Nach den Unruhen in Frankreich

Wachsende Verelendung in deutschen Stadtvierteln

Als nach dem Tod zweier Jugendlicher, die in dem Pariser Vorort Clichy-sous-Bois vor der Polizei flüchteten, am 27. Oktober gewalttätige Jugendunruhen in 250 französischen Städten ausbrachen, beeilten sich Wissenschaftler, Medien und Politiker in Deutschland zu versichern, dass eine solche Revolte hierzulande undenkbar sei. Dabei hat auch in Wohnquartieren deutscher Großstädte in den letzten dreißig Jahren ein enormer sozialer Niedergang stattgefunden. Die Armut und Jugendarbeitslosigkeit ist in einigen deutschen Stadtbezirken kaum geringer als in den sozialen Brennpunkten französischer Banlieus.

In Frankreich hat die Arbeitslosigkeit, Armut und Perspektivlosigkeit in den Vorstädten die Jugendlichen auf die Straße getrieben. Die Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich beträgt im Durchschnitt 23 Prozent, in den Trabantenstädten um die großen Zentren sogar 36 Prozent und mehr. Ein großer Teil der Familien lebt hier unter der Armutsgrenze.

In Deutschland, so hieß es bereits kurz nach Ausbruch der Unruhen, seien gewalttätige Auseinandersetzungen wie in Frankreich jedoch ausgeschlossen. Als Begründung wurden die angeblich hohen Sozialleistungen bemüht, die für einen gesellschaftlichen Ausgleich sorgten. Der Europaabgeordnete der Grünen Daniel Cohn-Bendit sagte der Berliner Zeitung : "Gettos wie in Frankreich gibt es hier nicht." Das soziale Netz, so Cohn-Bendit weiter, habe in der Bundesrepublik bisher funktioniert.

Der Sozialdezernent der Stadt Duisburg fügte in der Westdeutschen Allgemeinen hinzu: "Unsere sozialen Errungenschaften - früher Sozialhilfe, jetzt Hartz IV - tragen auch zu einer gewissen gesellschaftlichen Absicherung bei."

Angesichts der sozialen Lage von Millionen Langzeitarbeitslosen und der tatsächlichen Situation in vielen Wohnquartieren deutscher Großstädte sind solche Kommentare nur zynisch. Tatsächlich unterscheidet sich die Situation in deutschen Armutsbezirken kaum von der in den französischen Vorstädten. Stadtteile wie Duisburg-Marxloh, Gelsenkirchen-Bismarck, Köln-Chorweiler, Hamburg-Mümmelmannsberg oder Berlin-Wedding stehen beispielhaft für den gesellschaftlichen Niedergang in den letzten zwei Jahrzehnten.

Aufgrund des Wirtschaftswachstums in der Nachkriegsperiode und einer Politik, die auf sozialen Ausgleich und Dämpfung der Klassengegensätze setzte, konnten sich hier ehemals Arbeiter einen bescheidenen Wohlstand aufbauen. Doch im Zuge der Globalisierung und der Schließung von Zechen, Stahlöfen und Industriestandorten wurden diese Quartiere immer mehr zu einem Auffangbecken der Ärmsten der Gesellschaft.

Verschärft wurde diese Entwicklung durch die drastische Reduzierung des sozialen Wohnungsbaus seit den 1980er Jahren. Da Wohnungsbaugesellschaften gleichzeitig die mit öffentlich Geldern errichteten Wohnungen schrittweise zurückkauften, schwand der Bestand an günstigem Wohnraum dramatisch.

