Zwei Klassen in Amerika

Manchmal kommt der wahre Charakter der gesellschaftlichen Beziehungen in den Vereinigten Staaten auf den Seiten der amerikanischen Presse zum Vorschein. So jüngst in der Tageszeitung Wall Street Journal : Auf der ersten Seite des Wirtschaftsteils fanden sich zwei Artikel, die zusammen genommen einen Eindruck von der sozialen Spaltung vermitteln, die die gesamte amerikanische Gesellschaft durchzieht.

In dem Artikel mit der Überschrift "Es ist schwer, den Stand zu wahren" erzählt Kris Maher die Geschichte von Mark und Donna Bellini, einem typischen Arbeiter-Ehepaar aus dem Bundesstaat Pennsylvania. Die Bellinis, die zwei Söhne im Teenager-Alter haben, verfügen über ein gemeinsames Einkommen von rund 60.000 Dollar pro Jahr, was in etwa dem durchschnittlichen Jahreseinkommen verheirateter Paare entspricht. Tatsächlich sind die Bellinis in vielerlei Hinsicht eine sehr typische amerikanische Familie. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass sie über eine stabile Grundlage für ihr Leben verfügen. Die Bellinis leben mit ständigen finanziellen Engpässen und unter einer Schuldenlast.

Maher merkt an, dass der Lohn von Mark Bellini seit einigen Jahren stagniert: "Mr. Bellini, ein 51-jähriger Techniker beim Unternehmen Comcast, hat seit drei Jahren, seit 2002, keine Lohnerhöhung erhalten. Sein Stundenlohn blieb bei 19,10 Dollar stecken, während die Verbraucherpreise insgesamt um 8 Prozent gestiegen sind." Die Kosten für Güter des Grundbedarfs, insbesondere für Lebensmittel und Benzin, sind noch stärker angestiegen, und allein der Gaspreis ist seit 2002 um 55 Prozent hochgeschnellt.

Das Beispiel von Mr. Bellini wirft ein Schlaglicht auf eine wichtige Tatsache: Trotz allem Gerede von ökonomischer Erholung und wieder einsetzendem Wachstum haben sich die Bedingungen, unter denen die meisten Arbeiter leben - auch jene, die nicht von Entlassungen betroffen waren - in zunehmendem Maße verschlechtert. "Trotz eines Wirtschaftswachstums von rund 4 Prozent, gesunden Unternehmensprofiten und geringen Arbeitslosenquoten stieg das Jahreseinkommen von Arbeitern, die keine leitende Stellung einnehmen - also 80 Prozent der Arbeitskräfte in den Vereinigten Staaten - im vergangenen Jahr nur um 2,7 Prozent", schreibt Maher. Diese Zuwächse sind von der Inflation vollständig aufgefressen worden. In jüngster Zeit sind die Realeinkommen tatsächlich gesunken.

Infolgedessen sind immer weniger Arbeiter in der Lage, nennenswerte Rücklagen zu bilden oder Geld für das Rentnerdasein beiseite zu legen. Vielmehr werden sie immer tiefer in die Verschuldung getrieben. Die Bellinis sorgen sich viel weniger wegen der verschiedenen Veränderungen, die sie in ihrem Leben vornehmen mussten, um Kosten zu sparen, als um die Tatsache, dass "das Paar fast keine Ersparnisse hat und dass sie nicht, wie geplant, in der Lage waren, Geld für den College-Besuch ihrer Söhne zurückzulegen. ‚Das Gefühl der Sicherheit ist verloren gegangen’, sagt Mrs. Bellini."

Um über die Runden zu kommen, arbeiten Donna und Mark beide Vollzeit, wobei Donna erst jüngst ihre Wochenarbeitszeit von 24 auf 38 Stunden erhöht hat, bei einem Lohn von 10 Dollar pro Stunde. Nach Abzug der Lohn- und Einkommenssteuer bleiben dem Paar im Monat 3.200 Dollar, die vollständig für die verschiedenen Ausgaben benötigt werden - Wasser- und Energieversorgung, eine Hypothek, Grundsteuer, Lebensmittel und Versicherungen, Benzin, Kleidung und andere Kosten.

Ihre Kreditkarten sind mit 6.000 Dollar belastet, was beinahe zwei monatlichen Nettoeinkommen gleichkommt. Wie viele andere amerikanische Familien lebt das Paar "von Gehaltszahlung zu Gehaltszahlung". Mr. Bellini, schreibt Maher, "gibt zu, dass er nicht einen einzigen Dollar in seiner Geldbörse hat und auch nicht haben wird, bis in zwei Tagen der Lohn ausgezahlt wird."

