Nach dem Scheitern des französischen EU-Referendums

Chirac wechselt Regierung aus

Zwei Tage nach dem Scheitern des EU-Referendums in Frankreich hat Präsident Jacques Chirac seinen Premierminister Jean-Pierre Raffarin entlassen und eine neue Regierung unter Führung des bisherigen Innenministers Dominique de Villepin ernannt.

In seiner Autoritär deutlich geschwächt, versucht Chirac durch die Umbildung des Kabinetts seine Macht wieder zu festigen. Seinen eigenen Rücktritt hat er kategorisch ausgeschlossen - anders als De Gaulle, der 1969 nach einem gescheiterten Referendum zurückgetreten war. Das Festklammern am Amt wird ihm durch den Umstand erleichtert, dass sich die wichtigste Oppositionspartei, die Sozialistische Partei, ebenfalls durch ihr Eintreten für die EU-Verfassung diskreditiert hat.

Die Entlassung des seit drei Jahren amtierenden Jean-Pierre Raffarin war seit langem erwartet worden. Er hätte wohl auch gehen müssen, wenn das Referendum positiv ausgefallen wäre, da er in höchstem Grade unpopulär ist. Unklar war dagegen, wer seine Nachfolge antreten würde.

Chiracs Partei, die UMP, ist tief gespalten. Die alte gaullistische Garde um Chirac hält an der Fassade der Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften fest, während die Fraktion um den Parteivorsitzenden Nicolas Sarkozy für ein neoliberales Wirtschaftsprogramm im Stile Thatchers eintritt, das sie mit einer Law-and-order-Kampagne und Ausländerfeindlichkeit verbindet.

Sarkozy hat nie ein Hehl aus seiner Absicht gemacht, Chirac im Präsidentenamt zu beerben. Im vergangenen Jahr eroberte er gegen den Willen Chiracs die Parteispitze der UMP, die vom Präsidenten ursprünglich als Basis für seine eigene Macht gegründet worden war. Das Scheitern des Referendums hat Chirac geschwächt und Sarkozy gestärkt, der sich zwar loyal für ein Ja einsetzte, aber immer Distanz zu Chiracs Kampagne hielt.

Mit Dominique de Villepin hat Chirac die Führung der Regierung einem seiner engsten und loyalsten Gefolgsleuten anvertraut. Gleichzeitig hat er Sarkozy zurück in die Regierung geholt. Sarkozy übernimmt wieder das Innenministerium, an dessen Spitze er sich unter Raffarin den Ruf eines gnadenlosen Verteidigers von Recht und Ordnung sowie strikter Einwanderungskontrollen erworben hatte. Er gilt als Nummer zwei in der Regierung.

De Villepin ist ein nicht gewählter, aristokratischer Karrierediplomat und Beamter. Er wurde 1953 in Maroko geboren und verbrachte einen großen Teil seiner Jugend in Venezuela und den USA. Seine diplomatische Karriere brachte ihn ebenfalls in andere Länder. 1984 wurde er zum ersten Sekretär der französischen Botschaft in Washington ernannt und ab 1989 arbeitete er in der Botschaft in New Delhi. 1993 wurde er Personalchef in Alain Juppés Außenministerium und 1995 Chiracs Generalsekretär im Präsidentenpalast. 2002 übernahm er in Raffarins erstem Kabinett das Außenministerium und später das Innenministerium.

Wie viele andere hochrangige Mitglieder des politischen Establishments ist de Villepin énarch, Absolvent der Elitehochschule für Verwaltung ENA. Im Alter von 24 Jahren schloss er sich der gaullistischen RPR (Rassemblement pour la République) an, der er immer treu blieb, ohne je für ein Wahlamt zu kandidieren. 1980 lernte er Chirac kennen und wurde zu einem seiner getreuesten Mitarbeiter.

Öffentliche Aufmerksamkeit erregte de Villepin, als er im UN-Sicherheitsrat gegen den Irakkrieg auftrat und darauf bestand, dass ein militärischer Angriff auf das Land der Zustimmung der UN bedürfe. Der Standpunkt, den er dabei einnahm, und sein gewandtes Auftreten haben ihm in Frankreich einen gewissen Respekt und in den USA den anhaltenden Hass der republikanischen Rechten eingebracht. De Villepin hatte am 14. Februar 2003, unmittelbar vor Kriegsbeginn korrekt gewarnt: "Die Kriegsoption mag anfangs als schnellste Lösung erscheinen. Aber vergessen wir nicht, dass man nach dem Krieg den Frieden aufbauen muss."

Durch de Villepins Ernennung zum Premier versucht Chirac Zeit zu gewinnen, den sozialen Frieden zu wahren und Sarkozy auf Distanz zu halten.

Sarkozy hatte versucht, seinen Rivalen mit dem Hinweis auszuschalten, dass jemand, der sich nie einer Wahl gestellt habe, für das Amt nicht geeignet sei. Als sich die Gerüchte verdichteten, wen Chorac zum Premier ernennen würde, sagte Sarkozy mit einem deutlichen Seitenhieb auf de Villepin: "Das Recht im Namen Frankreichs zu sprechen setzt voraus, dass man sich einmal im Leben einer allgemeinen Wahl unterworfen und erfolgreich das Vertrauen der Wähler gewonnen hat."

Die Entscheidung für de Villepin wurde Chirac etwas leichter gemacht, weil sich das Votum gegen die europäischen Verfassung eindeutig gegen die liberale Wirtschaftspolitik richtete, die von Sarkozy vertreten wird. Le Figaro zitierte ein Chirac nahestehende Quelle mit den Worten: "Am Sonntag sagten die Wähler Nein zu einem Europa des freien Marktes. Sarkozy verkörpert den Wirtschaftsliberalismus. Er wäre nicht die geeignete Antwort auf die Botschaft der Wähler gewesen."

