Gewaltausbrüche in Wisconsin und Georgia

Das Krankheitsbild einer krisengeschüttelten Gesellschaft

Zwei blutige Ereignisse, die sich am 11. und 12. März in Atlanta (Georgia) und Brookfield (Wisconsin) ereigneten, haben letzte Woche die amerikanischen Schlagzeilen bestimmt. Und das mit gutem Grund: Die Tötung von sieben Menschen bei einem Gottesdienst in Wisconsin und weiterer vier Menschen in einem Gerichtssaal von Atlanta zeigen ein wachsendes und beunruhigendes amerikanisches Phänomen: den Ausbruch scheinbar willkürlicher und selbstzerstörerischer Gewalt.

Die Berichterstattung in den Medien trägt nicht dazu bei, die gesellschaftliche Bedeutung dieser Ereignisse aufzuhellen. Sie verschleiert sie im Gegenteil, indem sie die beiden Schützen, Brian Nichols in Atlanta und Terry Ratzmann in Wisconsin, als Einzelfälle darstellt, als Individuen, die ausschließlich von ihren persönlichen pathologischen Verhaltensweisen gelenkt wurden. In Wirklichkeit handelten sie als Produkt einer brutalen, gestörten und krisengeschüttelten Gesellschaft.

Im Fall von Wisconsin legten erste Berichte nahe, der Auslöser für Ratzmanns Ausrasten seien Geldsorgen gewesen - er stand kurz davor, seinen Arbeitsplatz als Computertechniker zu verlieren - oder er habe an einer Depression gelitten. Spätere Berichte besagten, dass lediglich Ratzmanns Arbeitseinsatz bei einer Leiharbeitsfirma zu Ende ging und er einen neuen Einsatz erwarten konnte; auch an Depressionen im klinischen Sinn litt er nicht.

Stattdessen wurde die Aufmerksamkeit auf die besonderen religiösen Auffassungen der Kirche gerichtet, die Ratzmann besuchte und in der er mit einer halbautomatischen 22er Pistole um sich schoss, wobei er sechs Menschen tötete, ehe er sich selbst die Kugel gab.

In Atlanta konzentrierten sich die Medien auf die offensichtlichen Sicherheitsmängel im Gerichtsgebäude. Nichols, ein 95 Kilo schwerer ehemaliger Athlet, überwältigte eine Hilfspolizistin, entriss ihr die Pistole, erschoss drei Menschen und floh dann aus dem Gerichtssaal, wo er wegen Vergewaltigung angeklagt war und eine lebenslange Gefängnisstrafe erwarten musste. Später erschoss er eine weitere Person und stahl deren Auto, bevor er sich der Polizei ergab.

Es wurde über grobe Fahrlässigkeit berichtet: Der Angriff auf die Polizistin wurde von einer Überwachungskamera aufgezeichnet, aber niemand hatte den Monitor im Auge. Überwachungsbänder zeigten auch, wie Nichols zu Fuß entkam, und trotzdem gab die Polizei eine Fahndung nach einem grünen Honda heraus, dessen Fahrer Nichols angeblich mit der Pistole auf den Kopf geschlagen hatte. Aber das Auto hatte die Tiefgarage nie verlassen.

Dem Fall von Atlanta ging im vergangenen Monat ein Mordfall in Chicago voraus, wo der Ehemann und die Mutter einer Bundesrichterin getötet worden waren. Ursprünglich war die Tat einer weißen Rassistengruppe zugeschrieben worden, die die Richterin ins Visier genommen hatte. Mittlerweile weiß man jedoch, dass das Verbrechen die Tat eines einzelnen Klägers war, Bart Ross, der seinen Prozess um eine Schadensersatzklage unter dieser Richterin verloren hatte. Ross, ein Krebspatient, hatte seinen Arzt wegen eines Kunstfehlers verklagt. Er erschoss sich selbst am 9. März in der Nähe von Milwaukee und hinterließ ein ausführliches Geständnis.

Der Mordfall Ross gleicht dem von Nichols und betrifft eine Person, die unter starkem Druck ausrastete. In seinem Fall war es erst das Leiden einer Krebserkrankung, darauf die Strahlenbehandlung und Operation, die ihm zwar das Leben retteten, ihn aber entstellten und ständige Schmerzen zurückließen. Berichte von Nachbarn und Verwandten schilderten einen Mann, der allmählich den Verstand verlor und gleichzeitig wegen seiner angeblich schlechten Behandlung durch Ärzte, Krankenhäuser, Anwälte und Richter einen Prozess nach dem anderen anstrengte.