Gab es 1980 noch vier Millionen Sozialwohnungen in Deutschland, sind davon heute nur noch 1 Million übrig geblieben, die sich in regelrechten Elendsquartieren der Städte konzentrieren. Im gleichen Zeitraum ist die Arbeitslosigkeit von 1 Million auf 5 Millionen hochgeschnellt, darunter sind knapp 2 Millionen Langzeitarbeitslose, deren Einkommen wahrscheinlich nie mehr für Mietwohnungen auf dem privaten Wohnungsmarkt reichen wird. Hinzu kommen noch 3 Millionen Erwerbstätige, die nach einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zu Jahresbeginn unterhalb der Armutsgrenze lebten. Seitdem hat sich die Zahl der Billiglohnjobs in Deutschland auf 6 Millionen gesteigert.

Beispiel Mümmelmannsberg

Beispielhaft für die Entwicklung steht die Siedlung Mümmelmannsberg am östlichen Stadtrand Hamburgs.

Mümmelmannsberg galt bei der Errichtung Anfang der 1970er Jahre als Vorzeigeprojekt sozialdemokratischer Stadt- und Sozialpolitik. Der damalige Bundeswirtschafts- und Finanzminister und spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) war extra zur Grundsteinlegung gekommen. Innerhalb kürzester Zeit entstanden vier- bis zwölfstöckige Wohnblocks mit 7.000 Wohnungen für 20.000 Menschen. Das Hamburger Abendblatt schrieb damals: "Mümmelmannsberg: eine gute Adresse."

Heute liegt die Arbeitslosigkeit in Mümmelmannsberg weit über dem Hamburger Durchschnitt von 11,4 Prozent. Vier von zehn Kindern leben hier von Sozialhilfe, die Jugendarbeitslosigkeit ist im letzten Jahr um über 100 Prozent gestiegen. Mit der Adresse Mümmelmannsberg ist es für Jugendliche nahezu ausgeschlossen, einen Job oder eine Lehrstelle zu bekommen. Gleichzeitig werden durch Sparmaßnahmen der Stadt kulturelle und soziale Einrichtungen wie die Bücherhalle oder der Kindertreff geschlossen oder zurückgefahren.

Dabei gilt Hamburg neben London als die stärkste Wirtschaftsmetropole Europas, die sich aufgrund ihrer über 5.000 Millionäre mit dem Titel "Stadt mit der höchsten Millionärsdichte" in Deutschland schmücken kann.

Kaum anders sieht es in Frankfurt, Berlin oder den Städten des Ruhrgebietes aus, wo die Arbeitslosigkeit in einigen Stadtvierteln 30 Prozent erreicht. Besonders betroffen von der zunehmenden Armut in den Städten sind Heranwachsende und hierbei wiederum die Kinder von Migranten und Flüchtlingen.

Die Jugendarbeitslosigkeit ist in Deutschland zwar mit rund 12 Prozent nur halb so hoch wie in Frankreich, aber diese Zahl wird durch vielfältige kurzfristige Maßnahmen geschönt. Tatsächlich haben rund 20 Prozent der Jugendlichen, die entweder keinen Schulabschluss haben oder als nicht ausbildbar gelten, praktisch keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. In einigen Wohnvierteln ostdeutscher Städte sind teilweise sogar mehr als 50 Prozent der Jugendlichen arbeitslos.

Unter den ausländischen Jugendlichen hat sogar nur noch jeder Dritte die Möglichkeit, überhaupt eine Berufsausbildung oder einen Hochschulabschluss zu machen.

Besonders anschaulich wird die Verelendung in den Städten aber durch den Anteil der Kinder, die von Sozialgeld nach Hartz IV leben müssen. Insgesamt erhalten 1.6 Millionen Kinder unter 15 Jahren Sozialgeld, das heißt jedes siebente Kind wächst in Armut auf. In einigen Großstädten ist der Anteil jedoch noch wesentlich höher. So beträgt er in Bremerhaven 38 Prozent, in Halle an der Saale, in Görlitz und Schwerin 35 Prozent, in Kiel 29 Prozent und in Gelsenkirchen 28 Prozent.

