Erster Vortrag: Die Russische Revolution und die ungelösten Probleme des 20. Jahrhunderts

Die Socialist Equality Party (USA) und die World Socialist Web Site veranstalteten vom 14. bis 20. August 2005 eine Sommerschule in Ann Arbor, Michigan. Der vorliegende Vortrag stammt von David North, dem Chefredakteur der WSWS.

Historisches Wissen und Klassenbewusstsein

Wir beginnen heute eine einwöchige Vortragsreihe zum Thema "Marxismus, Oktoberrevolution und die historischen Grundlagen der Vierten Internationale". Im Verlauf dieser Vorträge wollen wir die historischen Ereignisse, die theoretischen Auseinandersetzungen und die politischen Kämpfe untersuchen, aus denen die Vierte Internationale hervorgegangen ist. Wir wollen uns dabei auf die ersten 40 Jahre des 20. Jahrhunderts konzentrieren. Diese Begrenzung ist teilweise durch die Zeit vorgegeben, die uns zur Verfügung steht: In einer Woche kann man nur eine gewisse Menge besprechen, und es ist schon ein ziemlich ehrgeiziges Unterfangen, die ersten vier Jahrzehnte des letzten Jahrhunderts in nur sieben Tagen durchzuarbeiten. Die Konzentration auf die Zeit zwischen 1900 und 1940 entspricht aber auch einer gewissen Folgerichtigkeit.

Als Leo Trotzki im August 1940 ermordet wurde, hatten bereits alle Ereignisse stattgefunden, welche die grundlegenden politischen Charakteristika des 20. Jahrhunderts bestimmen sollten: Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges im August 1914; die Eroberung der politischen Macht durch die Bolschewiki im Oktober 1917 und die darauf folgende Errichtung der Sowjetunion, des ersten sozialistischen Arbeiterstaates; der Aufstieg der USA zum mächtigsten imperialistischen Staat als Ergebnis des Ersten Weltkrieges; die Niederlage der Linken Opposition und der Ausschluss Trotzkis aus der Kommunistischen Partei und der Dritten Internationale 1927; der Börsenkrach im Oktober 1929 und der Beginn der Weltkrise der kapitalistischen Wirtschaft; der Aufstieg Hitlers und der Sieg des Faschismus in Deutschland im Januar 1933; die Moskauer Prozesse und der politische Genozid gegen sozialistische Intellektuelle und Arbeiter in der UdSSR; der Verrat und die Niederlage der Spanischen Revolution 1937-38 unter der Ägide der stalinistisch geführten Volksfront; der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im September 1939 und der Beginn der Ausrottung des europäischen Judentums.

Wenn wir sagen, die grundlegenden politischen Charakteristika des 20. Jahrhunderts seien in diesen vier Jahrzehnten festgelegt worden, dann meinen wir das in folgendem Sinne: Alle bedeutenden politischen Probleme, vor denen die internationale Arbeiterklasse während der Nachkriegsperiode stehen sollte, konnten nur verstanden werden, wenn sie durch das Prisma der strategischen Lehren aus den großen revolutionären und konterrevolutionären Erfahrungen der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg betrachtet wurden.

Die Analyse der Politik der sozialdemokratischen Parteien nach dem Zweiten Weltkrieg setzt ein Verständnis der historischen Implikationen des Zusammenbruchs der Zweiten Internationale im August 1914 voraus. Der Charakter der Sowjetunion, der nach dem Krieg in Osteuropa etablierten Regime und des maoistischen Regimes, das im Oktober 1949 in China an die Macht gelangte, konnten nur auf der Grundlage des Studiums der Oktoberrevolution und der langwierigen Degeneration des ersten Arbeiterstaates verstanden werden. Schließlich konnten die Antworten auf die Probleme der Welle antikolonialistischer und antiimperialistischer Revolutionen, die nach 1945 über Asien, den Mittleren Osten, Afrika und Lateinamerika hinwegrollte, nur durch ein gründliches Studium der politischen und theoretischen Kontroversen um Trotzkis Theorie der permanenten Revolution gefunden werden, die er erstmals im Jahre 1905 formuliert hatte.

Ihren tiefsten Ausdruck fand die Beziehung zwischen historischer Kenntnis einerseits und politischer Analyse und Orientierung andererseits in den letzten Jahren der Sowjetunion. Als Michail Gorbatschow im April 1985 an die Macht kam, befand sich das stalinistische Regime in einer verzweifelten Krise. Der Niedergang der sowjetischen Wirtschaft, durch steigende Ölpreise während der siebziger Jahre kurzfristig hinausgezögert, konnte nicht länger verheimlicht werden, als der Ölpreis auf einmal stark fiel. Was unternahm der Kreml, um diesen Niedergang aufzuhalten? Fragen der Politik waren unmittelbar mit unbeantworteten Fragen der sowjetischen Geschichte verknüpft.

Über sechzig Jahre hinweg hatte das stalinistische Regime eine unausgesetzte Kampagne historischer Fälschung betrieben. Die Bürger der Sowjetunion hatten praktisch keinerlei Kenntnis ihrer eigenen revolutionären Geschichte. Die Werke Trotzkis und seiner Mitstreiter waren jahrzehntelang zensiert und unterdrückt worden. Es existierte kein einziges glaubwürdiges Werk über sowjetische Geschichte. Jede neue Ausgabe der offiziellen sowjetischen Enzyklopädie revidierte die Geschichte in Übereinstimmung mit den politischen Interessen und Instruktionen des Kreml. Wie unser verstorbener Genosse Wadim Rogowin einmal sagte: In der Sowjetunion war die Vergangenheit so unvorhersehbar wie die Zukunft!

Für jene Flügel der Bürokratie und der privilegierten Nomenklatur, welche die Abwicklung der nationalisierten Industrie, die Wiedereinführung des Privateigentums und die Restauration des Kapitalismus befürworteten, war die Wirtschaftskrise der Sowjetunion der Beweis, dass der Sozialismus versagt habe und die Oktoberrevolution ein katastrophaler historischer Fehler gewesen sei, aus dem sich alle nachfolgenden sowjetischen Tragödien unvermeidlich ergeben hätten. Die ökonomischen Rezepte, die diese Marktbefürworter vertraten, basierten auf einer Interpretation der Sowjetgeschichte, die den Stalinismus als unvermeidliches Ergebnis der Oktoberrevolution darstellte.

Man konnte diesen Befürwortern der kapitalistischen Restauration nicht einfach auf ökonomischer Basis entgegentreten. Die Zurückweisung ihrer pro-kapitalistischen Argumente verlangte eine Untersuchung der sowjetischen Geschichte. Es musste gezeigt werden, dass der Stalinismus weder das notwendige, noch das unvermeidliche Ergebnis der Oktoberrevolution war. Man musste zeigen, dass eine Alternative zum Stalinismus nicht nur theoretisch denkbar gewesen war, sondern tatsächlich existiert hatte: In Form der Linken Opposition unter der Führung Leo Trotzkis.

Was ich hier und heute sage, deckt sich mehr oder weniger mit einem Vortrag, den ich im November 1989 vor einem Publikum von Studenten und Dozenten am Institut für Historische Archive der Universität Moskau hielt. Ich begann meinen Vortrag zum Thema "Die Zukunft des Sozialismus" mit der Bemerkung, man müsse "sich recht eingehend mit der Vergangenheit befassen, um über die Zukunft diskutieren zu können. Denn wie kann man heute über den Sozialismus diskutieren, ohne auf die vielen Auseinandersetzungen einzugehen, die es in der sozialistischen Bewegung gibt? Und wenn wir die Zukunft des Sozialismus diskutieren, dann diskutieren wir damit das Schicksal der Oktoberrevolution - ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung, das auf die Arbeiterklasse in jedem Land tiefe Auswirkungen hatte. Große Teile dieser Vergangenheit sind noch von Mystifikationen und Fälschungen verdunkelt." [1]

Zu jener Zeit bestand in der UdSSR ein immenses Interesse an historischen Fragen. Mein Vortrag, organisiert in weniger als 24 Stunden auf die spontane Einladung des Institutsdirektors hin, zog mehrere Hundert Zuhörer an. Die Ankündigung des Treffens wurde dabei fast ausschließlich von Mund zu Mund weitergegeben. Schnell verbreitete sich die Nachricht, ein amerikanischer Trotzkist werde im Institut sprechen, und eine große Zahl von Menschen erschien.

Obwohl es in der kurzen Periode der Glasnost -Politik keine völlige Neuheit mehr war, dass ein Trotzkist öffentlich sprach, so war doch der Vortrag eines amerikanischen Trotzkisten noch immer eine ziemliche Sensation. Das intellektuelle Klima war für einen solchen Vortrag extrem günstig: Es bestand ein Hunger nach historischer Wahrheit. Wie Genosse Fred Williams in seiner Besprechung der miserablen Stalinbiographie von Robert Service berichtet, sah die sowjetische Zeitschrift Argumente und Fakten - die in der Zeit vor Glasnost noch eine sehr kleine Veröffentlichung gewesen war - ihre Auflage plötzlich exponentiell steigen, auf 33 Millionen Exemplare, da sie Aufsätze und Dokumente zur sowjetischen Geschichte veröffentlichte, die lange Zeit unterdrückt worden waren.