Ross hatte mehr als 18.000 Dollar Schulden bei seiner Kreditkartenfirma. Er war gezwungen, sein Haus zu verkaufen und es zurückzumieten, wurde dann zwangsgeräumt und lebte in den letzten Wochen seines Lebens in einem Minivan. Richterin Joan Lefkow urteilte im vergangenen Jahr, dass seine Forderungen "offensichtlich unbegründet" waren, aber sie drückte ihr persönliches Mitgefühl mit dem Opfer aus, dessen Krankheit "ihn entstellt hatte, ihm ständige starke Schmerzen bereitete und ihn arbeitslos machte". Trotzdem richtete Ross seinen gesamten Frust gegen sie, fand ihren Wohnort im Norden von Chicago heraus, suchte ihn auf, verbarg sich dort und tötete ihren Ehemann und ihre Mutter, als diese ihn entdeckten.

Die Ereignisse in Atlanta und Chicago haben, wie nicht anders zu erwarten, dazu geführt, dass Forderungen nach verstärkten Sicherheitsmaßnahmen für Richter und im Gericht laut wurden. Wie in Amerika üblich, reagierten das politische Establishment und die Medien auf diese gewalttätigen Tragödien, indem sie mehr Polizei und verschärfte Maßnahmen forderten und somit die ständige Aufweichung demokratischer Rechte noch weiter vorantrieben. (Besonders der Zwischenfall in Atlanta hat die Forderung laut werden lassen, man dürfe den Gefangenen künftig vor ihrem Eintritt in den Gerichtssaal die Fesseln nicht mehr abnehmen. Der Sinn der bisherigen Regelung besteht darin, eine Voreingenommenheit der Jury gegenüber dem Angeklagten zu vermeiden.)

Im Fall Ratzmann liegt es auf der Hand, dass seine Tat mit seinem religiösen Glauben zu tun hat. Er war Mitglied der Living Church of God, einer von mehreren Abspaltungen der World Wide Church of God, die von dem verstorbenen Herbert W. Armstrong in Pasadena, Kalifornien, gegründet worden war und durch ihr Magazin Plain Truth [Einfache Wahrheit] und durch Armstrongs Fernsehsendung "Die morgige Welt" in evangelischen Kreisen Einfluss hat.

Nach Armstrongs Tod kam seine Kirche langsam davon ab, sich auf das unmittelbar bevorstehende Ende der Welt vorzubereiten, und wandte sich konventionelleren evangelischen Themen zu. Die Abspaltungen, darunter auch die Living Church of God, hielten jedoch an der Vorstellung der bevorstehenden "Endzeit" und an der Absonderung ihrer Kirchenmitglieder von der übrigen Menschheit fest, die sie in dem kommenden "Großen Schrecken" als dem Untergang geweiht ansehen.

Diese Kirche betrachtet Menschen nordwesteuropäischer Abstammung als Abkömmlinge der biblischen zehn verlorenen Stämme Israels - eine theologische Konzeption, die sich in extremer Form auch in den rassistischen Vorstellungen weißer Suprematistengruppen wie der Aryan Nations findet.

Es wird berichtet, dass ein spezieller Gottesdienst im Februar, bei dem ein Tonband mit einer Predigt des Kirchenführers Roderick C. Meredith abgespielt wurde, Ratzmanns Zorn erregt hatte. In der Predigt warnte Meredith, dass Anzeichen für ein bevorstehendes Ende der Welt "mit zunehmender Häufigkeit zu beobachten sind". Er drängte seine Anhänger, ihre Kreditkartenschulden zu bezahlen und genügend Geld für den Unterhalt für 60 Tage zurückzulegen, "für den Fall eines plötzlichen Zusammenbruchs des Bankensystems oder eines ähnlichen Notfalls". Ein Kirchenmitglied sagte der Polizei, Ratzmann sei in einem Wutanfall aus der Kirche gestürmt.

