Time -Magazin wählt Bush zum "Mann des Jahres": Warum gerade ihn?

Die Ernennung von George W. Bush zum "Mann des Jahres 2004" durch das Time -Magazin ist absurd, und das nicht nur, weil die Politik des US-Präsidenten reaktionär und abstoßend ist. Man kann einen politischen Führer verabscheuen, aber seine Wahl dennoch akzeptieren.

Das Magazin merkt eher defensiv an, dass seine Wahl zum Mann des Jahres "oft umstritten" sei. "Die Redakteure müssen die Person oder Sache wählen, die - im Guten oder im Schlechten - die größte Wirkung auf die Nachrichten hatte. Das lässt ihnen keine andere Wahl, als eine nachrichtenträchtige - wenn auch nicht notwendigerweise lobenswerte - Person auszuwählen."

Frühere "umstrittene" Kandidaten waren Adolf Hitler, Josef Stalin und Ajatollah Chomeini. Jeder Präsident seit Franklin D. Roosevelt wurde gewählt, mit der Ausnahme von Gerald Ford (der nie eine Präsidentenwahl gewann); und jeder Präsident mit mehr als einer Amtszeit wurde mindestens zweimal gewählt (Dwight D. Eisenhower das erste Mal als militärischer Oberbefehlshaber).

Bushs Name ist derzeit vielleicht tatsächlich mehr in aller Munde, als der irgend eines anderen politischen Führers, ob bei der breiten Bevölkerung oder unter den Journalisten. Allerdings wird der Name oftmals von einem Schimpfwort begleitet. Weltweite Umfragen legen die Vermutung nahe, dass Bush die derzeit wohl am meisten gehasste Person der Welt ist.

Aber "in den Nachrichten" sein und große Wirkung "auf die Nachrichten" haben ist nicht dasselbe.

Das Titelblatt des Time -Magazins dieser Woche ziert die Vision eines Kartoonisten vom Gesicht des Präsidenten mit dem Text: "George W. Bush - ein amerikanischer Revolutionär".

Eine kühne Aussage. In welchem Sinne soll Bush ein "Revolutionär" sein? Folgende Aussage der Time -Herausgeber kommt einer Begründung am nächsten: "Weil er bei der Fahne geblieben ist (im wörtlichen und übertragenen Sinn), weil er die Regeln der Politik seiner texanisch-forschen Art angepasst hat und weil er eine Mehrheit der Wähler davon überzeugt hat, dass er es verdient, weitere vier Jahre im Weißen Haus zu regieren, deshalb ist George W. Bush für Time der Mann des Jahres 2004."

Ohne Zweifel hat die Bush-Regierung mit ihrem Unilateralismus, ihrer Kriegslüsternheit und ihrem hemmungslosen Militarismus nach außen und ihren massiven Angriffen auf demokratische Rechte im Innern die politische Landschaft verändert. (Time hat, nebenbei gesagt, nicht eine dieser Veränderungen ernsthaft untersucht).

Aber wie stark war Bushs persönlicher Einfluss auf diesen Prozess? Monströse Figuren wie Hitler prägten die Weltpolitik zweifellos nachhaltig, und allein unter diesem Gesichtspunkt mag es gerechtfertigt sein, sie zum Nachrichtenträger des Jahres zu wählen. Aber ist es, selbst wenn man die gegenwärtige Regierung in Washington als reaktionär und bedrohlich ansieht, tatsächlich gerechtfertigt, Bush als den Oberkriminellen zu sehen, der die Schachfiguren auf dem globalen Schachbrett hin- und herschiebt?

Eine solche Sichtweise ist offensichtlich lächerlich. Was wäre Bush ohne die Macht und die Attribute seines Amts? Seine einzigen wirklich hervorstechenden Eigenschaften sind seine kolossale Unwissenheit und seine Inkompetenz, was Leute wie der ehemalige Finanzminister Paul O’Neill und Sicherheitsberater Richard Clarke offen bezeugt haben. Er ist ein außerordentlich ungebildeter und unwichtiger Mensch.

Es genügt zu fragen: Wären die Dinge wirklich anders gelaufen, wenn man Bush aus den Ereignissen der vergangenen Jahre herausrechnet und der amerikanische Imperialismus sozusagen vom Autopiloten gesteuert worden wäre? Gab es eine einzige entscheidende Weggabelung, ein einziges Ereignis, von dem man sagen könnte: George W. Bush war der entscheidende Faktor, zum Schlechten oder zum Guten. Er gab den Ausschlag?

Ein schmeichlerischer Time -Leitartikel, verfasst von Nancy Gibb und John F. Dickerson, behauptet: "Ein normaler Politiker sagt den Wechselwählern, was sie hören wollen; Bush hat sie dazu gebracht, ihn zu wählen, weil er sich dem verweigerte. Normale Politiker wollen gemocht werden; Bush sieht sich durch die Feindschaft seiner Kritiker bestätigt."

Das Bild des "harten Mannes", das die Time -Ausgabe zum "Mann des Jahres" durchgehend zu zeichnen versucht, ist falsch. Mut in der Politik bedeutet, sich gegen die herrschenden Mächte zu behaupten und "gegen den Strom zu schwimmen". Bushs politischer modus operandi, immer auf der Seite der Reichen und Mächtigen zu stehen und nichts ohne ihre sichere Unterstützung zu unternehmen, lässt dagegen ein ganz anderes moralisches und intellektuelles Kaliber erkennen.