Die Bürokratie wurde durch dieses weit verbreitete und um sich greifende Interesse am Marxismus und Trotzkismus aufgeschreckt. Dieser wichtige intellektuelle Prozess der historischen Klärung tendierte dazu, die Wiederbelebung eines sozialistischen Bewusstseins zu fördern. Sie versuchte, ihm zuvorzukommen, in dem sie beschleunigt auf das Aufbrechen der UdSSR hinarbeitete. Wie die Bürokratie die Auflösung der Sowjetunion vollzog und damit den Höhepunkt des stalinistischen Verrats an der Oktoberrevolution erreichte, den Trotzki mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor vorausgesehen hatte, bleibt ein Thema, das im Detail untersucht werden muss. Was wir aber hier betonen müssen, ist, dass ein kritisches Element in der Auflösung der UdSSR - deren katastrophale Folgen für die Menschen in der ehemaligen Sowjetunion inzwischen allzu klar geworden sind - die Unkenntnis der Geschichte war. Es gelang der sowjetischen Arbeiterklasse nicht, die Lasten jahrzehntelanger historischer Fälschungen rechtzeitig zu bewältigen und sich dadurch politisch zu orientieren, ihre unabhängigen sozialen Interessen zu vertreten und der Auflösung der Sowjetunion und der Restauration des Kapitalismus entgegenzutreten.

In dieser historischen Tragödie liegt eine wichtige Lehre. Ohne die genaue Kenntnis der Erfahrungen, durch die sie im Laufe ihrer Geschichte gegangen ist, kann die Arbeiterklasse noch nicht einmal ihre elementarsten sozialen Interessen verteidigen, geschweige denn einen politisch bewussten Kampf gegen das kapitalistische System führen.

Historisches Bewusstsein ist ein unabdingbarer Bestandteil des Klassenbewusstseins. Diese Worte Rosa Luxemburgs sind heute ebenso gültig wie 1915, als sie geschrieben wurden, ein Jahr nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges und der Kapitulation der deutschen Sozialdemokratie vor dem preußischen Militarismus:

"Die geschichtliche Erfahrung ist seine [des Proletariats] einzige Lehrmeisterin, sein Dornenweg der Selbstbefreiung ist nicht bloß mit unermesslichen Leiden, sondern auch mit unzähligen Irrtümern gepflastert. Das Ziel seiner Reise, seine Befreiung, hängt davon ab, ob das Proletariat versteht, aus den eigenen Irrtümern zu lernen. Selbstkritik, rücksichtslose, grausame, bis auf den Grund der Dinge gehende Selbstkritik ist Lebensluft und Lebenslicht der proletarischen Bewegung. Der Fall des sozialistischen Proletariats im gegenwärtigen Weltkrieg ist beispiellos, ist ein Unglück für die Menschheit. Verloren wäre der Sozialismus nur dann, wenn das internationale Proletariat die Tiefe dieses Falls nicht ermessen, aus ihm nicht lernen wollte." [2]

Historisches Bewusstsein und Postmodernismus

Die Geschichtsauffassung, die wir vertreten, räumt der Kenntnis und theoretischen Aneignung historischer Erfahrungen eine entscheidende Rolle im Kampf für die Befreiung des Menschen ein. Sie steht damit in einem unversöhnlichen Gegensatz zu allen vorherrschenden Strömungen des bürgerlichen Denkens. Der politische, wirtschaftliche und soziale Niedergang der bürgerlichen Gesellschaft spiegelt sich auch in ihrem intellektuellen Niedergang wieder, wenn ihm dieser nicht sogar vorangeht. In Zeiten der politischen Reaktion, sagte Trotzki einmal, fletscht die Ignoranz die Zähne.

Die gewieftesten und zynischsten akademischen Vertreter des heutigen bürgerlichen Denkens, die Postmodernisten, treten für eine ganz spezifische Form der Ignoranz ein: Für die Ignoranz und Verachtung der Geschichte. Ihre ausgeprägte Ablehnung der Bedeutung der Geschichte und der entscheidenden Rolle, die ihr von allen fortschrittlichen Schulen des gesellschaftlichen Denkens zugeschrieben wird, ist aufs engste mit einem weiteren Element ihrer theoretischen Konzeption verknüpft: Der Leugnung und ausdrücklichen Zurückweisung der objektiven Wahrheit als wichtige oder sogar Kernfrage philosophischer Untersuchung.

Was ist Postmodernismus? Ich möchte hierzu einen prominenten akademischen Verteidiger dieser Strömung zitieren, Professor Keith Jenkins:

"Wir leben heute im generellen Zustand der Postmoderne. Wir haben gar keine andere Wahl. Die Postmoderne ist nicht eine,Ideologie’ oder ein Standpunkt, den wir einnehmen können oder nicht, die Postmoderne ist ganz einfach unser Zustand: Sie ist unser Schicksal. Und dieser Zustand ist durch das generelle Versagen des sozialen Experiments verursacht worden, das wir Moderne nennen - ein Versagen, das wir heute, da sich Staub über das 20. Jahrhundert senkt, sehr klar ausmachen können. Es ist, gemessen an seinen eigenen Bedingungen, ein generelles Versagen des um das 18. Jahrhundert in Europa begonnen Versuchs, durch den Einsatz von Vernunft, Wissenschaft und Technik ein Niveau des persönlichen und gesellschaftlichen Wohlergehens in Gesellschaftsformationen zu erreichen, von denen man sagen könnte, sie hätten sich bemüht,,Menschenrechtsgemeinschaften’ zu werden, indem sie Gesetze verabschiedet haben, die auf eine immer umfassendere Emanzipation ihrer Bürger oder Untertanen abzielten. ‚Reale’ Voraussetzungen, wie sie zur Untermauerung des Experiments der Moderne angenommen wurden, gibt es weder heute - noch hat es sie je zuvor gegeben." [3]

Ich möchte diese Passage - um in der Sprache der Postmodernisten zu bleiben - "dekonstruieren". Seit mehr als zweihundert Jahren, seit dem 18. Jahrhundert hat es Menschen gegeben, die an den Fortschritt und an die Möglichkeit der Vervollkommnung des Menschen glaubten. Inspiriert durch die Wissenschaft und die Philosophie der Aufklärung haben sie nach einer revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft gestrebt. Dabei haben sie sich auf ein, wie sie glaubten, wissenschaftliches Verständnis objektiver historischer Gesetzmäßigkeiten gestützt. Diese Menschen haben die Geschichte als gesetzmäßigen Prozess betrachtet, gelenkt von sozioökonomischen Kräften, die außerhalb des Bewusstseins des Individuums existieren, die der Mensch jedoch entdecken, verstehen und zum Wohle des menschlichen Fortschritts anwenden kann.

All diese Vorstellungen, so erklären uns die Postmodernisten, haben sich als naive Illusionen erwiesen. Wir wissen es heute besser: Es gibt keine "Geschichte" mit großem G. Es gibt sie nicht einmal im Sinne eines objektiven Prozesses. Es gibt lediglich subjektive "Erzählungen" oder "Diskurse" mit unterschiedlichem Vokabular, das dem einen oder anderen subjektiv bestimmten Zweck dient, was immer dieser Zweck sein mag.

So gesehen hat allein schon die Vorstellung, "Lehren" aus der "Geschichte" ziehen zu wollen, keine Berechtigung. Es gibt nichts, das man studieren, nichts, das man lernen könnte. Jenkins erklärt: "Wir müssen also verstehen, dass wir in gesellschaftlichen Formationen leben, die keine berechtigte ontologische, epistemologische oder ethische Voraussetzung dafür bieten, dass unsere Auffassungen mehr wären als eine auf sich selbst bezogene (rhetorische) Konversation... Folglich erkennen wir heute, dass es niemals so etwas wie eine Vergangenheit gegeben hat, die eine Art Wesen zum Ausdruck bringt, noch wird es diese jemals geben." [4]

In eine verständliche Sprache übersetzt sagt Jenkins: 1. Das Funktionieren menschlicher Gesellschaften, vergangener oder zukünftiger, kann nicht in Form objektiver Gesetze verstanden werden, die entdeckt werden können oder auf ihre Entdeckung warten. 2. Es gibt keine objektive Grundlage für das, was Menschen über die Gesellschaft, in der sie leben, denken, sagen oder tun. Leute, die sich Historiker nennen, mögen diese oder jene Interpretation der Vergangenheit befürworten. Doch das Ersetzen einer Interpretation durch eine andere bedeutet keinerlei Fortschritt in Richtung größerer objektiver Wahrhaftigkeit im Vergleich zu dem zuvor Geschriebenen - denn es gibt keine objektive Wahrheit, der man näher kommen könnte. Die eine Weise, über die Vergangenheit zu sprechen, löst lediglich die andere ab - aus Gründen, die den subjektiv wahrgenommenen Zwecken des Historikers entsprechen.

Die Vertreter dieser Sichtweise verkünden das Ableben der Moderne, doch sie weigern sich, den Komplex historischer und politischer Urteile zu hinterfragen, auf dem ihre Schlüsse beruhen. Dabei vertreten sie politische Standpunkte. Diese liegen ihren theoretischen Ansichten zugrunde und finden in diesen Ausdruck. Professor Hayden White, einer der führenden Vertreter des Postmodernismus, erklärt ausdrücklich: "Ich bin heute gegen Revolutionen, ganz gleich ob sie von,oben’ oder von,unten’ in der sozialen Hierarchie kommen und ob ihre Führer behaupten, sie verfügten über eine Wissenschaft der Gesellschaft und Geschichte, oder ob sie die politische,Spontaneität’ hochleben lassen." [5]

Eine philosophische Auffassung verliert durch die persönlichen politischen Ansichten ihrer Vertreter nicht automatisch ihre Legitimation. Doch die anti-marxistische und anti-sozialistische Stoßrichtung des Postmodernismus ist so augenscheinlich, dass es praktisch unmöglich ist, seine theoretischen Auffassungen von seiner politischen Perspektive zu trennen.

Am deutlichsten tritt diese Verbindung in den Schriften des französischen Philosophen Jean-François Lyotard und des amerikanischen Richard Rorty hervor. Ich beginne mit ersterem. Lyotard war direkt in der sozialistischen Politik aktiv. 1954 schloss er sich der Gruppe Socialisme ou Barbarie an, einer Organisation, die sich 1949 von der PCI (Parti Communiste Internationaliste), der französischen Sektion der Vierten Internationale, abgespalten hatte. Grundlage der Spaltung war die Zurückweisung von Trotzkis Definition der Sowjetunion als degenerierter Arbeiterstaat durch die Gruppe. Socialisme ou Barbarie, deren führende Theoretiker Cornelius Castoriadis und Claude Lefort waren, entwickelte den Standpunkt, die Bürokratie sei keine parasitäre soziale Schicht, sondern eine neue Ausbeuterklasse.

