Regierungskrise in Polen

Zehn Monate nach ihrer Ernennung steht die polnische Regierung unter Ministerpräsident Marek Belka (SLD) vor dem Aus. Belka hat für den 5. Mai seinen Rücktritt angekündigt und sich für vorgezogene Neuwahlen am 19. Juni ausgesprochen. Ab diesem Zeitpunkt wolle er sich aktiv für den Wahlkampf der neu gegründeten Demokratischen Partei (PD) engagieren.

Dem vorausgegangen waren der Austritt des Wirtschaftsministers Jerzy Hausner aus der regierenden Demokratischen Linksallianz (SLD) und zunehmend feindliche Töne des Parlamentspräsidenten und SLD-Mitglieds W³odzimierz Cimoszewicz gegen die Regierungspartei. Belka hat erklärt, er halte es für unmöglich, eine stabile Regierung weiterhin auf die SLD zu stützen.

Wenn es auch zunächst kurios erscheint, dass die Spitze der Regierung die Regierungspartei verlässt und in scharfen Tönen attackiert, gehören Manöver wie dieses schon lange zum politischen Alltag in Polen. Die herrschende Elite Polens ist extrem instabil. Seit 1989 der erste nicht-stalinistische Regierungschef Tadeusz Mazowiecki seine Arbeit aufgenommen hatte, gab es keine Regierung, die länger als eine Legislaturperiode überlebt hätte.

Von 1989 bis 1993 wechselten sich insgesamt fünf auf die Solidarnosc-Bewegung und auf katholische Kräfte gestützte Regierungen ab. Durch ihre "Schocktherapie" - die rasante Einführung der Marktwirtschaft, die Privatisierungen staatlicher Betriebe und den Abbau sozialer Rechte - verloren die rechten Kräfte schnell jegliche Unterstützung in der Bevölkerung. Aus den Wahlen von 1993 ging das Wahlbündnis "Demokratische Linksallianz" (SLD), in dem die Nachfolgeorganisation der ehemaligen stalinistischen Staatspartei den Ton angab, gestärkt hervor. Zusammen mit der ehemaligen Blockpartei PSL erreichte sie knapp zwei Drittel der Mandate bei einer Wahlbeteiligung von rund 52 Prozent.

Die neue Regierung führte den Privatisierungskurs nach kurzem Zögern konsequent fort. Die Poststalinisten begannen eine Orientierung auf die Mitgliedschaft in der EU. Hierzu mussten Landwirtschaft und Industrie umstrukturiert werden, was mit Lohnsenkung und Massenentlassungen einher ging. Um diese Politik gegenüber der Bevölkerung durchzusetzen, verbrauchte die SDL-Mehrheit im Sejm mit Waldemar Pawlak, Józef Oleksy und schließlich Cimoszewicz drei Regierungschefs.

Das rechte Lager formierte sich in dieser Zeit neu und rief die Wahlaktion Solidarnosc (AWS) sowie die Freiheitsunion (UW) ins Leben. Die beiden Parteien konnten sich angesichts der unsozialen Politik der Poststalinisten bei den Wahlen von 1997 die Mehrheit der Sitze sichern. Allerdings war die Wahlbeteiligung auf 48 Prozent gesunken. AWS und UW schlossen nahtlos an der Politik des Sozialkahlschlags an. Sie schränkten die staatliche Rentenversicherung ein, demontierten das Gesundheitssystem und setzten die umfassenden Privatisierungen fort. Im Sommer 2000 verließ die UW die Regierung, unterstützte die AWS aber weiterhin. Sie befürchtete, bei Neuwahlen ihre Parlamentssitze zu verlieren.

Als abzusehen war, dass sowohl AWS als auch UW bei den nächsten Wahlen keine Chance mehr haben würden, gründeten sich im rechten Lager zwei neue Parteien: die Bürgerplattform (PO) und die Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS). Beide zusammen kamen bei den Wahlen 2001 auf weniger als 25 Prozent. AWS und UW waren im neuen Sejm überhaupt nicht mehr vertreten. Profitieren konnte wiederum die SLD, die sich mittlerweile in eine Partei umgewandelt hatte und im Bündnis mit der Arbeitsunion (UP) zu den Wahlen angetreten war. Das Wahlbündnis erhielt 41 Prozent der Stimmen. Die Wahlbeteiligung fiel erneut - auf nur noch 46 Prozent.

