Frankreich:

Straßenschlachten lösen Regierungskrise aus

Die nächtlichen Unruhen in den Pariser Vororten gehen in die zweite Woche. Es gibt heftige Zusammenstöße zwischen der Polizei und Jugendlichen meist maghrebinischer und afrikanischer Herkunft. Mittwochnacht wurden in Seine-Saint-Denis nordwestlich von Paris eintausend Polizisten eingesetzt. Die Hälfte der vierzig Städte des Departements waren von Gewaltausbrüchen betroffen. Zum ersten Mal wurden auch Schüsse auf Polizeibeamte abgefeuert, und ein offizieller Sprecher beschrieb die Ereignisse als bürgerkriegsähnliche Zustände.

Die Konflikte haben zu einer scharfen Krise der französischen Regierung geführt. Premierminister Dominique de Villepin sagte einen geplanten Besuch in Kanada ab und Innenminister Nicolas Sarkozy strich Besuche Afghanistans und Pakistans. Die Regierung de Villepins traf sich mit Präsident Jacques Chirac zu mehreren Krisensitzungen, um die Lage zu erörtern.

Die Unruhen waren am Abend des 27. Oktober ausgebrochen, als zwei Jugendliche, die auf der Flucht vor der Polizei auf eine Trafostation geklettert waren, von Starkstrom getötet wurden. Der Tod der beiden Jungen entzündete die Zusammenstöße zwischen Jugendlichen und 400 bis 500 von Sarkozy eingesetzten Bereitschaftspolizisten in Clichy-sous-Bois. Seitdem hat es jede Nacht Proteste und Zusammenstöße mit bewaffneter Polizei gegeben, die schnell auf andere Arbeitervororte übergriffen.

Die Ausbrüche sind das Ergebnis von verzweifelter Armut, Massenarbeitslosigkeit und einer offen rassistischen Law-and-Order Kampagne, an deren Spitze Sarkozy steht, der wichtigste Rivale Chiracs in der gaullistischen Union pour un Mouvement Populaire (UMP) und wichtigste Kandidat für dessen Nachfolge bei der nächsten Präsidentschaftswahl. Sarkozy hat bewaffnete Polizei in die hauptsächlich von Einwanderern bewohnten Slums geschickt und deren Einwohner als "Abschaum" und "Eiterbeulen" bezeichnet.

Am Mittwoch fanden eine Ministerratssitzung und ein Treffen der Fraktion der Gaullisten in der Nationalversammlung statt. In der Fragestunde der Nationalversammlung kritisierten Abgeordnete der Sozialistischen und der Kommunistischen Partei Sarkozy, der sich aber nicht äußerte. Die Abgeordneten warfen ihm vor, durch seine Politik der harten Hand und seine provokativen Äußerungen eine soziale Explosion ausgelöst zu haben. De Villepin antwortete an seiner Stelle und versuchte, eine einheitliche Regierungslinie zu präsentieren. Aber es gab zahlreiche Berichte, dass Abgeordnete Sarkozy bei einem nichtöffentlichen Treffen der gaullistischen Fraktion heftig angegriffen haben.

Im Ministerrat hatte Chirac gefordert, ein Programm für die Erneuerung der Städte zu beschleunigen. Er entzog Sarkozy die Verantwortung für das Programm zur Verbrechensvorbeugung und übertrug es de Villepin, der daraufhin ankündigte, er werde für "gleiche Chancen" sorgen und einen "Aktionsplan" für mehr Arbeitsplätze für Jugendliche in Seine-Saint-Denis erstellen, dem Departement, in dem neben Clichy auch viele andere Kommunen liegen, in denen seit dem 27. Oktober Unruhen ausgebrochen sind. De Villepin rivalisiert mit Sarkozy um die Präsidentschaftskandidatur 2007.

Die provokative Sprache Sarkozys gegenüber den Jugendlichen der großen Wohnstädte ist Teil seiner Bemühungen, eine extrem rechte und rassistische Bewegung unter der Führung der UMP und ihm selbst aufzubauen. Er hofft, dass ihm das nicht nur die Präsidentschaft, sondern auch die nötige Unterstützung für die Angriffe auf die Arbeiterklasse eintragen werde, um den Widerstand gegen die Zerstörung des Sozialstaats und der Arbeiterrechte zu brechen.

Seit Beginn der laufenden Legislaturperiode im Jahre 2002 versucht Sarkozy die Rechte von Angeklagten zu schmälern und die Vollmachten der Polizei zu erweitern. Er hat Sondereinheiten der Polizei für den Einsatz in unruhigen Vorstädten aufgestellt.