Augenzeugen und medizinischen Untersuchungen zufolge hatte es Ratzmann wohl auf den Pastor seiner Gemeinde, Randy L. Gregory, 51, einen ehemaligen IBM-Ingenieur, sowie seinen 17-jährigen Sohn James abgesehen, die er jeweils mit einem gezielten Schuss exekutierte, bevor er dann das Feuer auf die übrigen Kirchenmitglieder eröffnete. Er feuerte die ganze Zeit sehr überlegt, lud das Magazin sogar einmal nach, bis er nur noch wenige Kugeln übrig hatte. Dann nahm er sich selbst das Leben.

Brian Nichols, den Schützen von Atlanta, beschrieb seine Schwägerin als einen "guten Menschen". Sie erklärte: "Er kam nicht aus schwierigen Verhältnissen. Er hat nicht auf der Straße herumgehangen oder mit einem Bein im Gefängnis. Er lebte ein gutes Leben." In einer wohlsituierten, kleinbürgerlichen schwarzen Familie aufgewachsen, besuchte Nichols zwei verschiedene Colleges, schloss aber beide nicht ab, das eine Mal, weil er der Körperverletzung beschuldigt wurde, das anderen Mal, weil er wegen Diebstahls aus dem Football Team rausflog.

Nichols lebte seit 1995 in der Region Atlanta und arbeitete zuletzt als Computertechniker bei einer Tochtergesellschaft von United Parcel Service. Den Arbeitsplatz verlor er im September vergangenen Jahres, als er wegen Vergewaltigung verhaftet und angeklagt wurde. Seine Ex-Freundin beschuldigte ihn, in ihre Wohnung eingedrungen zu sein, sie mit Klebeband gefesselt und drei Tage lang sexuell missbraucht zu haben. Er habe eine geladene Maschinenpistole dabei gehabt. In den letzten sechs Monaten saß er im Gefängnis von Fulton County ein, aber sein erster Prozess scheiterte. Der neue Prozess - bei dem ihm bei Verurteilung eine lebenslange Haftstrafe drohte - sollte an dem Tag beginnen, an dem Nichols die Hilfspolizistin überwältigte und ihre Waffe an sich nahm.

Zwar tötete sich Nichols nicht selbst, wie Ratzmann, allerdings scheint auch er seine Selbstzerstörung angestrebt zu haben. Er marschierte in den Gerichtssaal, in dem sein Fall verhandelt werden sollte, und erschoss den Richter und den Gerichtsreporter. Danach hatte er eigentlich kaum Chancen, das Gerichtsgebäude von Fulton lebendig zu verlassen. Als er es trotzdem schaffte, unternahm er nur geringe Anstrengungen, der massiven Polizeifahndung in Nordgeorgia zu entkommen. Zu einer Frau, die er als Geisel genommen hatte, sagte er, als ein Bericht über die Fahndung im Fernsehen lief: "Schau mir in die Augen, ich bin schon tot."

Die Art und Weise, wie Nichols April Smith behandelte, die Frau, die er mehrere Stunden als Geisel festhielt, zeigte eine ganz andere Seite seines Wesens als die, die bei seinem Amoklauf im Gerichtsgebäude sichtbar wurde. Er soll lange Diskussionen mit der Frau geführt und mitfühlend auf die Schilderung ihrer Lage reagiert haben - sie ist eine junge Witwe mit einem kleinen Kind, seitdem ihr Mann vor einigen Jahren erstochen wurde - und schließlich ließ er sie laufen, wohl wissend, dass sie die Polizei rufen würde. Als diese kam, winkte er mit einem weißen Tuch und ergab sich ohne Gegenwehr.

Auf den ersten Blick gibt es natürlich viele Unterschiede zwischen den Mordfällen in Wisconsin und Georgia. Der eine Fall fand in einer Stadt im Süden, der andere in einem Vorort im Norden statt. Ein Täter war schwarz, der andere weiß. Das Opfer des einen waren Vertreter der Staatsmacht - ein Richter, ein Gerichtsreporter, eine Hilfspolizistin und ein Zollbeamter - der andere richtete seinen Frust gegen Mitglieder seiner eigenen Kirchengemeinde. Der eine tötete sich am Ort seines Amoklaufs, der andere floh, nahm eine Geisel und ergab sich dann ohne Zwischenfall.