Lyotard gehörte der Gruppe bis Mitte der sechziger Jahre an, bevor er gänzlich mit dem Marxismus brach.

Gemeinhin wird er mit seiner Ablehnung der „großen Erzählungen“ über die Emanzipation des Menschen identifiziert. Deren Legitimität, so behauptete er, sei durch das 20. Jahrhundert wiederlegt worden. Er argumentiert: „Jede der großen Emanzipationserzählungen, welchem Genre sie auch immer die Hegemonie eingeräumt hat, ist in den letzten fünfzig Jahren sozusagen in ihrem Prinzip verstümmelt (invalider) geworden. Alles was real ist, ist rational; alles was rational ist, ist real: ‚Auschwitz’ widerlegt die spekulative Doktrin. Wenigstens dieses Verbrechen ist real, aber nicht rational. Alles was proletarisch ist, ist kommunistisch; alles, was kommunistisch ist, ist proletarisch: ‚Berlin 1953, Budapest 1956, Tschechoslowakei 1968, Polen 1980’ (ich lasse es dabei bewenden) widerlegen die Doktrin des historischen Materialismus: Die Arbeiter erheben sich gegen die Partei. – Alles, was demokratisch ist, ist demokratisch durch das Volk und für das Volk, und umgekehrt: Der ‚Mai 1968’ widerlegt die Doktrin des parlamentarischen Liberalismus. Der gesellschaftliche Alltag lässt die repräsentative Institution scheitern. – Alles, was freies Spiel von Angebot und Nachfrage ist, begünstigt die allgemeine Bereicherung und umgekehrt: ‚Die Krisen von 1911 und 1929’ widerlegen den ökonomischen Liberalismus, und die ‚Krise von 1974-79’ widerlegt die postkeynesianische Umrüstung dieser Doktrin.“ [6]

Die Mischung aus Orientierungslosigkeit, Demoralisierung, Pessimismus und Konfusion, die dem gesamten theoretischen Unterfangen von Lyotards Postmodernismus zugrunde liegt, wird in dieser Passage zusammengefasst. Ihrer Widerlegung könnte man eine ganze Vorlesung, wenn nicht ein Buch widmen. Ich muss mich hier jedoch auf ein paar Punkte beschränken.

Das Argument, Auschwitz habe alle Versuche eines wissenschaftlichen Verständnisses der Geschichte zunichte gemacht, ist keine Eigenschöpfung Lyotards. Eine ähnliche Idee bildet die Grundlage der Nachkriegswerke Adornos und Horkheimers, der Väter der Frankfurter Schule. Lyotards Erklärung, Auschwitz sei gleichzeitig wirklich und unvernünftig gewesen, ist eine vereinfachende Verzerrung von Hegels revolutionär-dialektischer Auffassung. Ihre angebliche Widerlegung durch Lyotard gründet sich auf eine vulgäre Gleichsetzung des Wirklichen als philosophischem Begriff mit dem, was existiert. Doch wie Engels erklärt, ist die Wirklichkeit, wie Hegel sie versteht, "keineswegs ein Attribut, das einer gegebenen gesellschaftlichen oder politischen Sachlage unter allen Umständen und zu allen Zeiten zukommt." [7] Das Bestehende kann so vollständig in Konflikt zur objektiven Entwicklung der menschlichen Gesellschaft geraten, dass es sozial und historisch unvernünftig wird, und dadurch unwirklich, unhaltbar und zum Untergang verdammt. In diesem tieferen Sinne demonstrierte der deutsche Imperialismus - deren Auswüchse Nationalsozialismus und Auschwitz waren - die Wahrheit von Hegels philosophischem Diktum.

Die Arbeiteraufstände gegen den Stalinismus widerlegten nicht den historischen Materialismus. Sie widerlegten vielmehr die Politik von Socialisme ou Barbarie, für die Lyotard eingetreten war. Trotzki hatte auf der Grundlage des historischen Materialismus solche Aufstände vorausgesehen. Die Gruppe Socialisme ou Barbarie hatte den stalinistischen Bürokratien einen Grad von Macht und Stabilität zugeschrieben, den diese als parasitäre Kasten nicht hatten. Darüber hinaus identifiziert Lyotard den Kommunismus als revolutionäre Bewegung mit den Kommunistischen Parteien, die in Wahrheit politische Organisationen der stalinistischen Bürokratien waren.

Was die Widerlegung des ökonomischen und parlamentarischen Liberalismus angeht, so war diese bereits lange vor den von Lyotard genannten Ereignissen von Marxisten vorgenommen worden. Seine Bezugnahme auf den Mai 1968 als Untergang des parlamentarischen Liberalismus ist besonders grotesk. Was ist mit dem Spanischen Bürgerkrieg? Dem Zusammenbruch der Weimarer Republik? Dem Verrat der französischen Volksfront? All das geschah über 30 Jahre vor dem Mai und Juni 1968. Was Lyotard als große philosophische Neuerungen präsentiert, ist in Wahrheit wenig mehr als ein Ausdruck des Pessimismus und Zynismus des enttäuschten, ehemals linken (oder sich nach rechts bewegenden) akademischen Kleinbürgertums.

Richard Rorty verbindet seine Zurückweisung des Begriffs der objektiven Wahrheit in unverfrorener Weise mit der Ablehnung revolutionär-sozialistischer Politik. Was ihn angeht, lieferte der Zusammenbruch der stalinistischen Regime in Osteuropa und die Auflösung der Sowjetunion linkslastigen Intellektuellen die lang ersehnte Gelegenheit, ein für allemal jede intellektuelle (oder emotionale) Bindung an eine revolutionär-sozialistische Perspektive von sich zu weisen. In seinem Essay "Das Ende des Leninismus, Havel und die soziale Hoffnung" erklärt Rorty:

"Ich hoffe, dass die Intellektuellen den Tod des Leninismus als Gelegenheit benutzen werden, um sich von der Vorstellung zu lösen, sie wüssten oder sollten wissen, was es auf sich hat mit den tiefen, zugrunde liegenden Kräften, welche das Schicksal menschlicher Gemeinschaften bestimmen.

Wir Intellektuellen haben dergleichen zu wissen beansprucht, seit wir unseren Laden aufgemacht haben. Einst haben wir zu wissen behauptet, die Gerechtigkeit werde erst dann regieren, wenn die Könige zu Philosophen oder die Philosophen zu Königen geworden sind; ... und dies haben wir aufgrund unserer Einsicht in die Form und Entwicklung der GESCHIICHTE zu wissen behauptet. Ich möchte hoffen, dass wir eine Zeit erreicht haben, in der wir uns endlich von der bei Plato wie bei Marx geltenden Überzeugung befreien können, es müsse große, theoretische - im Gegensatz zu kleinen, experimentellen - Verfahren geben, um herauszufinden, wie man der Ungerechtigkeit ein Ende bereiten kann." [8]

Was folgt aus einem solchen theoretischen Verzicht? Rorty bietet Vorschläge für die Neuorientierung "linker" Politik an:

"Ich halte die Zeit für gekommen, Ausdrücke wie ‚Kapitalismus’ und ‚Sozialismus’ aus dem politischen Vokabular der Linken zu streichen. Es wäre eine gute Idee, wenn man nicht mehr über den ‚Kampf gegen den Kapitalismus’ und statt dessen über etwas Banales und Untheoretisches redete, etwa über den ‚Kampf gegen vermeidbares menschliches Elend’. Ich hege, allgemeiner gesprochen, die Hoffnung, dass wir das ganze Vokabular, dessen sich die Linke bei ihren politischen Erwägungen bedient, durch einen banaleren Wortschatz ersetzen können. Zunächst schlage ich vor, wir sollten nicht mehr über die bürgerliche Ideologie, sondern über Habgier und Eigennutz reden, nicht mehr über den Warencharakter der Arbeit, sondern über Hungerlöhne und Entlassungen, nicht mehr über die Aufspaltung der Gesellschaft in Klassen, sondern über die Unterschiede in den Erziehungsausgaben pro Schüler und in der Gesundheitsversorgung." [9]

Und das nennt sich "Philosophie"? Was Rorty "durch einen banaleren Wortschatz ersetzen" nennt, wäre treffender mit intellektueller und politischer Kastration zu bezeichnen. Er schlägt vor, das Ergebnis von 200 Jahren sozialen Denkens aus der Diskussion zu verbannen. Diesem Vorschlag liegt die Auffassung zugrunde, die Entwicklung des Denkens sei selbst ein rein willkürlicher und weitgehend subjektiver Prozess. Worte, theoretische Begriffe, logische Kategorien und philosophische Systeme sind lediglich verbale Konstrukte, pragmatisch heraufbeschworen im Interesse verschiedener subjektiver Ziele. Die Behauptung, die Entwicklung theoretischen Denkens sei ein objektiver Prozess, ein Ausdruck des sich herausbildenden, sich vertiefenden und ewig komplexer und präziser werdenden Verständnisses von Natur und Gesellschaft durch den Menschen - ist für Rorty nichts als hegelianisch-marxistischer Schmu. Wie er an anderer Stelle äußert: "Es gibt keine Aktivität namens,Wissen’, die sich auf eine zu entdeckende Natur bezöge und in der die Naturwissenschaftler besonders kundig wären. Es gibt nur den Prozess, vor einem Publikum seine Überzeugungen zu rechtfertigen." [10]

Somit sind Ausdrücke wie "Kapitalismus", "Arbeiterklasse", "Sozialist", "Mehrwert", "Lohnarbeit", "Ausbeutung" und "Imperialismus" keine Begriffe, die eine objektive Wirklichkeit wiedergeben und bezeichnen. Sie sollten durch eine andere, vorzugsweise weniger emotionale Sprache ersetzt werden - was wohl die meisten von uns, nicht aber Rorty, als "Beschönigung" bezeichnen würden.

