Der ukrainische Präsident Juschtschenko dringt auf beschleunigte Annäherung an die EU

Der jüngste Besuch des neuen ukrainischen Präsidenten Wiktor Juschtschenko Mitte vergangener Woche in Berlin fand unter Bedingungen statt, unter denen die Regierung Schröder mit ihrer bisherigen außenpolitischen Orientierung auf Russland unter wachsenden Druck gerät. Ein Teil der herrschenden Elite Deutschlands und Europas will den Machtwechsel in Kiew nutzen, um im Schulterschluss mit den USA eine aggressivere Außenpolitik Richtung Osten durchzusetzen.

Nur mühsam gelang es, hinter der zur Schau gestellten Einigkeit, mit der das politische Berlin den ukrainischen Präsidenten empfing, diese Spannungen zu verbergen. Zeitungskommentare registrierten "Kühlheit" und "steife Gesten" in der Beziehung zwischen Schröder und seinem Gast. Auch die Affäre um die Visavergabe in der deutschen Botschaft in Kiew schwelte während der Besuchszeremonie weiter.

Vorangegangen war dem Besuch ein Beinahe-Eklat mit der CDU. Diese hatte über Volker Rühe, den Vorsitzenden des außenpolitischen Bundestagesausschusses, ohne Absprache mit der Regierung darauf hingewirkt, dass Juschtschenko die hohe Ehre zuteil wurde, vor dem Bundestag zu sprechen. Damit war Juschtschenko erst der 22. ausländische Staatsgast seit 1949, dem diese Auszeichnung zuteil wurde. Und noch nie hatte ein Staatsoberhaut so kurz nach seinem Amtsantritt dieses Privileg genossen.

Hintergrund der Spannungen um den Juschtschenko-Besuch ist die Diskussion, wie Deutschland seine Interessen in der ehemaligen Sowjetunion und in Bezug auf Russland gestalten soll. Vor allem die deutsche und die französische Regierung befürworten seit dem Irakkrieg eine stärkere außenpolitische Unabhängigkeit von den USA und eine engere Zusammenarbeit mit Russland.

In Deutschland wächst seit dem Machtwechsel in der Ukraine der Druck auf diese außenpolitische Orientierung. Vornehmlich aus den Reihen der Union, aber zum Teil auch aus der Regierungskoalition selbst wird kritisiert, dass Schröder zu stark auf eine Partnerschaft mit dem Kreml und Wladimir Putin setze, anstatt die Interessen Deutschlands und der EU in einem engeren Bündnis mit den USA durchzusetzen. Schröder hatte Putin noch im vergangenen Jahr, während des Geiseldramas von Beslan, als "lupenreinen Demokraten" bezeichnet.

Juschtschenko schlug in diese Kerbe, als er in Berlin dem deutschen Volk, dem Bundestag und der Bundesregierung dafür dankte, die "Revolution in Orange" maßgeblich "inspiriert" zu haben. Er beteuerte, dass "Demokratie" und "Freiheit" 15 Jahre nach dem Mauerfall nun endlich auch in der Ukraine Einzug hielten. Das war ein deutlicher Hieb gegen Schröder, der sich im vergangenen Herbst in Bezug auf die ukrainischen Ereignisse deutlich zurückgehalten und Putin wiederholt den Rücken gestärkt hatte. Der Regime-Wechsel in Kiew war auf massives Betreiben der USA herbeigeführt worden, denen gegenüber sich Juschtschenko besonders verpflichtet sieht.

Juschtschenko drängte auf eine möglichst baldige Aufnahme der Ukraine in die EU und lockte mit wirtschaftlichen und politischen Vorteilen. "Ein Land mit 48 Millionen Einwohnern, mit einer starken Industrie, einem hoch spezialisierten Rüstungssektor, das modernste Schiffe baut und Trägerraketen, die heute in der gesamten Welt Verwendung finden, das über wichtige Rohstoffe verfügt, muss Europa selbstverständlich wirtschaftlich interessieren. Auch kann die Ukraine der Garant für Stabilität, Sicherheit und letztlich auch Demokratisierung in der Region sein", sagte er in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung.

