Irakische Parlamentarier verurteilen Anschlag auf Parlamentsmitglied

Ein Zwischenfall, der sich am 19. April in Bagdad ereignete, demonstriert recht anschaulich das wirkliche Verhältnis zwischen dem US-Militär im Irak und der neugewählten, angeblich "souveränen" irakischen Nationalversammlung. An einem Kontrollpunkt am Rand der "Grünen Zone", in der das Gebäude der Nationalversammlung liegt, schmiss ein US-Soldat einem Parlamentarier dessen Ausweis ins Gesicht, zerrte ihn aus seinem Wagen, legte ihm Handschellen an und schleppte ihn fort - vor den verblüfften Umstehenden.

Der angegriffene Parlamentarier Fatah al-Shaik hatte ein Bild des besatzungsfeindlichen schiitischen Klerikers Moktada al-Sadr an seinem Auto befestigt. Aus diesem Grund zögerte der amerikanische Soldat nicht, ihn - ob Parlamentsmitglied oder nicht - so zu behandeln, wie es US-Soldaten jeden Tag mit anderen Irakern tun.

Für die Mitglieder der Nationalversammlung, von denen sich bislang kaum einer genötigt fühlte, gegen die Ausgangssperren, Straßenblockaden und Razzien zu protestieren, die das Leben der gewöhnlichen Iraker dominieren, war die Art, wie mit einem der Ihren umgesprungen wurde, dann doch zu viel. Der Zwischenfall zeigte allzu deutlich, wer tatsächlich in Bagdad herrscht. Für US-Administration und US-Armee sind die Versammlungsmitglieder eine Vereinigung von Marionetten und Speichelleckern mit der Aufgabe, zu tun, was man ihnen sagt, und den in Washington gefällten Entscheidungen einen Anstrich von Legitimität zu verpassen.

Fast zwei Stunden lang wurde anschließend in der Nationalversammlung, deren Sitzungen live im ganzen Irak übertragen werden, über den Anschlag diskutiert. Einstimmig wurde eine Resolution angenommen, die eine offizielle Entschuldigung und die Bestrafung des betreffenden Soldaten verlangt.

Shaik ist Mitglied der Vereinigten Irakischen Allianz (VIA), der von Schiiten dominierten Koalition, die 140 der 275 Parlamentssitze innehat. Mit Tränen in den Augen rekapitulierte er, was sich ereignet hatte:

"Während ich heute morgen auf dem Weg in die Nationalversammlung war, wurde ich von US-Kräften überrascht, die mehrmals gegen mein Auto traten, das gemeinsam mit 15 anderen Autos darauf wartete, in die Grüne Zone durchgelassen zu werden. Ein US-Soldat schien speziell auf mein Auto angesetzt worden zu sein, da es das Bild Moktada al-Sadrs trägt.

Als wäre er durch das Bild angefeindet, stammelte der US-Soldat einige Worte auf Englisch, die ich nicht verstand. Als ich mein Parlamentarier-Abzeichen hervorholte und es ihm zeigte, schmiss er es mir ins Gesicht, öffnete die Autotür und zog mich heraus. Als ich dem anwesenden Dolmetscher sagte, ich sei ein Mitglied der Nationalversammlung, antwortete er:,Zur Hölle mit dir und der Nationalversammlung’.

Der Soldat drehte mir die Hände auf den Rücken, um mir Handschellen anzulegen. Er begann, mich zu schlagen und seinen Arm fest um meinen Hals zu legen. Dann zerrte er mich in einen nahegelegenen Raum, etwa zehn Meter entfernt.

Was mir widerfahren ist, stellt einen Angriff auf die gesamte, vom irakischen Volk gewählte Nationalversammlung dar. Es zeigt, dass die Demokratie, der wir uns erfreuen, eine Fälschung ist. Durch solche Vorfälle versucht die US-Armee zu demonstrieren, dass sie die wahre Macht im Lande ist und nicht die neue irakische Regierung," erklärte Shaik.