Neuer Ministerpräsident wurde Leszek Miller. Die SLD hatte sich vorgenommen, Polen endgültig in die EU zu führen und alle nötigen Maßnahmen, wie Umstrukturierung und Privatisierung, durchzusetzen. Millers Politik führte zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit auf beinahe 20 Prozent. Gleichzeitig wurden die sozialen Sicherungssysteme zerschlagen. Die staatliche Unterstützung für Arbeitslose ist minimal und wird in den meisten Fällen nicht einmal ausgezahlt. Das öffentliche Gesundheitssystem liegt in Scherben.

Im Spätsommer und Herbst 2003 geriet die Regierung unter Druck. Nacheinander demonstrierten Bergleute, Arbeiter aus dem Gesundheitswesen, Landwirte und Taxifahrer auf den Straßen Warschaus gegen die unsoziale Politik. Als die Umfragewerte dann in den Keller fielen, traten 30 Abgeordnete aus der SLD aus und gründeten die Sozialdemokratie Polens (SdPL). Miller trat am 2. Mai 2003 - einen Tag nach dem Beitritt Polens zur EU - zurück.

Die Instabilität der herrschenden Elite Polens ist typisch für die politische Lage in ganz Osteuropa. Die Elite besteht zum Teil aus alten stalinistischen Apparatschiks, die sich in der Zeit der Wende gegenseitig in die wichtigen Posten der privatisierten Unternehmen gehievt haben. Den anderen Teil machen Neureiche aus, die durch Beziehungen und kriminelle Energie beträchtliche Reichtümer anhäufen konnten. Der Masse der Bevölkerung stehen beide Teile vollkommen feindlich gegenüber. In den letzten 15 Jahren haben sie Polen in ein Paradies für Unternehmen und Reiche verwandelt, während es großen Teilen der Bevölkerung an der elementarsten Grundversorgung mangelt.

Jede polnische Regierung und in besonderem Maße diejenige Leszek Millers war in etliche Korruptionsaffären verwickelt. In den ersten Jahren der Republik Polen bestand ein Großteil der parlamentarischen Arbeit darin, die Gesetze so zu verändern, dass die eigene Clique möglichst gut von den Umstrukturierungen und Privatisierungen profitieren konnte. In vielen Fällen existieren enge Beziehungen zur Unterwelt. Die Verbindungen der Regierungspartei zu kriminellen Elementen wurden z.B. in Starachowice deutlich sichtbar, wo herauskam, dass der SLD-Parlamentsabgeordnete Andrzej Jagiello die von der SLD gebildete Lokalregierung seines Wahlkreises vor einer Aktion der zentralen Polizeibehörde Polens gewarnt hatte.

Als sich vor eineinhalb Jahren abzeichnete, dass die SLD die nächsten Wahlen nicht überleben würde, kam es zu neuen Umgruppierungen innerhalb der politischen Kaste. Während die Opposition die nationalistische Trommel rührte, um die verbreiteten Ängste vor einer EU-Mitgliedschaft zu nutzen, wurde im Regierungslager überlegt, wie man Neuwahlen und den damit einhergehenden Machtverlust verhindern könne.

Die neugegründete SdPL erreichte bei Umfragen ebenfalls sehr niedrige Werte, und so trat auch sie fortan gegen Neuwahlen auf und bot der SLD, von der sie nur wenige Wochen zuvor gebrochen hatte, eine Koalition an.

Nach Millers Rücktritt wählten SDL und SdPL mit Unterstützung einiger fraktionsloser Abgeordneter, die bei Neuwahlen um ihre Sitze fürchten mussten, Marek Belka zum neuen Regierungschef. Entgegen dessen Beteuerungen hatte dieses Manöver nichts mit einem Neuanfang zu tun, sondern war der verzweifelte Versuch, eine Auflösung des Sejm zu verhindern.