Was passiert, wenn etwas Unerwartetes eintritt - eine Entlassung, ein gesundheitliches Problem oder ein Autounfall? Wenn man die Probleme der Bellinis betrachtet, versteht man die plötzliche Zunahme von Privatinsolvenzen in den letzten Jahren.

Wie ist es möglich, sich auf die Zukunft vorzubereiten - inklusive Ausbildungsfinanzierung und Rentenvorsorge - wenn das Einkommen kaum die laufenden Kosten deckt? Wie viele andere Arbeiter sah sich Mr. Bellini gezwungen, zur Begleichung von Rechnungen einen Kredit auf seine Betriebsrente aufzunehmen, die in Form eines Aktienpakets angelegt ist. In Zusammenspiel mit den fallenden Aktienmärkten bedeutet dies, dass die Bellinis derzeit Pensionsansprüche von weniger als insgesamt 60.000 Dollar haben, dem Equivalent von nur einem einzigen Jahreseinkommen, über das sie jetzt verfügen.

Auf derselben Zeitungsseite erschien am gleichen Tag eine Kolumne von Carol Hymowitz mit dem Titel: "Um die Vorstandsgehälter zu zügeln, sollte man über eine Verlagerung dieses Postens ins Ausland nachdenken". Die Autorin stellt zunächst heraus, dass die Unternehmen alles getan haben, um die Arbeitskosten zu senken, und im Zuge dessen Arbeitsplätze in andere Länder verlagert haben, während gleichzeitig die Zahlungen an amerikanische Vorstandsmitglieder weiter gestiegen sind und bei Weitem alles übertreffen, was Führungskräften irgendwo sonst auf der Welt gezahlt wird.

Der Verdienst von Vorstandsmitgliedern in Großkonzernen - inklusive Gehalt, Bonuszahlungen und Aktienoptionen - liegt in der Regel bei Dutzenden Millionen Dollar pro Jahr und damit um ein Vielhundertfaches höher als der Lohn eines durchschnittlichen Arbeiters in der gleichen Firma.

Diese Gehälter werden oft damit gerechtfertigt, dass sie notwendig seien, um die Spitzenleute in den Vorständen zu halten. Hymowitz bemerkt dazu: "Bitter ist, wie selten selbst in Zeiten, in denen eine erhöhte Sensibilität bezüglich Führungsfragen herrscht, Kompensationen an Leistungen gekoppelt sind. Neu ernannten Vorstandsmitgliedern wird ein Haufen Geld garantiert, bevor sie irgendeine Arbeit geleistet haben. Wenn sie scheitern und entlassen werden, erhalten sie sogar noch mehr Geld."

In seinem Roman Catch-22 machte sich Joseph Heller über die Versuche der Regierung lustig, während der Großen Depression Preiskontrollen durchzusetzen, und beschrieb einen Charakter, dessen Spezialität darin bestand keine Luzerne anzubauen. "Der Staat zahlte ihm schweres Geld für jede Menge Luzerne, die er nicht anbaute [...] und er wandte jeden Pfennig daran mehr Land zu kaufen um noch mehr Luzerne nicht anzubauen."

Wenn man das Beispiel von Hellers Charakter überträgt, so gibt es heute Unternehmensleiter, die viel Geld verdienen, indem sie kein Unternehmen leiten. Carly Fiorina war sicherlich alles andere als arm, so lange sie im Vorstand von Hewlett-Packard saß, aber den Jackpot knackte sie erst, als sie in diesem Jahr entlassen wurde. Laut Hymowitz betrug ihr Abfindungspaket 14 Millionen Dollar, plus einen Bonus von 7 Millionen in bar und Aktien im Wert von 23,4 Millionen und eine Pension.

Phil Purcell, der ehemals im Vorstand von Stanley Morgan saß, erhielt ein Abfindungs- und Pensionspaket im Wert von über 100 Millionen Dollar, als er hinausgeworfen wurde. "Der ehemalige stellvertretende Vorstandvorsitzende [von Stanley Morgan] Steve Crawford geht mit einer Abfindung von geschätzten 32 Millionen Dollar, nachdem er dreieinhalb Monate diesen Job hatte", schreibt Hymowitz.