Der Vorfall ereignete sich vor den Augen von mindestens drei weiteren Versammlungsmitgliedern, von denen keiner Shaiks Darstellung im Parlament widersprach. Ali Yushuaa, ein Schiitischer Parlamentarier, sagte in derselben Sitzung: "Ich habe alles gesehen. Die Beleidigung wurde noch gesteigert, als irakische Soldaten mit ihren Gewehren auf Bruder Fatah zielten, während dieser von den Amerikanern misshandelt wurde."

Während der Sitzung verdammten Vertreter der größten Parteien und Fraktionen, die mit den amerikanischen Okkupatoren kollaborieren, nacheinander in demagogischer Manier das Vorgehen des amerikanischen Militärs.

Abd al-Khaliq Zanganah, Mitglied der Kurdischen Allianz, erklärte: "Nach der Genfer Konvention muss eine Besatzungsmacht die besetzte Nation respektieren. Der verantwortliche Soldat muss aus unserem Land geworfen werden." Ein Sunnitischer Parlamentarier verlangte, die amerikanischen Truppen sollten "in Kenntnis gesetzt werden, dass sie innerhalb von zwei Monaten - und nicht mehr - die Grüne Zone zu verlassen haben."

Falah Shnaishel von der VIA fragte: "Ist dies die Demokratie, auf die wir gehofft haben? Ist dies die Souveränität, von der wir den Massen erzählen?"

Sogar der in den USA erzogene Parlamentsvorsitzende Hachim al-Hassani, eine der offensten pro-amerikanischen Figuren im Irak, verurteilte den Zwischenfall. Er drohte, die Sitzungen des Parlaments auszusetzen, bis dieses ein neues Gebäude außerhalb der Grünen Zone erhalten habe und nur noch von irakischen Truppen geschützt werde. "Genug ist genug. Wir weisen jede Respektlosigkeit gegen Parlamentarier zurück."

Hintergründe

Die Hitze der Debatte spiegelt die Tatsache wieder, dass das Vorgehen der USA es den irakischen Politikern unmöglich macht, so zu tun, als habe die Versammlung (oder die Regierung, die sie bilden soll) irgendwelche unabhängigen Machtbefugnisse. Dass ein Parlamentsmitglied auf der Strasse herumgeschubst wird, unterstreicht in den Augen der irakischen Bevölkerung, dass die US-Invasion weit davon entfernt ist, ihr Demokratie zu bringen und ihr Land vielmehr zu einer amerikanischen De-facto-Kolonie gemacht hat. Wenige schenken der Behauptung Glauben, das Parlament sei "souverän". Die 150.000 ausländischen Soldaten im Land besitzen komplette Immunität vor dem irakischen Gesetz, während die irakischen Streitkräfte unter amerikanischem Befehl stehen.

Aus der von der Nationalversammlung angenommenen Resolution spricht auch die wachsende Desillusionierung unter den irakischen Parteien und Fraktionen, die mit den Besatzern kollaboriert haben.

Zwei Jahre nach der Invasion sehen sich die emigrierten Geschäftsleute, die kurdischen Nationalisten und die schiitischen Fundamentalisten, die geglaubt hatten, den Einmarsch der Amerikaner vor zwei Jahren für ihre eigenen Interessen nutzen zu können, mit der bitteren Wahrheit konfrontiert, dass die Bush-Administration ausschließlich die strategischen Interessen des US-Imperialismus und einer Handvoll transnational operierender Firmen wie KBR und Bechtel verfolgt. Was die irakischen Parteien angeht, so hat die Bush-Administration sie einfach gegeneinander ausgespielt und sie gleichzeitig gezwungen, von jeder Forderung Abstand zu nehmen, die mit US-Interessen kollidiert.

