Die politische Bedeutung der Anklage gegen Lewis Libby

Die Anklage gegen I. Lewis Libby, den Stabschef von US-Vizepräsident Dick Cheney, hat nicht nur das Weiße Haus, sondern das ganze politische Establishment in den USA erschüttert. Libby wurde am 28. Oktober Meineid und Behinderung der Justiz bei der Untersuchung vorgeworfen, die das Justizministeriums über die Enttarnung einer CIA-Agentin durchführt.

Libby war einer der wichtigsten Urheber der Invasion im Irak. Der Vorwurf, er habe die Unwahrheit über eine schmutzige Regierungskampagne gegen einen Kriegskritiker gesagt, trifft auch den Vizepräsidenten und Bush selbst.

Wie die New York Times am 29. Oktober schrieb, befand sich Libby "in der exponierten Position eines Vollmitglieds von Präsident Bushs innerem Kreis... Er hatte drei Schlüsselpositionen gleichzeitig inne: Er war Assistent des Präsidenten, Stabschef des Vizepräsidenten und Mr. Cheneys nationaler Sicherheitsberater".

Der Anklage gegen Libby liegt eine tiefe Krise der amerikanischen Außenpolitik zugrunde, die in erster Linie Folge der katastrophalen Auswirkungen der US-Invasion im Irak ist. Sie kommt zu einer Zeit, in der die inneramerikanische Opposition gegen den Krieg und gegen die wirtschaftliche Schlechterstellung eines großen Teils der arbeitenden Bevölkerung zunimmt.

Die Krise ist nicht nur das Ergebnis der persönlichen Beschränktheit Bushs und der subjektiven Neigungen Cheneys, Rumsfelds und ihrer Mitverschwörer. Sie wurzelt in einer objektiven Krise von historischen Ausmaßen: Der amerikanische Imperialismus ist in einer Sackgasse angelangt, aus der er nur Krieg und Reaktion als einzigen Ausweg kennt.

Das verleiht der US-Regierung ihren kriminellen Charakter. Je mehr sie sich in ihren eigenen Widersprüchen verstrickt, desto gefährlicher und brutaler reagiert sie. Es wäre ein verhängnisvoller Fehler, zu glauben, die Reaktion der Bush-Regierung auf die Anklage gegen Libby werde in einem Kompromiss und dem Rückzug von ihrer Politik des Militarismus und der sozialen Reaktion bestehen. Sie wird instinktiv darauf reagieren, indem sie zu noch extremeren Maßnahmen greift.

Dies kann man schon daran sehen, dass die Bush-Regierung nach dem Scheitern ihrer Nominierung von Harriet Miers für das Oberste Gericht der christlichen Rechten zu verstehen gab, der nächste Kandidat werde ganz nach dem Geschmack der neofaschistischen "Basis" der Regierung sein.

Trotz der Krise und dem Chaos in seiner Regierung hat Bush einen großen Vorteil: die so genannte Opposition, die Demokratische Partei, hat kein Interesse daran, dass seine Regierung stürzt. Die Feigheit und Komplizenschaft der Demokraten in der Kriegsfrage verschafft Bush die nötige Zeit, um seine Pläne für eine Gegenoffensive zu entwickeln.

Die Anklage gegen Libby fußt auf dem Versuch des Weißen Hauses, den früheren Diplomaten Joseph Wilson zu diskreditieren. Im Juli 2003, als US-Besatzungskräfte keinerlei Beweise für die Existenz irakischer Massenvernichtungswaffen finden konnten und der antiamerikanische Aufstand zu wachsen begann, veröffentlichte Wilson in der New York Times eine Kolumne und entlarvte die Fälschung eines der zentralen "Beweisstücke", auf die Bush und andere Spitzenregierungspolitiker ihre Mär vom nuklear-bewaffneten Terrorregime in Bagdad gestützt hatten. Es handelte sich um die Behauptung, Saddam Hussein habe versucht, im afrikanischen Staat Niger Uran zu kaufen.

Wilson enthüllte, dass er im Jahr zuvor von der CIA nach Niger geschickt worden war, um der Uran-Geschichte nachzugehen, und dass er zum Schluss gekommen war, es handle sich dabei um eine Fälschung. Er beschuldigte die Bush-Regierung, Geheimdienstmaterial verdreht zu haben, um das amerikanische Volk in den Krieg zu zerren.

Die Regierung ließ darauf an die Presse durchsickern, dass Wilsons Frau, Valerie Plame Wilson, eine CIA-Agentin sei, und dass sie Wilson den Auftrag "verschafft" habe, die Geschichte mit dem afrikanischen Uran zu überprüfen. Das Ziel war, Wilson in Misskredit zu bringen und andere mögliche Informanten, die ebenfalls die Lügen der Regierung hätten entlarven können, abzuschrecken.