Time argumentiert, Bush habe die Mehrheit der Bevölkerung trotz ihrer Ablehnung seiner Politik auf seine Seite gezogen hat, "weil er darauf setzte, dass ihnen Führung [ leadership ] wichtiger ist". Stimmt es, dass Bush Führungskraft gezeigt hat, selbst nach den Maßstäben bürgerlicher Politik?

Eine solche Eigenschaft würde in erster Linie ein Mindestmaß an Voraussicht und Durchblick erfordern. Das wichtigste Ereignis, an dem Bushs Führungskraft in den letzten beiden Jahren gemessen werden muss, ist die Invasion und Besetzung des Irak. Es genügt, daran zu erinnern, dass dieser Mann im Mai 2003 unter einem riesigen Transparent mit der Aufschrift "Mission erfüllt" erklärte: "Die Kämpfe im Irak sind im wesentlichen vorüber. Im Kampf um den Irak haben die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten gesiegt." Und zweifellos glaubte er daran! Seitdem sind mehr als tausend amerikanische Soldaten gestorben, und es entstand der irakische nationale Widerstand, der immer planmäßiger operiert und breite Unterstützung genießt.

Wir hatten vier Jahre Zeit, uns ein Bild von Bush zu machen. Das war mehr als ausreichend. Was neben seiner Unfähigkeit zu jeder kohärenten Argumentation und seinem Ungeschick bei jedem öffentlichen Auftritt hervorsticht, sind seine Kleinkariertheit, Rachsucht und sadistische Neigungen. Als verbitterter, labiler und zurückgebliebener Charakter hat er eine natürliche Affinität zu Schlägern und Brutalos, zu den Bernard Keriks dieser Welt.

Es sind Verbrecher, die ihn magisch anziehen - und Hofschranzen, wie die Vertreter der amerikanischen Medien. Was soll man davon halten, wenn drei Time -Reporter Bush ernsthaft nach "seinem Platz in der Geschichte" fragen? Auf die Frage nach dem Unterschied zwischen seiner Wiederwahl und der von Ronald Reagan oder Bill Clinton hebt Bush zu der scharfsinnigen Antwort an: "Meine war anders, weil die Umstände andere waren."

Dieser Mann und diese Regierung müssen sich gegen ernsten Widerstand erst noch beweisen. Der Schlüssel zu Bushs Wahlsieg war weder seine angebliche Bereitschaft, seinen Kritikern zu trotzen und sich zu behaupten, noch Karl Roves taktische Brillanz, sondern in erster Linie das Fehlen einer Oppositionspartei. Der Artikel von Dickerson und Gibbs ist mit demoralisierten und devoten Kommentaren von Vertretern der Demokratischen Partei angereichert. Sie bereiten sich schon jetzt darauf vor, die Wahl 2008 zu verlieren. Die weit verbreitete gesellschaftliche Opposition gegen Bushs Politik findet im politischen Establishment keinerlei Ausdruck, sie ist noch unorganisiert.

Die Ablehnung von Bushs Politik ist aber spürbar und messbar. Gibbs und Dickerson erwähnen, dass eine Time -Umfrage eine Zustimmungsrate für den Präsidenten von 49 Prozent ergab. Bei Gallup steht er bei 53 Prozent; das ist der niedrigste Dezemberwert für einen wiedergewählten Präsidenten in der Geschichte des Meinungsforschungsinstituts.

Eine Umfrage der Washington Post und von ABC News zeigt, dass eine "solide Mehrheit" von 56 Prozent die Invasion des Irak jetzt für einen Fehler hält. In der Innenpolitik gibt es gegen jede wichtige Initiative Bushs eine klare Mehrheit. Nach einer Time -Umfrage glauben nur 33 Prozent der Bevölkerung, dass Bush ein Mandat habe, die Sozialversicherung ganz oder teilweise zu privatisieren; nur 38 Prozent sind der Meinung, dass er ein Mandat zur Veränderung der Steuergesetze habe.

Seinem Hund ist jeder Mann ein Napoleon. Korrupten und ignoranten Medienleuten, die seine grundlegenden Ansichten teilen und hoffen, unter seiner neuen Regierung noch reicher zu werden, erscheint Bush als ein Titan. Außerdem, welcher Politiker würde nicht unangreifbar erscheinen, wenn das einzige, das er zu befürchten hätte, das kraftlose Händeringen einer Nancy Pelosi oder eines Harry Reid wäre?

Das beantwortet aber die Frage wohl kaum. Objektive Prozesse sind am Werk. Schon vor ihrer Amtseinführung am 20. Januar herrschen in der neuen Bush-Regierung chaotische Verhältnisse. Auf die Krise um Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und den um sich greifenden Skandal um Missbrauch, Folter und Mord in amerikanischen Gefangenenlagern folgte der jüngste verheerende Anschlag in Mosul. Das riesige Handels- und Haushaltsdefizit hängt dräuend über der Finanzwelt. Die Wahl hat kein Problem gelöst.

Man kann es natürlich nicht mit Sicherheit vorhersagen; aber das Titelbild des Time -Magazins könnte sich als eine Art Todeskuss für Bush erweisen. Eine große amerikanische Zeitschrift preist die Entschlossenheit und Tatkraft einer unstabilen, weithin verhassten Regierung, deren Politik früher oder später gesellschaftliche Unzufriedenheit provozieren muss. Und zwar massenhafte Unzufriedenheit. Schauen wir mal, wie Bushs "texanisch-forscher Regierungsstil" damit zurechtkommt.

Siehe auch:
Nach den US-Wahlen 2004: Die politische und soziale Krise in den Vereinigten Staaten wird sich verschärfen
(5. November 2004)
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