Wie bereits zitiert schlägt uns Rorty vor, über den "Kampf gegen vermeidbares menschliches Elend" zu sprechen. Befolgen wir diesen brillanten Vorschlag einen Moment lang. Sofort stehen wir vor einem Problem: Wie sollen wir bestimmen, welche Form menschlichen Elends vermeidbar ist, und bis zu welchem Grade? Auf welcher Grundlage sollen wir behaupten, ein Elend sei vermeidbar, oder dass es überhaupt vermieden werden sollte? Was sollen wir denen antworten, die behaupten, das Elend sei des Menschen Los, das Ergebnis des Sündenfalls? Und slbst wenn wir den Argumenten der Theologen irgendwie entkommen und vom Elend im weltlichen Sinne sprechen, als soziales Problem, stünden wir noch immer vor dem Problem, die Ursachen des Elends zu analysieren.

Ein Programm zur Abschaffung des "vermeidbaren menschlichen Elends" wäre gezwungen, die ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft zu untersuchen. Sofern diese Untersuchung mit einem nennenswerten Grad an Ernsthaftigkeit durchgeführt würde, stießen die Kreuzritter gegen das "vermeidbare menschliche Elend" auf das Problem von "Besitz", "Eigentum", "Profit" und "Klasse". Sie könnten neue Wörter erfinden, um diese sozialen Phänomene zu beschreiben, doch würden diese nichtsdestoweniger existieren - mit oder ohne Erlaubnis Rortys.

Rortys theoretische Vorstellungen sind voller schreiender Unschlüssigkeiten und Widersprüche. Er besteht kategorisch darauf, dass es keine "Wahrheit" zu entdecken oder zu erkennen gebe. Vermutlich hält er diese Entdeckung der Nichtexistenz der Wahrheit für "wahr", schließlich bildet sie die Grundlage seiner Philosophie. Doch wenn man ihn bittet, diesen krassen Widerspruch zu erklären, windet sich Rorty um das Problem herum und erklärt, er werde sich nicht der Terminologie der Frage unterwerfen, die im klassischen philosophischen Diskurs wurzle, der bis auf Plato zurückgehe. Wahrheit, so Rorty, sei eine dieser alten, überholten Fragen, über die man heute keine interessante philosophische Diskussion mehr führen könne. Wenn diese Frage aufkommt, "möchte er lieber das Thema wechseln", hat Rorty einmal zynisch bemerkt. [11]

Den Schlüssel zum Verständnis von Rortys philosophischen Auffassungen finden wir in seinen politischen Standpunkten. Rorty hat zwar verschiedentlich versucht, die Verbindung zwischen Politik und Philosophie herunterzuspielen, dennoch ist es schwierig, einen zeitgenössischen Philosophen zu finden, dessen theoretische Auffassungen so direkt in eine politische Position eingebettet sind: In diesem Falle in die Zurückweisung und Ablehnung revolutionär-marxistischer Politik. Rorty versucht sich nicht an einer systematischen Untersuchung oder Widerlegung des Marxismus. Ob dieser korrekt ist oder nicht, ist für ihn nebensächlich. Was Rorty anbelangt, ist das sozialistische Projekt (das er weitgehend mit dem Schicksal der Sowjetunion identifiziert) gescheitert und es besteht wenig Hoffnung, es könne in Zukunft erfolgreich sein. Aus den Trümmern der alten marxistischen Linken ist nichts zu retten. Anstatt uns erneut in doktrinären Kämpfe um Geschichte, Prinzipien, Programme und - schlimmstenfalls - objektive Wahrheit zu engagieren, tun wir besser daran, uns auf eine weit gemäßigtere Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners zu beschränken. Darum dreht sich Rortys Philosophie - und der postmodernistische akademische Diskurs in Amerika.

Was Rorty (und, wie wir sehen werden, viele andere) betrifft, haben die "Ereignisse des Jahres 1989 diejenigen, die nach wie vor am Marxismus festhalten wollten, davon überzeugt, dass wir ein Verfahren brauchen, um unsere Zeit in Gedanken zu fassen, und einen Plan, um die Zukunft besser zu gestalten als die Gegenwart, ohne dabei auf den Kapitalismus, die bürgerlichen Lebensformen, die bürgerliche Ideologie und die Arbeiterklasse Bezug zu nehmen." [12] "Wir sollten es unterlassen," so argumentiert er, "das Wort ‚Geschichte’ als Namen eines Gegenstandes zu verwenden, in dessen Umkreis wir unsere Phantasievorstellungen von vermindertem Elend ausspinnen können. Wir sollten zugeben, dass Francis Fukuyama recht hat, wenn er in seinem bekannten Buch über das Ende der Geschichte behauptet: Wer sich immer noch nach der totalen Umwälzung, nach dem im weltgeschichtlichen Maßstab radikal Anderen sehne, der habe, wie die Ereignisse des Jahres 1989 zeigen, Pech gehabt." [13]

Diese Art von Zynismus und unbeholfener Ironie ist bezeichnend für die Erschöpfung und Demoralisierung, die im Milieu linker Akademiker und Radikaler angesichts der politischen Reaktion nach dem Zusammenbruch der stalinistischen Regime um sich gegriffen hat. Anstatt die historischen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Wurzeln dieses Zusammenbruchs ernsthaft zu analysieren, haben sich diese Tendenzen sehr schnell an das vorherrschende Klima von Reaktion, Konfusion und Pessimismus angepasst.

Die ideologischen Folgen des Jahres 1989

Als Trotzki in den dreißiger Jahren erklärte, warum so viele vor der Welle der faschistischen und stalinistischen Reaktion kapitulierten, bemerkte er, dass Gewalt nicht nur erobert, sondern auch überzeugt. Der plötzliche Kollaps der stalinistischen Regime kam für viele Radikale und linkslastige Intellektuelle völlig überraschend. Sie standen dem bürgerlichen und imperialistischen Triumphgeheul, das nach dem Fall der Berliner Mauer über sie hereinbrach, theoretisch, politisch und sogar moralisch wehrlos gegenüber. Die zahllosen linken, kleinbürgerlichen politischen Strömungen waren durch das plötzliche Verschwinden der bürokratischen Regime in Osteuropa verwirrt und entmutigt. Die verstörten kleinbürgerlichen Akademiker verkündeten, der Untergang der Bürokratien bedeute das Versagen des Marxismus.

Die Behauptung, der Marxismus sei durch die Auflösung der UdSSR in Verruf geraten, war aber nicht nur feige, sondern zu einem hohen Grad intellektuell verlogen. So schrieb beispielsweise Professor Bryan Turner: "Die Autorität des Marxismus ist ernsthaft in Frage gestellt, und das nicht zuletzt durch sein Unvermögen, den völligen Zusammenbruch des osteuropäischen Kommunismus und der Sowjetunion vorauszusehen." [14] Solche Aussagen kann man nicht mit purer Ignoranz erklären. Den linken Akademikern, die diese und ähnliche Stellungnahmen schrieben, war Trotzkis Analyse des Stalinismus nicht gänzlich fremd. Trotzki hatte gewarnt, die Politik der Bürokratie werde letztlich zum Kollaps der Sowjetunion führen.

Das Internationale Komitee hat die katastrophale Entwicklung des Stalinismus in zahllosen Dokumenten vorausgesagt. Vor dem Untergang der Sowjetunion bezeichneten die kleinbürgerlichen Radikalen solche Warnungen als sektiererischen Wahnsinn. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion fanden sie, es sei leichter, dem Marxismus die Schuld für das Scheitern des "real existierenden Sozialismus" zu geben, als ihre eigenen politischen Standpunkte kritisch zu überprüfen. Sie waren verärgert und enttäuscht. Ihr politisches, intellektuelles und emotionales Engagement für den Sozialismus erschien ihnen nun als Fehlinvestition, die sie zutiefst bedauerten. Ihre Befindlichkeit wird durch den Historiker Eric Hobsbawm auf den Punkt gebracht, der selbst langjähriges Mitglied der britischen Kommunistischen Partei war und über Jahrzehnte hinweg als Verteidiger des Stalinismus agierte. Er schreibt in seiner Autobiographie:

"Der Kommunismus ist heute tot. Die UdSSR und die meisten der Staaten und Gesellschaften, die nach ihrem Vorbild errichtet wurden, Kinder der Oktoberrevolution von 1917, die uns inspirierte, sind unter Zurücklassung einer moralischen und materiellen Trümmerlandschaft so vollkommen zusammengebrochen, dass es heute für alle offensichtlich sein muss, dass das Scheitern dieses Projekts vorprogrammiert war." [15]

Mit der Behauptung, die Oktoberrevolution sei von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen, kapituliert Hobsbawm vor den Argumenten der unverfrorenen rechten Gegner des Sozialismus. Die Ideologen der Bourgeoisie stellen den Zusammenbruch der UdSSR als unwiderlegbaren Beweis dafür dar, dass der Sozialismus eine wahnsinnige utopische Vision sei.