Indem er Sarkozy in die Regierung zurückholt, versucht ihn Chirac einer gewissen Disziplin und Kontrolle zu unterwerfen. Dieselbe Zeitung kommentierte: "Der Staatschef hat den Vorsitzenden der UMP zum Innenminister und zur Nummer zwei der Regierung ernannt, ‚weil es besser ist, seine Feinde drinnen als draußen zu haben’, wie Francois Mitterrand zu sagen pflegte."

Sarkozy lässt aber keine Neigung erkennen, seine ehrgeizigen Pläne aufzugeben. Er stellte Bedingungen für seinen Eintritt in die Regierung, die für Chirac demütigend sind. Er beharrte darauf, Vorsitzender der UMP zu bleiben, und machte damit Chiracs Entscheidung vom letzten Jahr rückgängig. Dieser hatte darauf beharrt, dass Sarkozy als Finanzminister zurücktreten musste, als er den UMP-Vorsitz übernahm. Sarkozy darf auch den Vorsitz im Rat des Departments Hauts-de-Seine weiter ausüben.

Vor der Parlamentsfraktion der UMP hat Sarkozy seine Bereitschaft, unter de Villepin den Innenministerposten zu übernehmen, mit den Worte begründet, er sei sich sicher, "dass es keine Zukunft gibt, wenn die kommenden 22 Monate [bis zum Ende der Amtsperiode des Präsidenten] von Konflikten zwischen der UMP und dem Präsidenten dominiert werden".

Ein Artikel im Figaro vom Mittwoch machte das Ausmaß der Konflikte innerhalb der UMP deutlich: "Gerstern früh um Neun gaben sich Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy gegenseitig die Zusage. Nicht zum Guten, sondern um das Schlimmste zu vermeiden: die Implosion der Partei."

Vor der UMP-Fraktion unterstrich Sarkozy diesen Punkt: "Entweder bleibe ich außerhalb der Regierung und der Kampf beginnt noch am heutigen Nachmittag, oder ich bin drin, und dann kann ich die Einheit garantieren." Er schloss mit einer Warnung an Chirac und de Villepin: "Täuscht Euch nicht, das Austauschen von Köpfen reicht nicht. Die Regierung kann nur Vertrauen gewinnen, wenn die Politik radikal geändert wird. Egal was passiert, ich bleibe Vorsitzender der UMP. Ich wurde von der Mitgliedschaft für drei Jahre gewählt und werde den Job zu Ende führen."

Libération kommentierte: "Falls es nicht klappt, findet er immer einen Weg, der Regierung in ein paar Monaten die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Und dann ist er frei, um die Präsidentschaft zu kämpfen."

Sarkozy geht im Stil eines Straßenkämpfers vor. Das ist ein Hinweis darauf, was er aus der UMP machen und was für Leute er anziehen will.

Die Zeitung zitiert einen jungen UMP-Abgeordneten, der deutlich macht, welch radikale Stimmung sich in der Partei entwickelt: "Bei der Stimmung, die in der Fraktion vorherrscht, hätten wir Villepin ohne Sarkozy nicht geschluckt. Das andere Problem mit diesem Duo [Chirac und Villepin] ist, dass sie sich nicht zwischen dem sozialen Modell und seiner liberalen Herausforderung entscheiden können, deshalb sehen wir der weiteren Entwicklung mit Skepsis entgegen."

Vor diesem Hintergrund ist es nicht gerade wahrscheinlich, dass die Ziele erfüllt wurden, die Chirac formulierte, als er die neue Regierung ankündigte.

Chirac sagte, er habe Sarkozy im "Sinne der Einigung der Partei" gebeten, in die Regierung einzutreten, und dieser habe akzeptiert. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit werde in der neuen Regierung Vorrang haben. Sie werde zu einer "nationalen Mobilisierung" aufrufen, die, so habe er entschieden, "unser französisches Modell streng respektieren muss".

"Dieses Modell ist nicht das angelsächsische, aber es bedeutet auch nicht Immobilität", fuhr Chirac fort. "Es stützt sich auf Dynamik und individuelle Initiative, auf Solidarität und gesellschaftlichen Dialog." Er rief die Wirtschaft und die Gewerkschaften zur Unterstützung auf, um "den Kampf für Beschäftigung zu gewinnen und gleichzeitig uns selbst treu zu bleiben".

Dieser schwache Schuss vor Sarkozys Bug wird wenig Eindruck hinterlassen. Eine der zentralen Thesen des zukünftigen Innenministers lautet, dass das "französische Modell" aufgegeben werden muss, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.

Das Scheitern des Referendums ist als "friedlicher Aufstand" bezeichnet worden. Es wird allgemein anerkannt, dass es sich um eine Fortsetzung des massiven Widerstands der Arbeiterklasse gegen die politische Elite handelt, der sich während der gesamten Dauer der von Raffarins Regierung in Massenstreiks und Demonstrationen manifestiert hat, die der Verteidigung von Arbeitsplätzen, Arbeitsbedingungen, Löhnen sowie sozialer und demokratischer Rechte dienten. Wenn die Bourgeoisie nun beginnt, sich hinter Sarkozy zu sammeln, so macht dies deutlich, dass die Periode, in der Abmachungen mit der Gewerkschaftsbürokratie einen relativen sozialen Frieden sichern konnten, zu Ende ist.

Siehe auch:
Berichte und Analysen zum EU-Referendum in Frankreich
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