Die Lage wird sich durch die von der Großen Koalition geplanten finanz- und sozialpolitischen Maßnahmen noch mehr zuspitzen. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer, die vor allem die unteren Schichten belastet, die drastischen Einschränkungen beim Kündigungsschutz, die Erhöhung des Rentenalters, Kürzungen bei Hartz IV und Einsparungen bei Eingliederungsmaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit werden weite Teile der Bevölkerung in existenzielle Not treiben.

Zu diesen Kürzungen kommt noch die drohende Vertreibung von Hartz-IV-Empfängern aus ihren angestammten Wohnungen. Die Folge ist, dass sich die verarmten Schichten der Gesellschaft immer mehr in den Stadtvierteln konzentrieren, die weitgehend sich selbst überlassen bleiben, in denen Freizeit- und Kultureinrichtungen geschlossen und Schulen nicht saniert werden und aus denen sich auch private Dienstleister wie Supermärkte, Banken und Sparkassen immer mehr zurückziehen.

Staatliche Repression

In Frankreich hat der soziale Protest der Jugendlichen eine scharfe Reaktion der Regierung unter Präsident Jacques Chirac und Ministerpräsident Dominique de Villepin hervorgerufen.

Nachdem auch ein massiver Polizeieinsatz die Unruhen in den Vorstädten nicht eindämmen konnte, verhängte die Regierung den Ausnahmezustand, der auf ein 1955 erlassenes Gesetz zur Unterdrückung des Algerienaufstandes zurückgeht und seit 1958 nicht mehr zur Anwendung kam. Mit Ausgangssperren und Versammlungsverboten wurden zentrale demokratische Rechte außer Kraft gesetzt. Selbst den Einsatz des Militärs zur Unterdrückung der Jugendrevolte wollte de Villepin nicht ausschließen.

Am 15. November beschloss die französische Nationalversammlung die Verlängerung des Ausnahmezustandes um weitere drei Monate, obwohl die Unruhen bereits deutlich im Abflauen begriffen waren.

Auch in Deutschland lösten die Ereignisse in Frankreich eine Debatte über scharfe Repressionsmaßnahmen gegen mögliche Unruhen aus. So plädierte der innenpolitische Sprecher der CDU, Wolfgang Bosbach, im Boulevardblatt Bild am Sonntag für "eine harte Hand gegenüber denjenigen, die Recht und Gesetz mit Füßen treten".

Auffallend waren auch die Parallelen zwischen Äußerungen des französischen Innenministers Nicolas Sarkozy, der die Jugendlichen in den Vorstädten als "Abschaum" und "Gesindel" beschimpfte, und einer Broschüre der Bundesagentur für Arbeit, in der angeblich missbräuchliche Hartz-IV-Empfänger als "Parasiten" bezeichnet werden. Der damalige Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) hatte dies öffentlich verteidigt.

Auch die Denunzierung der revoltierenden Jugendlichen als potentielle Terroristen durch den Spiegel blieb nicht aus. Andere deutsche Kommentatoren stimmten in den rassistischen Chor ein, der die Revolte in den französischen Vorstädten auf ethnische und kulturelle anstatt auf soziale Ursachen zurückführt.

Beispielhaft sei hier der Leiter des renommierten Kriminologischen Forschungsinstituts in Niedersachsen, Christian Pfeiffer, angeführt, der gegenüber der Süddeutschen Zeitung erklärte: "Diese gewalttätigen Gruppen von Nordafrikanern agieren aus einer tief verwurzelten Kultur der Ehre heraus." Pfeiffer trat für den vollen Einsatz der Staatsmacht ein, um die Unruhen zu unterdrücken: "Es bleibt jetzt gar kein anderer Weg, als mit massivem Einsatz von Polizeikräften und notfalls mit Hilfe des Militärs wieder für Ruhe und Ordnung zu sorgen."

Siehe auch:
Ausnahmezustand führt zu verschärften Angriffen auf die Rechte von Arbeitern und Jugendlichen
(25. November 2005)
Nein zum Ausnahmezustand in Frankreich!
( 11. November 2005)
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