Purcells Abfindung beläuft sich auf beinahe das Zweitausendfache dessen, was die Bellinis gemeinsam für ihren Lebensabend zur Verfügung haben.

Während die Löhne von Arbeitern wie den Bellinis stagnieren, sind die durchschnittlichen Gehälter und Zusatzzahlungen für Vorstandmitglieder im vergangenen Jahr um fast 15 Prozent gestiegen. Selbst der Präsident sollte vor Neid erblassen. Hymowitz zitiert den Harvard-Wirtschaftsprofessor Rakes Khurana: "Im Jahre 1960 verdiente ein Vorstandmitglied im Durchschnitt doppelt so viel wie der Präsident der Vereinigten Staaten; heute verdienen sie durchschnittlich 62 mal so viel wie der Präsident."

Hymowitz weist zwar auf diese Zahlen hin, ist aber überhaupt nicht in der Lage zu erklären, warum etwas derart Irrationales - wie die massiven Abfindungszahlungen an gescheiterte Vorstandmitglieder - so weit verbreitet und vorherrschend sein kann. Sie gibt die allgemeine Verwirrung im Medien-Establishment und einem Teil der herrschenden Elite selbst wieder und appelliert am Ende ihrer Kolumne nur an die Vorstände, sich verantwortungsbewusster zu verhalten.

Tatsächlich sind die schwierige Situation der Bellinis und der extreme Reichtum der Purcells und Fiorinas untrennbar miteinander verbunden. Sie sind zwei Facetten derselben Entwicklung. Auf der einen Seite hat die herrschende Elite in den Vereinigten Staaten auf die Krise des amerikanischen Kapitalismus reagiert, indem sie ihre wütenden Angriffe auf die arbeitende Bevölkerung steigerte, die Löhne drückte, Massenentlassungen vornahm und die Produktion in Billiglohnländer verlagerte. Unter Bedingungen, wo die Position der amerikanischen Industrie sich dramatisch verschlechtert hat und eine profitable Produktion immer problematischer geworden ist, greift die Unternehmenselite auf der anderen Seite in zunehmendem Maße zum offenen Diebstahl.

Der von den Arbeitern geschaffene Mehrwert wandert umgehend in die Taschen einer winzigen Gruppe von Einzelpersonen. Die Vorstandsgremien lassen sich auf diese Deals ein, weil sie aus Leuten zusammengesetzt sind, die davon ausgehen, dass sie genauso behandelt werden, wenn ihre Zeit gekommen ist.

Die enormen und immer größer werdenden Abfindungspakete sind inzwischen völlig abgekoppelt von der Entwicklung der Produktivkräfte und haben ebenso wenig mit Leistung oder Verdienst zu tun. Ein Vorstandsposten in einem Großunternehmen ist mittlerweile im Wesentlichen eine Lizenz zum Plündern. Hierbei handelt es sich nicht nur um eine Frage der Habgier, die kein neues Phänomen in der amerikanischen Gesellschaft darstellt. Vielmehr geht es um die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen diese Habgier von keiner funktionierenden Arbeiterbewegung in die Schranken gewiesen wird und derart ins Kraut schießen kann, dass sie krankhafte Formen annimmt.

Die amerikanische Aristokratie spürt, dass nun die Gelegenheit, vielleicht ihre letzte, gekommen ist, um ihre Träume wahr werden zu lassen. Das Milieu in den höchsten Etagen der amerikanischen Unternehmen nimmt einen eindeutig hedonistischen Charakter an.

Seinen Roman Eine Geschichte zweier Städte beginnt Charles Dickens mit den Worten: "Es war die beste und die schlechteste aller Zeiten." Er zeichnet die enormen gesellschaftlichen Widersprüche in Europa vor der Französischen Revolution nach und zeigt daran, wie diese Widersprüche unvermeidlich zu großen Aufständen führten.

Eine ähnliche Situation ist heute gegeben. Die herrschende Elite Amerikas, die in vielerlei Hinsicht an die dekadente Aristokratie des vorrevolutionären Frankreichs erinnert, reagiert auf die Krise des amerikanischen Kapitalismus auf eine Art, die die zugrunde liegenden Problem nur verschärfen wird. Einerseits steigern ihre Handlungen die Ungleichheit und intensivieren die gesellschaftlichen Spannungen. Andererseits unterhöhlt das Plündern der Unternehmensvermögen weiter den Zustand der amerikanischen Wirtschaft. Solche Bedingungen sind nicht aufrechtzuerhalten.

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