Die Männer waren beide Computertechniker, hatten aber ansonsten einen durchaus unterschiedlichen gesellschaftlichen Hintergrund.

Nichols wuchs eher behütet auf, sein Vater war Geschäftsmann, seine Mutter war bei der Steuerbehörde beschäftigt. Er besuchte Privatschulen und ein paar Jahre College. Ratzmann hatte wirtschaftlich zu kämpfen. Nichols war schon vorher gewalttätig gewesen und saß unter der Beschuldigung im Gefängnis, seine Ex-Freundin sexuell missbraucht zu haben. Ratzmann, unverheiratet, lebte bei Mutter und Schwester und war noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten.

Was jedoch hier zum Ausdruck kommt, vermittelt durch charakteristische Zufälle persönlicher Biografien, ist eine gesellschaftliche Tendenz. So ist das Besondere an den jüngsten Ereignissen nicht ihr blutiger Ablauf, sondern die hohe Zahl der Opfer. Wenn Ratzmann und Nichols "nur" ein Opfer und dann sich selbst getötet hätten, dann wäre davon kaum Notiz genommen worden. Solche Tragödien finden in den Vereinigten Staaten täglich statt. Die Bluttaten in Georgia und Wisconsin sind keineswegs Einzelfälle, sondern beleuchten ein Verhaltensmuster, das tiefere gesellschaftliche Wurzeln haben muss.

Die Spannungen in der amerikanischen Gesellschaft - verschärft durch finanzielle Probleme, Beziehungskonflikte, Krankheiten oder einfach die Suche nach dem Sinn des Lebens - finden heute keinen positiven oder fortschrittlichen Ausweg. Es existiert keine große soziale oder politische Bewegung, die der breiten Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung, die nicht wohlhabend ist und Jahr für Jahr mühsamer um ihre Existenz kämpfen muss, Hoffnung oder eine positive Perspektive gäbe.

Die herrschende Elite verschließt systematisch alle Möglichkeiten, diesen gesellschaftlichen Spannungen innerhalb des bestehenden politischen und ökonomischen Systems Ausdruck zu geben. Die beiden offiziellen politischen Parteien vertreten nur die Interessen unterschiedlicher Fraktionen der gleichen Finanzoligarchie. Organisationen wie die Gewerkschaften oder Bürgerrechtsgruppen, die früher noch, wie begrenzt auch immer, eine Möglichkeit boten, die Interessen der Unterdrückten zu äußern, sind vollkommen kastriert worden.

Das Justizsystem, die letzte Hoffnung verzweifelter Menschen wie Bart Ross, wird ebenfalls versperrt. Der Kongress hat schon Gesetze verabschiedet, um Sammelklagen in den meisten Fällen zu verhindern, und steht kurz davor, ein Konkursgesetz zu verabschieden, das die traditionelle Rettung für bankrotte kleine Geschäftsleute und eine wachsende Zahl von Arbeitern und Leuten aus der Mittelschicht verbaut. Als nächstes steht eine "Fehlverhaltensreform" auf der Tagesordnung, damit die Opfer von medizinischen Irrtümern oder Delikten vor Gericht keine Genugtuung mehr bekommen können.

Ein Sicherheitsventil nach dem anderen wird verschlossen. Aber die gesellschaftlichen Spannungen nehmen weiter zu, angeheizt von der enormen und ständig wachsenden gesellschaftlichen Polarisierung, die das amerikanische Leben bestimmt. Während eine winzige Minderheit riesige Reichtümer aufhäuft, müssen Dutzende Millionen arbeitender Menschen unter immer schwierigeren Verhältnissen leben. Heute zeigt sich diese soziale Krise zumeist noch in den Taten labiler Individuen, wobei Faktoren wie Gemütszustand, psychische Krankheit oder religiöse Verwirrung eine große Rolle spielen. Über kurz oder lang werden diese gesellschaftlichen Spannungen aber einen breiteren - und politisch bewussten - Ausdruck finden. Das erfordert den Aufbau einer politischen Massenbewegung von unten, die die vorherrschende Atmosphäre politischer und kultureller Reaktion durchbricht und die verkommene und krank machende kapitalistische Ordnung beseitigt.

Siehe auch:
Das Massaker an der Columbine High School
(28. April 1999)
An epidemic of murder-suicide in the US
( 16 March 2005)
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