Dem entsprechend setzte Belka die Politik der SLD in vollem Umfang fort. Der für seine Kürzungspolitik verhasste Wirtschaftsminister Hausner blieb im Amt und der Privatisierungskurs wurde beibehalten.

Im Januar dieses Jahres konnte ein Streik der Eisenbahner gegen die Schließung weiterer Strecken mit Hilfe der Gewerkschaften nur knapp verhindert werden. Die Bergarbeiter bereiten zur Zeit Protestaktionen gegen die fortlaufende Privatisierung ihrer Zechen vor, und große Teile des medizinischen Personals befinden sich wegen der katastrophalen Lage des Gesundheitswesens seit Wochen im Ausstand.

In dieser Situation haben einige Regierungsvertreter eingesehen, dass sie nur dann noch eine Chance bei den nächsten Wahlen haben, wenn sie die Regierung jetzt beenden. Als erster trat Hausner Anfang Februar aus der SLD aus. Er hat mittlerweile seinen Rücktritt eingereicht und erklärt, er wolle seine Energien voll auf den Aufbau der in Gründung begriffenen Demokratischen Partei (PD) konzentrieren. Dann erklärte Cimoszewicz Anfang März, er könne den Menschen nicht mehr empfehlen, ihre Stimme für die SLD abzugeben. Er bezeichnete die Partei als eine "von Krankheiten befallene Formation". Als Parlamentspräsident werde er den Sejm am 5. Mai um seine eigene Auflösung bitten, um den Weg für Neuwahlen frei zu machen.

Schließlich gab auch Belka zu verstehen, dass er die SLD verlassen werde. "Mein Parteiausweis liegt irgendwo zu Hause", sagte er in einem Interview, "aber Beiträge habe ich in diesem Jahr vermutlich nicht bezahlt." Er werde sich auch nicht damit beeilen. "In Wirklichkeit wartet die SLD nur noch auf ihren Tod." Belka kündigte an, dass er am 5. Mai zurücktreten und gleichzeitig bekannt geben werde, ob er Mitglied der Demokratischen Partei wird.

Die Mehrheit von SDL und die SdPL haben angekündigt, am 5. Mai gegen die Parlamentsauflösung zu stimmen. Sie hoffen ferner, dass Präsident Kwasniewski Belkas Rücktritt nicht annehmen wird und die Regierung damit bis zum offiziellen Ende der Legislaturperiode im Herbst dieses Jahres im Amt bleiben kann. Die Regierung leiste gute Arbeit und habe schließlich noch die Aufgabe, das Referendum zur EU-Verfassung auf den Weg zu bringen, erklärte etwa Senatsmarschall Longin Pastusiak. Es ist augenscheinlich, dass es den Abgeordneten - wie in der letzten Legislaturperiode schon jenen von AWS und UW - vor allem um den Erhalt ihrer Mandate geht.

Die Ankündigung von Belka, Hausner und Cimoszewicz, das Parlament aufzulösen, hat aber genau so wenig mit demokratischen Überzeugungen oder einer Sensibilität gegenüber den anhaltenden Protesten aus der Bevölkerung zu tun. Es handelt sich um reines machtpolitisches Kalkül. Wenn die Regierung heute für ihre eigene Absetzung eintritt und eine neue Partei gründet, tut sie das mit der Hoffnung, auf diese Weise ihre Abwahl doch noch verhindern zu können.

Die Gründung der PD ist, wie schon vorher die der SDPL, ein Versuch, dem Wähler mit einem neuen Etikett die alte Ware zu verkaufen. Mit einer Parteigründung im eigentlichen Sinne hat das nur sehr wenig zu tun. Es findet eher eine Umgruppierung innerhalb der politischen Elite statt. Neu ist aber, dass die poststalinistischen Regierungsmitglieder bei diesem Unternehmen von Teilen der ehemaligen Solidarnosc-Bewegung unterstützt werden.