Dieses Komplott, einen Kriegskritiker zum Schweigen zu bringen, war nur ein kleiner Teil eines umfangreichen Geflechts aus Kriminalität und Lügen. Es war der Ausfluss des zentralen Verbrechens: der unprovozierten Invasion des Irak, die durch das systematische und bewusste Belügen des amerikanischen Volkes gerechtfertigt wurde. Nach den Prinzipien, die für das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal entwickelt worden waren, müsste Bush, Cheney, Libby und anderen wegen dieser Verschwörung zur Eröffnung eines Angriffskriegs die Höchststrafe drohen.

Die Bush-Regierung erhob die illegale Begründung für den Irakkrieg in den Rang einer außenpolitischen Doktrin. Diese Doktrin des "Präventivkriegs" steht in direktem Widerspruch zu internationalem Recht. Sie hat zur verbreiteten Anwendung von Folter, zum "Verschwindenlassen" angeblicher Terroristen und der Einrichtung von amerikanischen Gulags in verschiedenen Teilen der Welt geführt.

Das Ausmaß der Verbrechen und der Lügen, mit denen sie gerechtfertigt oder verschleiert wurde, ist so groß, dass das eigentlich Verwunderliche nicht die Tatsache ist, dass jetzt ein Aspekt der Verschwörung ans Licht gekommen ist und einer der Täter angeklagt wurde, sondern dass es Jahre gedauert hat, bis der Regierung ernste Konsequenzen drohen.

Diese Regierung hat alles verschleiert: ihre eigene Rolle bei dem so genannten "Versagen der Geheimdienste", das es einer Bande islamischer Terroristen ermöglichte, das World Trade Center in die Luft zu sprengen und das Pentagon anzugreifen; ihre Politik der Folter an Gefangenen im so genannten Krieg gegen den Terror; ihre Verschwörung, das Land in einen illegalen Krieg zu stürzen, der schon heute 100.000 Irakern und mehr als 2.000 amerikanischen Soldaten das Leben gekostet hat.

Außerdem ist diese Regierung durch Betrug und die Unterschlagung von Stimmen ins Amt gekommen.

Und doch hat sie von der Demokratischen Partei, dem Kongress und den Medien freie Hand bekommen. Die Untersuchung der Bloßstellung einer CIA-Agentin, die jetzt zu Libbys Anklage geführt hat, geht nicht auf Forderungen der Demokratischen Partei, Ermittlungen des Kongresses oder der etablierten Presse zurück. Sie ist vielmehr das Ergebnis zunehmender Spannungen und gerichtlicher Auseinandersetzungen zwischen der CIA und dem Außenministerium auf der einen Seite und dem Weißen Haus, Cheney und dem Pentagon auf der anderen Seite.

In der CIA haben sich Zorn und Wut über die Verachtung angestaut, mit der Cheney und Rumsfeld die Agentur und ihr Personal behandeln. Unzufrieden mit den Berichten der CIA zu den irakischen Massenvernichtungswaffen, versuchte Cheney CIA-Analysten unter Druck zu setzen, um Berichte zu bekommen, mit denen eine Invasion gerechtfertigt werden konnte. Gleichzeitig baute er eine eigene Spionageeinheit an den normalen Kanälen vorbei auf, die die bedrohlichsten Berichte ausspuckte.

Als die Regierung Valerie Plame Wilson, eine verdeckt arbeitende CIA-Agentin, bloßstellte, war die CIA-Bürokratie schockiert, dass sie aus Gründen politischen Kalküls ein so grundlegendes Prinzip der Geheimdienstarbeit verletzte. Sie entschloss sich zurückzuschlagen. Eine offizielle Aufforderung der CIA zwang den damaligen Justizminister John Ashcroft schließlich, eine Untersuchung über die Bloßstellung Wilsons einzuleiten und einen Sonderermittler mit der Untersuchung zu betrauen.

Dass die Behauptungen der Regierung über irakische Massenvernichtungswaffen entweder grob übertrieben oder völlig aus der Luft gegriffen waren, war in Kreisen des politischen und medialen Establishments durchaus bekannt. Selbst die Waffeninspektoren der UN und der Internationalen Atomenergieagentur hatten Washingtons Anschuldigungen zurückgewiesen. Und es war bekannt, dass die Bush-Regierung von Neokonservativen dominiert wurde, die schon seit dem ersten Golfkrieg von 1991 für einen neuen Krieg agitiert hatten, um Saddam Hussein zu stürzen und den Irak mit seinen riesigen Ölvorkommen in ein amerikanisches Protektorat zu verwandeln.