Das ging Hand in Hand mit einer Dämonisierung von Einwandererjugendlichen und dem Anheizen von Moslem-feindlichen Stimmungen, die in dem gesetzlichen Verbot gipfelten, das muslimische Kopftuch in staatlichen Schulen zu tragen. Dieses Verbot wurde 2004 mit Unterstützung buchstäblich des gesamten politischen Establishments verabschiedet. Auch die Sozialistische Partei machte dabei keine Ausnahme.

Mehr als zwanzig Jahre Kürzungspolitik und Angriffe auf den Lebensstandard und die Rechte der Arbeiter haben die soziale Lage bis zum Zerreißen angespannt. An den Angriffen haben sich sämtlicher Regierungen, die rechten wie die "linken" beteiligt.

Die chronische Arbeitslosigkeit, die im Landesdurchschnitt zehn Prozent beträgt, ist in vielen Pariser Wohnstädten auf fünfzig Prozent und mehr gestiegen. Die Politik der gaullistischen Regierung, unsichere und befristete Arbeitsverhältnisse zu fördern, wurde durch starke Kürzungen bei der Arbeitslosenunterstützung noch zugespitzt. Steigende Gas- und Benzinpreise haben den ökonomischen Druck auf die betroffenen Bevölkerungsschichten zusätzlich erhöht.

Die Massenreaktion in der Nacht der Tragödie in der Siedlung Chêne-Pointu ist auf viele andere Siedlungen der Pariser Vororte übergesprungen. In den letzten Tagen haben kleine Gruppen von Jugendlichen Autos und Abfallbehälter angezündet, Feuerwehrleute angegriffen, die die Feuer löschen wollten, und sich ständig Auseinandersetzungen mit der Polizei geliefert.

Die Regierung fürchtet, dass die Ausschreitungen in Paris Unruhen in ganz Frankreich auslösen könnten. Bisher sind nicht nur Städte im Departement Seine-Saint-Denis betroffen, sondern auch Wohnsiedlungen in den Departements Val d’Oise und Yvelines im Großraum Paris.

Die Spannungen verschärften sich weiter, als am 31. Oktober eine Tränengasgranate in eine Moschee geschossen wurde. In der folgenden Nacht sollen 1.250 Autos in Flammen aufgegangen und eine Grundschule verwüstet worden sein.

Inzwischen hat es auch im tausend Kilometer entfernten Pau nahe der spanischen Grenze in der Wohnsiedlung Ousse des Bois in drei aufeinander folgenden Nächten Zusammenstöße zwischen Jugendlichen und der Polizei gegeben.

Trotz einer gewissen Besorgnis in herrschenden Kreisen sind sich alle über die Notwendigkeit einig, mit stärkerer Repressionsmaßnahmen gegen die Unruhen vorzugehen. Der Minister für sozialen Zusammenhalt, Jean-Louis Borloo, sagte, die Regierung müsse "fest" reagieren, während der UMP-Abgeordnete Jacques Myard beklagte, die Regierung habe sich schwach gezeigt, weil sie "Schritt für Schritt akzeptiert hat, dass Jugendliche jede Nacht Autos anzünden, Geschäfte zerstören usw. Diese Kerle werden jeden Vorwand zu Unruhen, Demonstrationen und Zerstörungen nutzen."

Die Sozialistische Partei, die Grünen und die Kommunistische Partei halten sich zwar viel darauf zugute, dass sie Sarkozys Exzesse kritisieren und eine Stärkung der Sozialleistungen fordern, die von der Regierung gekürzt wurden, aber alle ihre Strömungen haben die Polizei aufgefordert, die Unruhen zu unterdrücken.

Dominique Strauss-Kahn von der Sozialistischen Partei, ein ehemaliger Minister in Lionel Jospins Linkskoalition und Bewerber um die Kandidatur der Sozialistischen Partei für die Präsidentschaftswahl 2007, erklärte im Radiosender Europe 1: "Ich verurteile die Ereignisse von Clichy-sous-Bois auf das Schärfste. In Sachen von Recht und Ordnung muss eine ganz feste Haltung eingenommen werden... Repression und Vorbeugung müssen gleichermaßen zum Einsatz kommen."

In vielen dieser Kommunen tragen die Sozialistische Partei und die Kommunistische Partei seit Jahrzehnten die Verantwortung und sichern der französischen herrschenden Klasse den Frieden, während die sozialen Bedingungen verfallen. Sie tragen gleichfalls Verantwortung für die Sparpolitik und die Stärkung der Rolle der Polizei, die diesem Zornesausbruch der unterdrückten und verarmten Jugendlichen, der Frankreich jetzt erschüttert, zu Grunde liegen.

Siehe auch:
Nach dem Scheitern des französischen EU-Referendums: Chirac wechselt Regierung
(3. Juni 2005)
Nationalversammlung verbietet das muslimische Kopftuch an Schulen
( 24. Februar 2004)
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