In seinen Reflexionen über ein verwüstetes Jahrhundert verurteilt Robert Conquest die "archaische Vorstellung, Utopia könne auf Erden errichtet werden", sowie "das Versprechen einer millenaristischen Lösung aller Probleme der Menschheit". [16] Der polnisch-amerikanische Historiker Andrzej Walicki erklärt: "Das Schicksal des Kommunismus auf Weltebene zeigt, dass die Vision an sich unrealisierbar war. Die enormen Energien, die in ihre Verwirklichung gesteckt wurden, waren daher zum Scheitern verurteilt." [17] Der kürzlich verschiedene amerikanische Historiker Martin Malia entwickelt dieses Thema in seinem 1994 veröffentlichten Buch Die sowjetische Tragödie weiter, wenn er schreibt: "Das Versagen des gesamten Sozialismus rührt nicht daher, dass er zuerst am falschen Ort, in Russland, ausprobiert worden ist, sondern aus der sozialistischen Idee selbst. Der Grund dafür ist, dass der Sozialismus als vollständiger Nicht-Kapitalismus an sich unmöglich ist." [18]

Eine Erklärung, warum der Sozialismus "an sich unmöglich" ist, finden wir in einem Buch des Doyens der antimarxistischen Historiker aus dem Kalten Krieg, Richard Pipes. In Eigentum und Freiheit entwickelt er eine tiefschürfende zoologische Begründung für seine Theorie des Eigentums:

"Eine der Konstanten der menschlichen Natur, die gesetzlicher und pädagogischer Manipulation widersteht, ist das Streben nach Besitz... Das Streben nach Besitz ist allen Lebensformen eigen, allgegenwärtig sowohl unter Tieren und Kindern, als auch bei Erwachsenen jeder Zivilisationsstufe. Es eignet sich daher nicht zum Moralisieren. Auf elementarster Ebene ist es ein Ausdruck des Überlebenstriebes. Doch darüber hinaus macht es einen grundlegenden Zug der menschlichen Persönlichkeit aus, für die Errungenschaften und Besitztümer Mittel zur Selbstverwirklichung sind. Und sofern die Selbstverwirklichung die Quintessenz der Freiheit ist, kann Freiheit nicht gedeihen, wenn das Eigentum und die Ungleichheit, die es hervorruft, mit Gewalt ausgeschaltet werden." [19]

Dies ist nicht der Ort, um Pipes’ Theorie des Eigentums mit der ihr zustehenden Sorgfalt abzuhandeln. Ich will lediglich darauf hinweisen, dass sich die Eigentumsformen ebenso wie der gesellschaftliche und juristische Begriff des Eigentums historisch entwickelt haben. Die ausschließliche Identifikation des Eigentums mit persönlichem Besitz stammt erst aus dem 17. Jahrhundert. In früheren geschichtlichen Perioden wurde Eigentum in einem weitaus breiteren, ja sogar gemeinschaftlichen Sinne aufgefasst. Pipes arbeitet mit einer Definition des Eigentums, die erst aufkam, als Marktbeziehungen das wirtschaftliche Leben zu dominieren begannen. An diesem Punkt begann man unter Eigentum vorrangig das Recht eines Individuums zu verstehen, "andere vom Gebrauch oder Genuss einer Sache auszuschließen". [20]

Diese Form des Eigentums, eine recht junge Errungenschaft des Menschengeschlechts, ist - das kann man, glaube ich, sicher sagen - im Rest des Tierreiches mehr oder weniger unbekannt! In jedem Falle möchte ich allen von Euch, die sich Sorgen darüber machen, was im Sozialismus aus ihren I-Pods, Häusern, Autos oder anderen geschätzten Habseligkeiten wird, versichern: Die einzige Form des Eigentums, die der Sozialismus abschaffen will, ist das Privateigentum an Produktionsmitteln.

Das einzig Positive an Professor Pipes’ jüngsten Werken - die er nach der Auflösung der Sowjetunion geschrieben hat - ist, dass in ihnen die Verbindung zwischen seinen früheren, tendenziösen Werken über die sowjetische Geschichte und seiner rechten politischen Orientierung in absoluter Klarheit hervortritt. Pipes sah in der Oktoberrevolution und der Errichtung der Sowjetunion einen Angriff auf die Vorrechte Besitz und Eigentum. Sie stellten die Spitze eines weltweiten, massenhaften Kreuzzuges für soziale Gleichheit dar, diese schreckliche Frucht der Ideale der Aufklärung. Doch dieses Kapitel der Geschichte ist nun zu Ende.

"Das Recht auf Eigentum", erklärt Pipes, "muss seinen früheren Platz in der Werteskala wieder einnehmen, anstatt den unerreichbaren Idealen sozialer Gleichheit und allumfassender ökonomischer Sicherheit geopfert zu werden." Was beinhaltet diese Restauration der Eigentumsrechte, die Pipes fordert? "Das gesamte Konzept des Wohlfahrtsstaates, wie es sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herausgebildet hat, ist unvereinbar mit individueller Freiheit... Die Abschaffung der Wohlfahrt mit all ihren ‚Ansprüchen’ und falschen,Rechten’, die Rückgabe der Verantwortung für soziale Sicherheit an Familie und private Fürsorge, der sie vor dem 20. Jahrhundert oblagen, wäre ein großer Schritt heraus aus dieser Klemme." [21]

Die herrschende Elite betrachtet das Ende der Sowjetunion als Ausgangspunkt für die globale Restauration des kapitalistischen Ancien Regime, für die Wiedereinführung einer Gesellschaftsordnung, in der jede Beschränkung des Eigentumsrechts, der Ausbeutung von Arbeit und der Anhäufung privaten Wohlstandes beseitigt wird. Es ist kein Zufall, dass sich in den fast 15 Jahren seit der Auflösung der Sowjetunion ein schwindelerregendes Anwachsen der sozialen Ungleichheit und der Konzentration von Vermögen beim reichsten Prozent (und besonders dem reichsten Promille) der Weltbevölkerung vollzogen hat. Der weltweite Angriff auf Marxismus und Sozialismus ist letztlich die ideologische Widerspiegelung dieses reaktionären und historisch rückschrittlichen gesellschaftlichen Prozesses.

Dieser Prozess findet nicht nur in den antimarxistischen Schmähreden der extremen Rechten Ausdruck. Die allgemeine intellektuelle Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft manifestiert sich auch in der entmutigten Kapitulation der verbliebenen kleinbürgerlichen Linken vor der ideologischen Offensive der extremen Rechten. Die Buchläden der Welt sind voller Bücher reuiger Ex-Radikaler, die der ganzen Welt das Scheitern ihrer Hoffnungen und Träume verkünden. Sie scheinen eine Art perverser Befriedigung daraus zu ziehen, jedem, der es hören will, ihre Verzweiflung, Entmutigung und Ohnmacht zu verkünden. Natürlich geben sie sich selbst keine Schuld an ihrem Versagen. Nein, sie waren die Opfer des Marxismus, der ihnen eine soziale Revolution versprach und dann die Einlösung des Versprechens schuldig blieb.

Ihre im Stil einer Beichte abgefassten Erinnerungen sind nicht nur erbärmlich, sondern auch irgendwie komisch. Beim Versuch, ihrem persönlichen Desaster eine Art welthistorische Bedeutung zu verleihen, geben sie sich selbst der Lächerlichkeit preis. So beginnt beispielsweise Professor Ronald Aronson sein Werk Nach dem Marxismus mit den unsterblichen Worten:

"Der Marxismus ist vorbei, und wir sind allein. Bis vor kurzem war das Alleinsein für so viele von uns Linken eine undenkbare Pein - der völlige Verlust all unserer Bindungen, eine Verwaisung... Als letzter Generation des Marxismus hat uns die Geschichte die undankbare Aufgabe zugewiesen, ihn zu begraben." [22]

Man findet dieses Thema bei vielen dieser Möchtegern-Bestatter. Die Auflösung der Sowjetunion hat sie nicht nur politisch, sondern auch emotional aus dem Gleichgewicht geworfen. Was immer ihre Kritik der Kreml-Bürokratie gewesen sein mag, niemals hätten sie sich träumen lassen, dass deren Politik zur Zerstörung der Sowjetunion führen würde - das heißt, sie haben Trotzkis Analyse des Stalinismus als konterrevolutionärer Kraft niemals akzeptiert. So gibt Aronson zu:

"Gerade die Unbeweglichkeit und Trägheit der Sowjetunion galt in unserer kollektiven Geisteswelt als etwas Positives. Sie erlaubte uns, an der Hoffnung festzuhalten, es könne immer noch ein erfolgreicher Sozialismus entstehen. Sie war uns eine Rückfallposition, vor der wir Alternativen ausdenken und diskutieren konnten - eingeschlossen für einige die Möglichkeit, andere Versionen des Marxismus würden sich als gangbar erweisen. Das ist jetzt vorbei. So sehr wir uns bemühen mögen, seine theoretische Möglichkeit aus dem Tod des Kommunismus zu retten, scheint das große, mit dem Namen Karl Marx verbundene, welthistorische Unternehmen des Kampfes und der Umgestaltung am Ende zu sein. Und wie die Postmodernisten wissen, ist mit dem Marxismus eine ganze Weltsicht zu Bruch gegangen. Nicht nur Marxisten und Sozialisten, sondern auch andere Radikale und jene, die sich selbst als progressiv oder liberal betrachten, haben ihre Orientierung verloren." [23]

Ohne es zu wollen, enthüllt Aronson damit das kleine, schmutzige Geheimnis des Radikalismus der Nachkriegszeit - das Ausmaß seiner Abhängigkeit von stalinistischen und anderen reformistischen Arbeiterbürokratien. Diese Abhängigkeit hatte in den politischen und den Klassenbeziehungen der Nachkriegsära eine konkrete gesellschaftliche Basis. Um den sozialen und politischen Missständen ihres eigenen Klassenmilieus Abhilfe zu schaffen, verließen sich bedeutende Teile des Kleinbürgertums auf die Ressourcen, die den mächtigen Arbeiterbürokratien zur Verfügung standen. Als Bestandteil dieser Bürokratien oder im Bündnis mit ihnen konnten diese verärgerten Mittelklasse-Radikalen der herrschenden Klasse mit den Fäusten drohen und so Zugeständnisse erreichen. Der Zusammenbruch des Sowjetregimes, fast unmittelbar gefolgt vom Zerfall reformistischer Arbeiterorganisationen auf der ganzen Welt, beraubte sie der bürokratischen Schirmherrschaft, der sie bedurften. Plötzlich waren diese unglücklichen Willy Lomans der radikalen Politik allein.

