherheit versprochen hatte, ist aus dem Gleichgewicht geraten."

Die "derzeitige Orientierungslosigkeit der Berliner Außenpolitik" könne nicht nur der rot-grünen Bundesregierung angelastet werden, meint Schwarz. "In Wirklichkeit sind alle Parteilager ratlos."

Dann listet er "die großen Entscheidungsfragen" auf, die "so oder so" nach einer Antwort verlangen: "Wie gefährlich ist Amerika? Wie unentbehrlich? Kann aus der Europäischen Union eine neue Sicherheitsgemeinschaft werden? Oder sollten wir rasch auf ein ‚Kerneuropa’ zusteuern? Doch ist nicht auch Frankreich für uns ein Problemfall, darin den USA ähnlich? Soll die EU wie bisher uferlos erweitert werden - auch um die Türkei? Muss sich Deutschland wirklich in die unübersichtliche Krisenzone des Mittleren Ostens hineinstoßen lassen, wo überall die Pulverfässer herumstehen, wie einstmals auf dem Balkan der Jahrzehnte vor 1914? ... Überhaupt: Wie kann und wie soll Deutschland künftig seine wohlerstandenen Interessen definieren - national, europäische, global?"

Diese Fragen führen zwangsläufig zu heftigen Kontroversen und bilden den Hintergrund der Auseinandersetzungen im Auswärtigen Amt - wobei sich alle Lager in der grundlegenden Zielsetzung einig sind: Dass die imperialistischen Interessen Deutschlands energischer wahrgenommen werden müssen.

Siehe auch:
Vierzig Jahre nach dem Frankfurter Auschwitzprozess
(26. März 2004)
Die "Verbrechen" der 68er
( 27. März 2001)
Viel Lärm um Fischer: Die Debatte um die Vergangenheit des Außenministers
( 12. Januar 2001)
Visa-Affäre: Kampagne und Realität
( 12. März 2005)
Schröder fordert Weltmachtrolle für Deutschland
( 16. Februar 2005)
Loading