An den Vorbereitungen zur Gründung der neuen Formation sind nicht nur ehemalige Mitglieder der SDL, sondern auch die Freiheitsunion (UW) und weitere kleinere Parteien beteiligt. Die UW beheimatet beachtliche Teile der ehemaligen Solidarnosc-Intelligenz. Ihre politische Ausrichtung unterscheidet sich nicht wesentlich von jener der SLD. Auf der Initialveranstaltung der PD erklärte der Vorsitzende der UW Wladyslaw Frasyniuk: "Herr Premier Belka, wir warten hier auf Sie. Ihr Platz ist unter uns, wir verstehen Sie nämlich und sind bereit, Ihr Werk zu unterstützen." Von der Gründung der PD verspricht sich Frasyniuk eine Rückkehr ins politische Leben.

Die Gründung einer Partei, die erstmalig gewendete stalinistische Bürokraten und ehemalige Solidarnosc-Aktivisten unter einem Dach vereint, zeigt, wie weit sich die politische Kaste von der Bevölkerung entfernt hat. Parteien wie die SLD oder die AWS hatten noch eine gewisse Basis, die auf die beiden Lager zurückging, die sich vor 25 Jahren gegenüberstanden. Ihre Substitute sind rein bürokratische Retorten ohne jede Beziehung zur Lebenswirklichkeit der Menschen.

Ob es zu Neuwahlen im Juni oder erst im Herbst kommen wird, ist noch nicht klar abzusehen. Das Parlament müsste dies am 5. Mai mit einer Zweidrittel-Mehrheit beschließen. Eingedenk des Widerstands von SDL und SdPL ist das zumindest unsicher. Sollte Kwasniewski tatsächlich Belkas Rücktritt ablehnen, würden Wahlen im Herbst wahrscheinlicher.

Wann immer die Wahlen stattfinden, der polnischen Bevölkerung bieten sie keine politische Alternative. Laut Umfragen ist es wahrscheinlich, dass Bürgerplattform (PO) und "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) die neue Regierung stellen werden. PO und PiS haben in der Vergangenheit deutlich gemacht, dass sie die Kürzungs- und Privatisierungspolitik unvermindert fortsetzen werden. Wenn sie die Regierung in diesen Punkten kritisiert haben, dann nur, weil ihnen die Gesetze nicht weit genug gingen.

Außenpolitisch vertreten sie einen extrem nationalistischen Kurs. Die Parole "Nizza oder Tod", mit der Miller im Winter 2003 den Gipfel zur EU-Verfassung platzen ließ, ging auf den Vorsitzenden der PO Jan Rokita zurück. Die Aufforderung des Parlaments an die Regierung, von Deutschland Reparationszahlungen für Kriegsschäden zu fordern, folgte ebenfalls einem Antrag der Opposition. Zur Zeit haben PO und PiS eine Debatte darüber angestoßen, ob Präsident Kwasniewski an den Feierlichkeiten zur Befreiung Polens von den Nazis in Moskau teilnehmen soll. Der Einmarsch der Roten Armee, so die Begründung, habe Polen keine Freiheit sondern weitere Jahrzehnte der Unterdrückung gebracht.

Die polnische Bevölkerung hat keinerlei Möglichkeit, bei Neuwahlen gegen die Politik des sozialen Kahlschlags zu stimmen. Sie wird weiterhin mit einer politischen Kaste konfrontiert sein, die Polen in den letzten 15 Jahren in ein Paradies für Kapitalisten und eine Hölle für die einfache Bevölkerung verwandelt hat. Obwohl das Wirtschaftswachstum stabil bei fünf Prozent liegt und selbst die alten Kohlezechen zum ersten Mal seit Jahren Gewinn einfahren, bleibt die Arbeitslosigkeit konstant um die 20 Prozent, werden die Privatisierungen vorangetrieben und der letzte Rest sozialer Sicherung zerschlagen.

Viele Polen wenden sich aus diesen Gründen von der offiziellen Politik ab. Bei den Europawahlen im Juni letzten Jahres ging gerade einmal jeder fünfte Wahlberechtigte an die Urne.

Siehe auch:
Marek Belka bleibt polnischer Regierungschef
(3. Juli 2004)
Marek Belka ist neuer polnischer Regierungschef
( 4. Mai 2004)
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