Es gilt unter diesen Tendenzen mehr oder weniger als selbstverständlich, dass der klassische Marxismus einen fatalen Irrtum beging, als er der Arbeiterklasse eine historische Rolle zusprach. Bestenfalls anerkennen sie, dass dies einmal, in ferner, sicherer Vergangenheit gerechtfertigt gewesen sein mag. Doch gewiss nicht heute. Aronson erklärt: "Tatsächlich wird die These, das Marxsche Projekt sei vorüber, in hohem Maße durch die strukturellen Veränderungen gestützt, welche der Kapitalismus und die Arbeiterklasse selbst erfahren haben. Die zentrale Rolle der marxistischen Hauptkategorie, der Arbeit, ist durch die Entwicklung des Kapitalismus ebenso sehr in Frage gestellt worden wie das Primat der Klasse." [24]

Dies wurde zu einer Zeit geschrieben, da die Ausbeutung der Arbeiterklasse sich auf Weltebene auf einem Niveau vollzieht, das weder Marx noch Engels sich hätten vorstellen können. Die Extraktion von Mehrwert aus menschlicher Arbeitskraft wurde durch die revolutionären Entwicklungen der Informations- und Kommunikationstechnologie gewaltig gesteigert. Sie mag keine zentrale Kategorie des kleinbürgerlichen Radikalismus sein, doch kommt der Arbeit weiterhin die zentrale Rolle in der kapitalistischen Produktionsweise zu. Dort schreitet der unaufhörliche und zunehmend brutale Feldzug, Löhne zu senken, soziale Leistungen zusammenzustreichen und die Produktion zu rationalisieren mit einer Heftigkeit voran, die in der Geschichte ihresgleichen sucht.

Niemand ist so blind wie der, der nicht sehen will! Wenn es keine objektive soziale Kraft gibt, die einen revolutionären Kampf gegen den Kapitalismus aufnehmen kann, wie kann man dann überhaupt an eine Alternative zur bestehenden Ordnung denken? Dieses Dilemma ist die Basis einer anderen Spielart des zeitgenössischen politischen Pessimismus, des Neo-Utopismus. Bei ihren Versuchen, die vor-Marxschen, utopischen Stadien sozialistischen Denkens wiederzubeleben, beklagen und verurteilen die Neo-Utopisten die Bemühungen von Marx und Engels, den Sozialismus auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen.

Für die Neo-Utopisten haftet dem klassische Marxismus zu viel von dem Steckenpferd des 19. Jahrhunderts an, objektive Kräfte zu entdecken. Dies sei der Grund für die ständige Beschäftigung der sozialistischen Bewegung mit der Arbeiterklasse und ihrer politischen Erziehung. Die Marxisten, so behaupten die Neo-Utopisten, legten ein übertriebenes und unberechtigtes Vertrauen in die objektive Gewalt der kapitalistischen Widersprüche, ganz zu schweigen vom revolutionären Potential der Arbeiterklasse. Mehr noch: Sie unterschätzten die Macht und Überzeugungskraft des Irrationalen.

Der Ausweg aus diesem Dilemma liegt für die Neo-Utopisten in der Übernahme und Verbreitung von "Mythen", die zu inspirieren und zu begeistern vermögen. Ob diese Mythen in Verbindung zu irgendeiner objektiven Realität stehen, ist von keiner großen Bedeutung. Ein führender Vertreter der neo-utopistischen Mythologisierung, Vincent Geoghegan, kritisiert Marx und Engels für ihr "Unvermögen, eine Psychologie zu entwickeln. Was die Komplexität menschlicher Motivation anbelangt, so hinterließen sie ein recht armseliges Erbe, und die meisten ihrer unmittelbaren Nachfolger sahen wenig Anlass, diesem Mangel abzuhelfen." [25] Im Gegensatz zu den Sozialisten, beschwert sich Geoghegan, seien es die extremen Rechten, besonders die Nazis, welche die Kraft der Mythen und ihrer Bildersprache verstanden hätten. "Es waren die Nationalsozialisten, denen es gelang, aus romantischen Ideen teutonischen Rittertums, sächsischer Könige und dem geheimnisvollen Drängen des ‚Blutes’ die Vision eines Tausendjährigen Reiches zu erschaffen. Allzu oft ließen die Linken dieses Feld unbestellt und murmelten etwas von Reaktion, die nur der Reaktion in die Hände spiele." [26]

Diese offene Hinwendung zum Irrationalismus mitsamt ihren zutiefst reaktionären politischen Implikationen ergibt sich mit einer gewissen perversen Logik aus dem demoralisierten Standpunkt, es gebe keine objektive Basis für die sozialistische Revolution.

Man kann in keinem der demoralisierten Klagelieder über das Versagen des Marxismus, des Sozialismus und natürlich der Arbeiterklasse eine konkrete historische Untersuchung der Geschichte des 20. Jahrhunderts finden, einen Versuch, anhand des Studiums von Ereignissen, Parteien und Programmen die Ursachen für Siege oder Niederlagen der revolutionären Bewegung im 20. Jahrhundert zu finden. In seiner Ausgabe für das Jahr 2000, die dem Thema Utopismus gewidmet war, informierte uns das Socialist Register, man müsse "den Marxismus um ein Gruppe von Begriffen erweitern, um eine Dimension, die bislang fehlte oder zu wenig berücksichtigt wurde". [27] Das ist das letzte, was gebraucht wird. Nötig ist vielmehr die Anwendung des dialektischen und historischen Materialismus auf das Studium und die Analyse des 20. Jahrhunderts.

Hat der Marxismus versagt?

Das Internationale Komitee der Vierten Internationale hat niemals bestritten, dass die Auflösung der Sowjetunion eine große Niederlage für die Arbeiterklasse war. Doch hat dieses Ereignis, das Ergebnis jahrzehntelangen stalinistischen Verrats, weder die Methode des Marxismus, noch die Perspektive des Sozialismus ihrer Gültigkeit beraubt. Weder die eine noch die andere war in irgendeiner Weise für den Zusammenbruch der UdSSR verantwortlich. Seit 1923 gab es mit der Gründung der Linken Opposition eine marxistische Opposition gegen den Stalinismus. Trotzkis Entscheidung, die Vierte Internationale zu gründen und zur politischen Revolution in der Sowjetunion aufzurufen, beruhte auf der Erkenntnis, dass die Verteidigung der sozialen Errungenschaften der Oktoberrevolution sowie das bloße Überleben der UdSSR als Arbeiterstaat vom gewaltsamen Sturz der Bürokratie abhinge.

Das Internationale Komitee entstand 1953 aus dem Kampf gegen eine Tendenz innerhalb der Vierten Internationale, die behauptete, nach Stalins Tod werde die Bürokratie einen Prozess der politischen Selbstreform durchlaufen. Diese Tendenz unter Führung von Ernest Mandel und Michel Pablo war der Auffassung, die Bürokratie werde schrittweise zu den Prinzipien des Marxismus und des Bolschewismus zurückkehren und Trotzkis Eintreten für eine politische Revolution werde damit bedeutungslos.

Die gesamte Geschichte der Vierten Internationale und des Internationalen Komitees bezeugt die Richtigkeit der politischen Analyse des Stalinismus, die mittels der marxistischen Methode vorgenommen wurde. Bisher konnte uns niemand nachweisen, wie und in welcher Weise der Marxismus durch die Verrätereien und Verbrechen des Stalinismus wiederlegt worden sei. Ein Vertreter linker akademischer Kreise meint: "Zu sagen, der Zusammenbruch des organisierten Kommunismus als politischer Kraft und die Zerstörung des Staatssozialismus als Gesellschaftsform habe keine Auswirkungen auf die intellektuelle Glaubwürdigkeit des Marxismus, ist, als würde man behaupten, die Entdeckung der Gebeine Christi auf einem israelischen Friedhof, die Abdankung des Papstes und die Auflösung des Christentums habe keine Bedeutung für die intellektuelle Kohärenz der christlichen Theologie." [28]

Dieser Vergleich ist schlecht gewählt. Die marxistischen Gegner des Stalinismus, die Trotzkisten, haben den Kreml nie als Vatikan der sozialistischen Bewegung betrachtet. Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, dann hat die Vierte Internationale nie an die Unfehlbarkeit Stalins geglaubt - was sich von den vielen linken kleinbürgerlichen und radikalen Gegnern der trotzkistischen Bewegung nicht unbedingt behaupten lässt.

Es ist schwer, die Skeptiker zufrieden zu stellen. Selbst wenn der Marxismus nicht für die Verbrechen des Stalinismus verantwortlich gemacht werden kann, so fragen sie, bedeutet nicht die Auflösung der Sowjetunion das Versagen des revolutionär-sozialistischen Projekts? Diese Frage verrät das Fehlen 1) einer umfassenden historischen Perspektive, 2) der Kenntnis der Widersprüche und Errungenschaften der sowjetischen Gesellschaft und 3) eines theoretisch fundierten Verständnisses des internationalen politischen Umfeldes, in welchem die Russische Revolution stattfand.

Die Russische Revolution war selbst nur eine Episode im Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus. Gibt es Präzedenzfälle, die den angebrachten zeitlichen Rahmen beim Studium eines derart gewaltigen historischen Vorgangs ermessen lassen? Die sozialen und politischen Umwälzungen, die den Übergang von der agrarisch-feudalen Gesellschaft zur industriekapitalistischen Gesellschaft begleiteten, erstreckten sich über mehrere Jahrhunderte. Wenngleich die Dynamik der modernen Welt - mit ihrem außergewöhnlichen Grad an ökonomischer, technischer und sozialer Verflechtung - einen derart langgestreckten Zeitrahmen beim Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus ausschließt, erfordert die Analyse eines historischen Prozesses, der die grundsätzlichsten, komplexesten und weitreichendsten ökonomischen Veränderungen umfasst, einen bedeutend längeren Zeitraum, als dies bei gewöhnlicheren Ereignissen der Fall wäre.