Die Verteidiger des Kriegs und der Bush-Regieurng weisen immer wieder darauf hin, dass auch die demokratische Vorgängerregierung Bill Clintons behauptet hatte, der Irak entwickle Massenvernichtungswaffen. Damit wollen sie beweisen, dass das Weiße Haus nicht bewusst gelogen habe. Clinton rechtfertigte mit seiner Behauptung den gnadenlosen Druck auf das Baath-Regime, darunter die ständigen Luftangriffe und Sanktionen, denen damals Hunderttausende irakischer Bürger und die Infrastruktur des Landes zum Opfer fielen.

Natürlich stimmt es, dass beide Parteien den Mythos der irakischen Massenvernichtungswaffen am Leben erhielten. Das beweist aber nicht Bushs Unschuld, sondern zeigt bloß, wie stark die Fehlinformation über irakische Massenvernichtungswaffen ein ganzes Jahrzehnt lang eine wesentliche Konstante der imperialistischen Außenpolitik der USA bildete. Diese Lüge war von so entscheidender Bedeutung, dass sie ein Eigenleben annahm und unmöglich in Frage gestellt werden konnte.

Der parteiübergreifende Konsens um diese Lüge und ihre unvermeidlichen blutigen Konsequenzen wurde im Wahlkampf von 2004 von James Rubin ausgesprochen, einem hohen Beamten im Außenministerium der Clinton-Ära und Berater des demokratischen Präsidentschaftskandidaten John Kerry. Rubin erklärte, wenn der Demokrat Al Gore die Wahl 2000 gewonnen hätte, wäre der Irak trotzdem überfallen worden.

Diese politischen Tatsachen zeigen, dass jede Institution des amerikanischen Kapitalismus in das Verbrechen dieses Aggressionskriegs und die Verschwörung gegen die demokratischen Rechte der amerikanischen Bevölkerung verwickelt ist. Aber unbeschadet der Komplizenschaft und der Kapitulation der Demokratischen Partei und der Medien zeigt sich, dass es ein enorm gewagtes Unterfangen ist, das Land auf der Grundlage von Lügen in einen Krieg zu ziehen, und dass die Akteure mit unerwarteten Konsequenzen rechnen müssen.

Was letztlich hinter der Anklage gegen Libby und der Krise des politischen Systems der USA steht, ist die Unfähigkeit des amerikanischen Militärs, den irakischen Widerstand zu brechen, und das Anwachsen der Opposition gegen den Krieg in der amerikanischen Bevölkerung selbst. Diese Opposition hat durch die katastrophale Reaktion der Regierung auf den Hurrikan Katrina und die zunehmenden Angriffe der Wirtschaft auf Arbeitsplätze und Lebensstandard der Arbeiterklasse noch zugenommen.

Jeder Teilnehmer an der Verschwörung zur Invasion und Besetzung des Irak hat eine juristische Bestrafung voll und ganz verdient. Aber Militarismus, Krieg und der Angriff auf demokratische Rechte und Lebensbedingungen werden nicht durch die Institutionen des Systems aufgehalten, das selbst für diese Verbrechen verantwortlich ist.

Die amerikanische Bevölkerung steht vor der Gefahr, dass die herrschende Elite als Reaktion auf ihre wachsenden und unlösbaren Probleme im Ausland und zu Hause weitere Schläge führen wird. Gleichgültig wie weit überdehnt und blockiert das US-Militär im Irak und Afghanistan auch sein mag, es wird zur Ausweitung des Kriegs im Nahen und Mittleren Osten getrieben werden.

Der Leitartikel der New York Times vom 29. Oktober ist deutlich. Einen Tag nach der Anklage gegen Libby veröffentlichte die Times, die eine Schlüsselrolle bei der Verbreitung der Lügen der Regierung und ihrer Kriegsvorbereitungen gegen den Irak spielte, einen Artikel über den Iran, in dem als feststehende Tatsache gesagt wird: "Das Problem ist, dass der Iran ein Atomwaffenprogramm hat..."

Diese Behauptung, die von der Internationalen Atomenergiebehörde bestritten wird und für die es keinerlei Beweise gibt, dient in der gleichen Weise der Vorbereitung auf Militärschläge gegen den Iran, wie es die Konstrukte über Massenvernichtungswaffen hinsichtlich des Irak taten.

Der einzige Weg, um die Kriege im Irak und Afghanistan zu beenden und künftige, noch blutigere Katastrophen zu vermeiden, besteht in der unabhängigen Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen das Zwei-Parteien-System und die Finanzaristokratie, deren Interessen es dient.

Siehe auch:
Eine Lügenregierung - die politische Bedeutung der Rove-Affäre
(27. Juli 2005)
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