In Berlin und Brüssel ist man durchaus an einer Öffnung des Landes für die wirtschaftlichen Interessen der EU interessiert. So arbeitet Juschtschenko intensiv an der Umsetzung eines liberalen Wirtschaftsprogramms "der ersten 1000 Tage", mit dem jährlich eine Million Arbeitsplätze geschaffen werden sollen - vorwiegend Billigarbeitsplätze für europäische Firmen. Die ukrainische Arbeiterklasse kann so als Hebel benutzt werden, um die Sozialstandards in Europa noch weiter auszuhöhlen.

Auch bei der Senkung der Abhängigkeit von russischen Energielieferungen bedient sich die EU des neuen Regimes. So wurde die seit langem umstrittene Erdölleitung vom polnischen Plock zum Schwarzmeerhafen Odessa wieder umfunktioniert. Bisher hatte Russland über diese Pipeline Öl von der Magistrale Russland-Westeuropa nach Odessa abgezweigt und es von dort auf den Weltmarkt verkauft. Nun wird Öl von Georgien über Odessa nach Europa gepumpt.

In Deutschland und Europa ist man jedoch vorsichtig, der neuen ukrainischen Regierung allzu weitgehende Versprechen zu machen. Die Bundesregierung sagte Juschtschenko lediglich zu, beim Aufbau einer "Marktwirtschaft" und bei der Aufnahme in die WTO spätestens bis zum Jahre 2006 Unterstützung zu leisten. Über die formelle Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zur EU könne im Moment noch nicht entschieden werden. Selbst die von der CDU angestrebte Perspektive einer "privilegierten Partnerschaft" von EU und Ukraine wurde nicht zum Gegenstand offizieller Verhandlungen erhoben.

Zum einen wäre die EU nach der Ost-Erweiterung und dem Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei kaum in der Lage, ein weiteres bitterarmes Land von der Größe der Ukraine zu verdauen. Zum andern kann, wie es die Süddeutsche Zeitung formulierte, das "Verhältnis von EU und Ukraine nicht ohne Rücksicht auf die Beziehungen Europas zu Russland geregelt werden". Und schließlich ist man vorsichtig, ein weiteres Land in die EU zu holen, das sich im Falle eines Konflikts mit den USA unweigerlich auf deren Seite stellen würde, wie dies Polen, Tschechien und Ungarn zu Beginn des Irakkriegs getan haben.

Differenzen in der Russlandpolitik

Nach dem Machtwechsel in Kiew und den veränderten Kräfteverhältnissen im postsowjetischen Raum stehen die EU und insbesondere die Regierungen Frankreichs und Deutschlands vor dem Problem, ihre Ostpolitik und die Bedeutung der Achse Paris-Berlin-Moskau als Gegengewicht zum Einfluss der USA neu zu definieren. Der Einfluss Russlands schrumpft, und die USA haben mit Juschtschenko einen Machtfaktor in der Region hinzugewonnen.

Eines der wichtigsten politischen Ziele wird nach wie vor sein, Europas privilegierte Energieversorgung durch Russland nicht zu gefährden. Allein Deutschland hängt zu über 30 Prozent von russischen Gas- und Öllieferungen ab und hat erheblich in die russische Energiewirtschaft investiert.

Ein weiteres Ziel besteht in der Ausweitung des wirtschaftlichen Einflusses auf die Region - als Absatz- und Rohstoffmarkt und Reservoir billiger und hoch qualifizierter Arbeitskräfte. Allein im Jahr 2004 ist der Zufluss ausländischer Direktinvestitionen nach Russland um über 40 Prozent angestiegen - der größte Teil davon stammt aus Deutschland und Europa. So ist Deutschland weiterhin wichtigster Handelspartner Russlands bei den Ein- und Ausfuhren.

Den wirtschaftlichen Interessen in Russland, die im Falle Deutschlands bis in die 1970er Jahre zurückreichen und sich in den letzten 15 Jahren stark entwickelt haben, steht allerdings eine starke traditionelle Exportabhängigkeit von den USA gegenüber. Dasselbe trifft auch auf Frankreich zu. Angesichts verschärfter wirtschaftlicher und politischer Spannungen mit den USA wird die Interessenabwägung immer mehr zum Balanceakt. Verficht die europäische Bourgeoisie ihre Interessen in der ehemaligen Sowjetunion eher eigenständig, oder sucht sie das ebenso schwer kalkulierbare Bündnis mit den USA? Die Beantwortung dieser Frage entscheidet sich an der Russlandpolitik.