Dennoch war die Lebensdauer der Sowjetunion nicht unbedeutend. Als die Bolschewiki im Oktober 1917 die Macht ergriffen, erwarteten nur weniger Beobachter, das neue Regime könne auch nur einen Monat überleben. Der Staat, der aus der Oktoberrevolution hervorging, bestand über 74 Jahre, fast ein dreiviertel Jahrhundert. Im Verlauf dieser Zeit erlitt das Regime eine schreckliche politische Degeneration. Doch diese Degeneration, die 1991 in der Auflösung der Sowjetunion durch Gorbatschow und Jelzin gipfelte, bedeutet nicht, dass die Machteroberung durch Lenin und Trotzki im Oktober 1917 sinnlos, ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen gewesen wäre.

Das letzte Kapitel der Sowjetgeschichte direkt und ohne die nötigen Zwischenschritte von der bolschewistischen Machtergreifung herzuleiten, ist eine extreme Form des logischen Fehlschlusses Post hoc, ergo propter hoc (Danach, also deswegen). Ein objektives und ernsthaftes Studium der Geschichte der UdSSR erlaubt kein so einfaches Durcheinanderwerfen der Ereignisse. Der Ausgang der Sowjetgeschichte war nicht vorherbestimmt. Wie wir im Verlauf dieser Woche erklären wollen, hätte die Entwicklung der Sowjetunion auch eine andere, weit weniger tragische Richtung nehmen können. Obwohl der objektive Druck - der aus dem historischen Erbe von Russlands extremer Rückständigkeit und der Tatsache der imperialistischen Einkreisung des ersten Arbeiterstaates herrührte - bei der Degeneration des Sowjetregimes eine große Rolle spielte, trugen doch Faktoren subjektiver Art - also die Fehler und Verbrechen ihrer politischen Führung - maßgeblich zur schließlichen Zerstörung der UdSSR bei.

Das Ende der Sowjetunion im Jahr 1991 verweist das gewaltige Drama der Russischen Revolution und der Folgezeit nicht in die Bedeutungslosigkeit. Sie war mit Sicherheit das wichtigste politische Ereignis des 20. Jahrhunderts und eines der bedeutendsten der Weltgeschichte. Unsere Opposition gegen den Stalinismus wird nicht abgeschwächt, weil wir die kolossalen sozialen Errungenschaften der Sowjetunion anerkennen. Ungeachtet der Misswirtschaft und der Verbrechen des bürokratischen Regimes entfesselte die Oktoberrevolution außergewöhnlich kreative und zutiefst fortschrittliche Tendenzen im gesellschaftlichen Leben der sowjetischen Menschen.

Das rohe und rückständige Russland durchlief als Folge der Revolution eine wirtschaftliche, soziale und kulturelle Umformung, die in der Geschichte der Menschheit ihresgleichen sucht. Die Sowjetunion war - das betonen wir - keine sozialistische Gesellschaft. Das Niveau der Planung blieb rudimentär. Das von Stalin und Bucharin 1924 eingeleitete Programm, den Sozialismus in einem Lande aufzubauen - ein Programm, für das es in der marxistischen Theorie keine Grundlagen gibt - bedeutete die völlige Zurückweisung der internationalen Perspektive, welche die Oktoberrevolution inspiriert hatte. Trotzdem stellte die Sowjetunion die Geburt einer neuen Gesellschaftsform dar, errichtet auf der Grundlage einer Revolution der Arbeiterklasse. Das Potenzial der nationalisierten Industrie zeigte sich in aller Klarheit. Die Sowjetunion konnte dem Erbe von Russlands Rückständigkeit nicht entkommen, ganz zu schweigen von dem ihrer zentralasiatischen Teilrepubliken. Doch ihre Fortschritte auf den Gebieten von Wissenschaft, Bildung, sozialer Wohlfahrt und Künsten waren real und erheblich. Die Warnungen der Marxisten-Trotzkisten vor den katastrophalen Implikationen des Stalinismus erschienen sogar vielen Linken, die dem stalinistischen Regime kritisch gegenüberstanden, als unglaubwürdig, weil die Errungenschaften der Sowjetunion so bedeutend waren.

Schließlich, und das ist das Wichtigste, können Wesen und Bedeutung der Oktoberrevolution nur im globalen politischen Zusammenhang ihrer Entstehung verstanden werden. Wenn die Oktoberrevolution eine Art historischer Irrweg war, dann muss man dasselbe über das 20. Jahrhundert insgesamt sagen. Man kann die Berechtigung der Oktoberrevolution nur abstreiten, wenn man gleichzeitig plausibel macht, dass die Machtübernahme der Bolschewiki von gänzlich opportunistischem Charakter war, dass sie keine Basis in den Strömungen und Widersprüche des europäischen und internationalen Kapitalismus des frühen 20. Jahrhunderts hatte.

Eine derartige Behauptung wird durch die Tatsache untergraben, dass die Russische Revolution und die bolschewistische Machtübernahme vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs stattfanden. Beide Ereignisse sind untrennbar miteinander verbunden, und das nicht nur in dem Sinne, dass der Krieg den Zarismus geschwächt und die Bedingungen für die Revolution geschaffen hat. Grundlegender ist, dass die Oktoberrevolution eine andere Erscheinungsform derselben tiefen Krise der internationalen kapitalistischen Ordnung war, aus der sich auch der Krieg selbst ergeben hatte. Die schwelenden Widersprüche des Weltimperialismus brachten den Konflikt zwischen internationaler Wirtschaft und kapitalistischem Nationalstaatssystem 1914 zur Explosion. Ebendiese Widersprüche, die mehr als zwei Jahre blutigen Gemetzels an den Kriegsfronten nicht zu lösen vermochten, lagen dem Ausbruch der Russischen Revolution zugrunde. Die Führer des bürgerlichen Europa hatten das Chaos des Weltkapitalismus auf eine Weise zu beheben versucht. Die Führer der revolutionären Arbeiterklasse, die Bolschewiki, versuchten, einen anderen Ausweg aus demselben Chaos zu finden.

Da viele bürgerliche Akademiker die historischen und politischen Implikationen dieser Verbindung zwischen dem Weltkrieg und der Russischen Revolution verstehen, gab es immer wieder Versuche, die zufälligen und willkürlichen Aspekte des Ersten Weltkrieges zu betonen. Man bemühte sich nachzuweisen, dass der Krieg im August 1914 nicht habe ausbrechen müssen, dass es auch andere Wege zur Beilegung der Krise gegeben habe, die durch die Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand in Sarajevo entstanden war. Darauf muss man zwei Dinge erwidern.

Erstens: Obwohl andere Lösungen denkbar gewesen wären, entschieden sich die Regierungen Österreich-Ungarns, Russlands, Deutschlands, Frankreichs und schließlich Großbritanniens doch bewusst und absichtlich für den Krieg. Es ist vielleicht nicht so, dass all diese Regierungen den Krieg herbeisehnten; doch am Ende entschieden sie alle, dass er einer Einigung auf dem Verhandlungswege - die die Aufgabe des einen oder anderen strategischen Zieles erfordert hätte - vorzuziehen sei. Und die Führer des bürgerlichen Europas setzten den Krieg auch dann noch fort, als der Preis an Menschenleben in die Millionen ging. Die kriegführenden Mächte führten keinerlei ernsthafte Friedensverhandlungen, bis zuerst in Russland und dann in Deutschland die soziale Revolution ausbrach, die eine Veränderung der Klassenbeziehungen mit sich brachte und ein Ende des Krieges erzwang.

Der zweite Punkt ist, dass der Ausbruch eines vernichtenden Weltkrieges von den sozialistischen Arbeiterführern seit langem vorausgesehen worden war. Bereits in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts hatte Engels vor einem militärischen Zusammenstoß der kapitalistischen Industriemächte gewarnt, der Europa zum großen Teil in Trümmer legen würde. "Es würde eine Verwüstung geben wie im 30-jährigen Krieg", schrieb Engels im Januar 1888 an Adolph Sorge. "Und rasch ist nichts zu erledigen, trotz der kolossalen Streitkräfte... Wenn der Krieg ohne innere Bewegungen bis zuletzt ausgekämpft würde, so träte eine Erschöpfung ein, wie Europa sie seit 200 Jahren nicht durchgemacht." [29]

Ein Jahr später, im März 1889, schrieb Engels an Lafargue, der Krieg sei für ihn "die schrecklichste aller Möglichkeiten". Es wäre "ein Krieg, in dem es 10 bis 15 Millionen Kämpfende geben wird, der, allein um sie zu ernähren, eine noch nie dagewesene Verwüstung mit sich bringen wird; ein Krieg, der eine verstärkte und allgemeine Unterdrückung unserer Bewegung, eine Verschärfung des Chauvinismus in allen Ländern und schließlich eine Schwächung mit sich bringen wird, zehnmal schlimmer als nach 1815, eine Periode der Reaktion als Folge der Erschöpfung aller ausgebluteten Völker - und alles dies gegen die geringe Chance, dass aus diesem erbitterten Krieg eine Revolution hervorgeht - das entsetzt mich." [30]

Während der nächsten 25 Jahre stellte die europäische sozialistische Bewegung den Kampf gegen den kapitalistischen und imperialistischen Militarismus in den Mittelpunkt ihrer politischen Agitation. Die Analyse der notwendigen Verbindung zwischen Kapitalismus, Imperialismus und Militarismus durch die herausragendsten Theoretiker der sozialistischen Bewegung und die zahllosen Warnungen, ein imperialistischer Krieg sei nahezu unvermeidlich, widerlegen die Behauptung, die Ereignisse im August 1914 seien zufällig und stünden in keinerlei Beziehung zu den unausweichlichen Widersprüchen der kapitalistischen Weltordnung.