Den Kurdischen Nationalisten wird die Kontrolle über die Ölfelder des Nordens und die Stadt Kirkuk versagt, und um die Türkei und andere Staaten mit großen kurdischen Minderheiten zu besänftigen, werden die kurdischen Parteien unter Druck gesetzt, die Perspektive eines eigenen Staates so gut wie aufzugeben. Den schiitischen Parteien wird die Einführung islamischer Gesetze und die "De-Baathifizierung" in dem von ihnen gewünschten Ausmaß verwehrt, während sie gleichzeitig gedrängt werden, die Forderung nach einem Zeitplan für den Abzug der US-Truppen aufzugeben. Ein großer Anteil der sogenannten Ausgaben für den "Wiederaufbau" geht nicht in Bauprojekte oder Geschäftsmöglichkeiten für die irakische Elite, sondern wird benutzt, um die Masse von Sicherheitsfirmen zu bezahlen, die dem US-Militär bei der Unterdrückung des anhaltenden Widerstandes beistehen.

Das Ergebnis sind die Szenen, die sich am Dienstag im Parlament abspielten. Die irakischen Politiker äußerten ihre Frustration über die schlechte Behandlung durch den US-Imperialismus und versuchten, sich einen Rest von Glaubwürdigkeit zu bewahren, indem sie sich demagogisch über den brutalen und undemokratischen Charakter der - von ihnen selbst unterstützten - Okkupation beschwerten. Sie wissen, dass das Thema Misshandlungen durch US-Truppen bei Millionen Irakern auf Resonanz stößt. Zehntausende sind durch amerikanische Soldaten ebenso schlimm oder noch weit schlimmer als Shaik behandelt worden.

Das US-Militär reagierte wie immer, wenn seine Brutalität im Irak offenbar wird. Während man einerseits "Bedauern" aussprach, wurden andererseits Shaiks Anschuldigungen zurückgewiesen und eine völlig entgegengesetzte Version der Ereignisse präsentiert. Laut ersten amerikanischen "Nachforschungen" war Shaik selbst verantwortlich für den Zwischenfall, da er mit seinem Auto aus der Schlange herausgefahren sei, einen Mittelstreifen überquert habe und sich dem Kontrollpunkt auf der Gegenfahrbahn genähert habe. Angeblich sei er hierauf aus seinem Wagen gestiegen und habe eine "verbale und physische Auseinandersetzung" mit einem irakischen Dolmetscher angefangen. US-Truppenangehörige seien lediglich "eingeschritten" und hätten "geholfen, die Situation zu beruhigen", indem sie "Mr. Shaik kurzzeitig festgehalten" hätten.

Auch wenn es gegenwärtig noch nicht möglich ist, genau festzustellen, was wirklich geschehen ist, so lassen doch frühere Fälle vermuten, dass diese Geschichte ein primitiver Vertuschungsversuch ist. Im März beispielsweise eröffneten US-Truppen das Feuer auf das Fahrzeug der italienischen Journalistin Giuliana Sgrena. Ein italienischer Geheimdienstler wurde hierbei getötet, Sgrena verwundet. In direktem Widerspruch zu Augenzeugenberichten zweier überlebender Italiener behaupteten die Amerikaner hinterher, das Fahrzeug sei mit hoher Geschwindigkeit auf einen Kontrollpunkt zugefahren und habe wiederholte Aufforderungen durch US-Soldaten missachtet, anzuhalten.

Dem Anschlag auf Shaik und der Wut im irakischen Parlament wurde in den amerikanischen Medien bemerkenswert wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die New York Times und die Washington Post beispielsweise berichteten überhaupt nicht darüber. Dieses Schweigen ist verständlich. Die Ereignisse vom Dienstag passen nicht zur Propaganda des amerikanischen Establishments, der Irakkrieg bringe eine "demokratische Revolution" in den Mittleren Osten. Stattdessen haben als Reaktion auf den Vorfall sogar die flammendsten Unterstützer der Okkupation unter den Abgeordneten das Gerede von Demokratie als Heuchelei beschimpft.

Siehe auch:
Die Wahl im Irak verstärkt das politische Chaos
(11. Februar 2005)
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