Sollte in Russland ein ähnlicher Regimewechsel wie in der Ukraine erfolgen, könnte dies zum Nachteil der deutschen Interessen sein. Eine Spaltung des Landes entlang der unzähligen Ethnien hätte gar völlig unvorhersehbare Konsequenzen und könnte einen lang andauernden Bürgerkrieg provozieren. Die aktuelle Ausgabe des "Gus-Barometer", das vom Körber-Zentrum Russland/GUS der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) herausgegeben wird, tritt daher für eine entschiedenere Anlehnung Russlands an die EU ein.

Zunächst wird Russlands schwindendes Gewicht nach dem Machtwechsel in der Ukraine festgestellt. Es habe "seine Führung im postsowjetischen Raum eingebüßt" und sei mit seinem Projekt einer von Russland dominierten Union Ukraine-Weißrussland-Kasachstan gescheitert. Russlands Traum vom "Großmachtstatus" könne, "wenn überhaupt, erst in ferner Zukunft" realisiert werden. Die Wachstumsraten lägen hinter denen der Ukraine und Weißrusslands, und die "dilettantisch" umgesetzten Reformen beim Sozialabbau hätten angesichts der heftigen Proteste eine regelrechte Regierungskrise verursacht.

Gleichzeitig wird betont: "In den kommenden Jahrzehnten werden sich die sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Interessen der EU immer weiter nach Eurasien verlagern. Das Schwarze Meer könnte zu einem Binnenmeer der EU avancieren. Der postsowjetische Raum würde seine politische und historische Bedeutung verlieren, der Kaspische Raum sich entweder in ein östliches Europa verwandeln oder mit dem Mittleren Osten verschmelzen."

Die russischen Eliten hätten zwei Optionen, auf diese Entwicklung zu reagieren. Die erste sei "eine Konfrontationspolitik gegenüber dem Westen", für die Russland Verbündete brauche. Der Artikel weist warnend auf zahlreiche Anzeichen einer Annäherung Russlands an China und Indien hin, die im Westen "Unbehagen" wecke. Im Falle einer solchen "Konfrontationspolitik" sähe sich die EU zu einer aggressiveren Gangart und der "Eindämmung" der russischen Kontrolle, etwa bei ethnisch-territorialen Konflikten wie in Moldawien oder dem Südkaukasus, gezwungen.

Die zweite Option sei ein Festhalten "an der Westöffnung". Die "deutsch-russische Freundschaft" schaffe "die Grundlagen für die zweite Option". Dazu müssten Menschenrechtsfragen und Forderungen nach Demokratie zurückgestellt werden - ein deutlicher Seitenhieb auf die USA, die die russische Regierung mit solchen Forderungen unter Druck setzt. "Zu warten, bis Russland in einigen Jahrzehnten ein liberales Modell annimmt, um dann eine Partnerschaft mit Moskau einzugehen, würde wertvolle Zeit beim Aufbau eines stabilen Europas verstreichen lassen", heißt es im "GUS-Barometer".

Die "Vereinbarkeit von Interessen" müsse im Vordergrund stehen: "Russisches Öl und Gas sollten nicht von Moskau für die eigene Großmachtstellung instrumentalisiert werden, sondern als strategische Ressourcen für den globalen Status Gesamteuropas nutzbar gemacht werden."

Wie oft auch immer in den vergangenen Tagen von "Demokratie" und "Freiheit" gesprochen worden sein mag, mit dem eigentlichen Inhalt dieser Worte hat die eingeschlagene Entwicklung weder in der Ukraine noch in Russland etwas zu tun. Sie ist von intensiven Machtkämpfen um Märkte und Ressourcen geprägt, die auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung ausgefochten werden.

Siehe auch:
Ukraine: Was wird ein Präsident Juschtschenko bringen?
(5. Januar 2005)
Der Machtkampf in der Ukraine und Amerikas Strategie der Vorherrschaft
( 22. Dezember 2004)
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