Im März 1913, weniger als 18 Monate vor Ausbruch des Weltkrieges, wurde folgende Analyse der Auswirkungen der Balkankrise erstellt: "[D]er Balkankrieg hat nicht nur die alten Grenzen auf dem Balkan zerstört und den Hass und Neid der kleinen Balkanstaaten aufeinander zum Glühen gebracht - er hat auch die kapitalistischen Staaten Europas für lange Zeit aus dem Gleichgewicht geworfen... Das europäische Gleichgewicht, das schon früher äußerst instabil war, ist nun ganz und gar zerstört. Es ist schwer vorauszusagen, ob diejenigen, die die europäischen Geschicke lenken, das Wagnis eingehen, es diesmal zu einem gesamteuropäischen Krieg kommen zu lassen." [31]

Autor dieser Zeilen war Leo Trotzki.

Aus dem angeblich zufälligen und willkürlichen Charakter des Ersten Weltkrieges leiten die akademischen Fürsprecher des Kapitalismus ab, dass auch jede andere unerfreuliche Episode des Kapitalismus im 20. Jahrhunderts zufällig war: die Große Depression, der Aufstieg des Faschismus und der Zweite Weltkrieg. Es war alles eine Sache von Fehleinschätzungen, unvorhersehbaren Ereignissen und - natürlich - einem Haufen Bösewichten. Der französische Historiker François Furet belehrt uns: "Das Verständnis unserer Epoche ist nur möglich, wenn wir uns von der Illusion der Notwendigkeit freimachen. Unser Jahrhundert ist - wenn überhaupt - nur dann zu erklären, wenn man ihm seinen unvorhersehbaren Charakter belässt." Er behauptet: "[D]ie Geschichte unseres wie des vorhergehenden Jahrhunderts hätte ebenso gut anders verlaufen können. Man stelle sich zum Beispiel nur vor, wie Russland im Jahr 1917 ohne Lenin gewesen wäre, oder Deutschland während der Weimarer Republik ohne Hitler." [32]

In ähnlicher Weise widmet Professor Henry Ashby Turner von der Universität Yale ein ganzes Buch dem Nachweis, dass Hitlers Machtübernahme großenteils das Ergebnis von Zufällen war. Sicher, es gab ein paar seit langem bestehende Probleme der deutschen Geschichte, ganz abgesehen von ein paar unglücklichen Ereignissen wie dem Ersten Weltkrieg, dem Versailler Vertrag und der Weltwirtschaftskrise. Doch weit wichtiger ist, dass "das Glück - diese launenhafteste aller Zufälligkeiten - klar auf Hitlers Seite" war. [33] Es gab auch "persönliche Zu- und Abneigungen, verletzte Gefühle, getrübte Freundschaften und die Sehnsucht nach Rache" - die alle gemeinsam die deutsche Politik in unvorhersehbarer Weise beeinflussten. Und, ja, da gab es auch die "zufällige Begegnung zwischen Papen und Baron von Schröder im Herrenklub", die sich letztlich zu Hitlers Vorteil auswirkte. [34]

Man fragt sich: Wenn von Papen nur mit einer Grippe im Bett geblieben wäre, anstatt in den Herrenklub zu gehen, hätte dann der gesamte Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts anders ausgesehen? Ebenso gut ist es möglich, dass wir die gesamte Entwicklung der modernen Physik dem glorreichen Apfel verdanken, der zufällig auf Newtons Kopf fiel.

Wenn die Geschichte lediglich "ein Märchen ist, erzählt von einem Blödling, voller Klang und Wut, das nichts bedeutet", warum sollte man sie dann studieren? Die Prämisse der Vorträge dieser Woche ist, dass die Lösung der Probleme unserer heutigen Welt - Probleme mit katastrophalen möglichen Folgen für die Menschheit - nicht nur ein weitreichendes Faktenwissen über die Geschichte des 20. Jahrhunderts erfordert, sondern auch die Aneignung der Lehren aus den viele tragischen Erfahrungen, die die Arbeiterklasse in den letzten hundert Jahren durchlaufen hat.

Als das Jahr 2000 nahte, erschien eine Vielzahl von Bänden auf dem Buchmarkt, die sich dem Studium des zuende gehenden Jahrhunderts widmeten. Eine Charakterisierung dieser Periode, die bemerkenswert populär wurde, war die des "kurzen 20. Jahrhunderts". Besonders Eric Hobsbawm propagierte sie. Er argumentierte, die Charakteristika, die das Jahrhundert bestimmten, hätten mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 begonnen und mit dem Ende der Sowjetunion 1991 geendet. Was immer Hobsbawms eigene Absicht gewesen sein mag, stützte diese Herangehensweise der Tendenz nach die These, die entscheidenden Ereignisse des 20. Jahrhunderts seien eher eine Art surrealistische Abweichung von der Wirklichkeit gewesen, als der Ausdruck historischer Gesetzmäßigkeiten.

Entgegen dieser Definition glaube ich, dass man die betreffende Epoche weit besser als das "unvollendete Jahrhundert" bezeichnen sollte. Vom Standpunkt der historischen Chronologie ist das 20. Jahrhundert natürlich zu Ende. Es ist vorbei. Doch vom Standpunkt der großen und grundlegenden Probleme, die den massiven sozialen Kämpfen und Umstürzen der Periode zwischen 1901 und 2000 zugrunde lagen, wurde sehr wenig gelöst.

Das 20. Jahrhundert hat dem 21. eine gewaltige unbeglichene Rechnung hinterlassen. All die Schrecken, denen die Arbeiterklasse im letzten Jahrhundert ausgesetzt war - Krieg, Faschismus, ja der Möglichkeit der Auslöschung aller menschlichen Zivilisation -, begleiten uns auch heute noch. Wir sprechen nicht wie die Existenzialisten von Gefahren und Zwangslagen, die der Natur des menschlichen Daseins immanent sind. Nein, wir haben es mit den grundsätzlichen Widersprüchen der kapitalistischen Produktionsweise zu tun, mit denen die größten revolutionären Marxisten des 20. Jahrhunderts - Lenin, Luxemburg und Trotzki -auf einem weit früheren Entwicklungsstadium gerungen haben. Was im letzten Jahrhundert nicht gelöst werden konnte, muss in diesem gelöst werden. Andernfalls besteht die große und wirkliche Gefahr, dass dieses Jahrhundert das letzte der Menschheit sein wird.

Eben darum ist das Studium des 20. Jahrhunderts und die Aneignung seiner Lehren eine Frage von Leben und Tod.

Anmerkungen:

[1] Ein Vortrag im Historischen Archivinstitut in: Vierte Internationale Jg. 16-17, Essen 1991, S. 113-114

[2] Die Krise der Sozialdemokratie (Junius-Broschüre) in: Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke Band 4, Berlin 1987, S. 53

[3] Keith Jenkins, On "What Is History?", London and New York, 1995, p. 6-7 (übersetzt aus dem Englischen)

[4] ibid., p. 7

[5] Hayden White, The Content of the Form: Narrative Discourse and Historical Representation, Baltimore, 1990, p. 63 (übersetzt aus dem Englischen)

[6] Jean-François Lyotard, Postmoderne für Kinder, Briefe aus den Jahren 1982-85, Wien 1987, S. 45f.

[7] Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, MEW Bd. 21, S. 266

[8] Richard Rorty, Wahrheit und Fortschritt, Frankfurt 2003, S.329

[9] ebd., S. 330

[10] Richard Rorty, Philosophy and Social Hope, London and New York 1999, p. 36 (übersetzt aus dem Englischen)

[11] Keith Jenkins, op. cit., p. 103 (übersetzt aus dem Englischen)

[12] Richard Rorty, Wahrheit und Fortschritt, Frankfurt 2003, S. 337

[13] ebd., S. 330

[14] Preface to Karl Löwith, Max Weber and Karl Marx, New York and London 1993, p. 5. (aus dem Englischen)

[15] Eric Hobsbawm, Gefährliche Zeiten, München, 2003, S. 154

[16] Robert Conquest, Reflections on a Ravaged Century, New York 2000, p. 3. (aus dem Englischen)

[17] Andrzej Walicki, Marxism and the Leap to the Kingdom of Freedom—The Rise and Fall of the Communist Utopia, Stanford 1995 (aus dem Englischen)

[18] Martin Malia, The Soviet Tragedy, New York 1994, p. 225 (aus dem Englischen)

[19] Richard Pipes, Property and Freedom, New York 2000, p. 286 (aus dem Englischen)

[20] C. B. Macpherson , The Rise and Fall of Economic Justice, Oxford 1987, p. 77 (aus dem Englischen)

[21] Richard Pipes, op. cit. p. 284-288 (aus dem Englischen)

[22] Ronald Aronson, After Marxism, New York 1995, p. I (aus dem Englischen)

[23] ibid., p. VII-VIII

[24] ibid., p. 56

[25] Vincent Geoghegan, Utopianism and Marxism, New York 1987, p. 68 (aus dem Englischen)

[26] ibid., p. 72 (aus dem Englischen)

[27] Socialist Register 2000, Necessary and Unnecessary Utopias, Suffolk 1999, p. 22 (aus dem Englischen)

[28] Bryan Turner, Preface to Karl Löwith, Max Weber and Karl Marx, New York and London 1993, p. 5. (aus dem Englischen)

[29] Engels an Friedrich Adolph Sorge, 7. Januar 1988, in MEW Band 37, S. 11

[30] Engels an Paul Lafargue, 25. März 1889, ebd. S. 171

[31] Leo Trotzki, Die Balkankriege 1912-13, Essen 1996, S. 350

[32] François Furet, Das Ende der Illusion, München 1996, S. 14

[33] Henry Ashby Turner, Hitler’s Thirty Days to Power, Addison Wesley 1996, p. 168 (aus dem Englischen)

[34] ibid..

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