Koizumis Erdrutschsieg bei der Wahl in Japan

Der japanische Premierminister Junichiro Koizumi ist mit seiner Liberal Demokratischen Partei (LDP) als Sieger aus den Wahlen vom vergangenen Wochenende hervorgegangen. Zum ersten Mal seit 15 Jahren verfügt die LDP im Unterhaus der Diet (des Parlaments) wieder über die absolute Mehrheit. Koizumi fügte nicht nur der oppositionellen Demokratischen Partei von Japan (DPJ), sondern auch den Rebellen aus seiner eigenen Partei eine Niederlage zu.

Vor einem Monat hatte Koizumi vorgezogene Neuwahlen ausgerufen, nachdem das Oberhaus seinen Gesetzesentwurf über die Privatisierung der japanischen Post - ein gigantisches, 2,4 Billionen Euro schweres Finanzunternehmen - abgelehnt hatte. Er schloss 37 "Rebellen" aus der LDP aus, setzte in ihren Wahlkreisen prominente Kandidaten, sogenannte "Ninjas", ein und appellierte an die Wählerschaft, ihm ein Mandat zur Fortsetzung seines Kurses zu geben.

Die Privatisierung der japanischen Post gilt als Dreh- und Angelpunkt des gesamten wirtschaftlichen Reformprogramms. Dadurch würden riesige Summen für den privaten Kapitalmarkt verfügbar und der Regierung wäre der Zugang zu billigen Krediten versperrt. Als Folge müssten heutige und künftige Regierungen starke Kürzungen bei öffentlichen Investitionen, Landwirtschaftssubventionen, Sozialleistungen und der Gesundheitsversorgung machen.

Das Wahlergebnis wird es Koizumi ermöglichen, die Privatisierung der Post gegen jeden Widerstand durchzusetzen. Die LDP errang 296 von 480 Sitzen im Unterhaus - vorher waren es 249 gewesen - und ihr Koalitionspartner Neue Komeito 31 Sitze. Mit insgesamt 327 Sitzen dominiert der regierende Block die Ausschüsse und verfügt über die notwendige Zweidrittel-Mehrheit, um Entscheidungen des Oberhauses zu überstimmen. Nur achtzehn LDP-Rebellen verteidigten ihre Mandate.

Ein noch größerer Verlierer war die DPJ: Sie errang nur noch 106 Sitze gegenüber 175 vorher. Der Führer der DPJ, Katsuja Okada, trat von seinem Posten zurück und erklärte: "Der wichtigste Grund für unsere Niederlage ist der Verlust vieler Sitze in den Städten, wo wir angeblich die größte Unterstützung hatten." Die Sozialdemokratische Partei (SDP), der Hauptrivale der LDP in der gesamten Nachkriegszeit, ist nur noch eine parlamentarische Splittergruppe mit sieben Sitzen (vorher fünf). Die Kommunistische Partei Japans (KPJ) verteidigte ihre neun Mandate.

Koizumi prahlte vor den Medien: "Ich habe die alte LDP zerstört. Sie ist als neue Partei wiedergeboren worden." Die LDP hatte traditionell auf dem Land den größten Einfluss, den sie durch die Vergabe von beträchtlichen Subventionen und von Bauprojekten eifrig verteidigte. Die DPJ, die in den 1990er Jahren hauptsächlich aus Abspaltungen von der LDP entstand, stütze sich auf Teile der städtischen Mittelschichten und forderte ein Ende der Bevorzugung des Landes. Sie setzte sich für Marktreformen als Weg zur Überwindung der wirtschaftlichen Stagnation ein.

Koizumis Sieg wurde von Finanzkreisen enthusiastisch bejubelt. Unmittelbar nach der Wahl schoss der Nikkei Aktienindex um 1,2 Prozent auf 12.926,57 Punkte hoch und durchbrach damit zum ersten Mal seit vier Jahren die Marke von 12.900.

Takeo Fukui, der Präsident von Honda, erklärte: "Wir unterstützen den Wechsel vom alten Japan zu einem neuen Japan. Deswegen stehen wir im Pro-Koizumi Lager." Kensuke Hotta, Vorsitzender von Morgan Stanley Japan, kommentierte: "Das alte Japan ist Geschichte. Das neue Japan... ist für Kapitalismus, Individualismus und kräftigen Konsum."

Die Bedeutung dieser Feststellung wurde von Hidenao Nakagawa verdeutlicht, dem Parlamentarischen Geschäftsführer der LDP-Fraktion, der den Sieg mit dem von Margret Thatcher in Großbritannien und Ronald Reagan in den USA in den 1980er Jahren verglich. "Dieser Trend hat sich in Japan mit zwanzigjähriger Verzögerung durchgesetzt," sagte er.

An Nakagawas Bemerkungen kann man ablesen, was bevorsteht. Seit dem Zusammenbruch der Aktien- und Immobilienwerte in den späten achtziger Jahren befindet sich Japan in einer wirtschaftlichen Depression. Trotz mehrerer Konjunkturprogramme hat es kein Wirtschaftswachstum gegeben. Seit einiger Zeit sind Teile der Wirtschaftselite über den unzureichenden Charakter der wirtschaftlichen Strukturreformen frustriert und fordern weitgehende Marktreformen, um Japans Konkurrenzfähigkeit zu stärken.

Nach dem Sieg vom letzten Wochenende wird Koizumi unter Druck stehen, nicht nur die Post zu privatisieren, sondern auch die Wirtschaftspolitik der verbrannten Erde von Thatcher und Reagan nachzuvollziehen. Gleichzeitig wird seine Regierung unvermeidlich zu den gleichen brutalen Maßnahmen greifen wie seine Vorbilder, um jede Opposition zu zerschlagen, vor allen von Seiten der Arbeiter, die sich gegen die Zerstörung von Arbeitsplätzen, Sozialleistungen und Lebensbedingungen wehren werden.

Ein politisches Täuschungsmanöver

Bei aller Euphorie in der Finanzpresse über Koizumis Sieg hat niemand eine Erklärung dafür angeboten, wie sein politisches Täuschungsmanöver gelingen konnte, wie die Wähler dazu gebracht werden konnten, für ein Wirtschaftsprogramm zu stimmen, das unvermeidlich verheerende Auswirkungen auf ihren eigenen Lebensstandard haben wird.

Im vergangenen Jahrzehnt hat sich eine tiefe Entfremdung zwischen breiten Schichten von japanischen Wählern, besonders den jungen, und dem gesamten politischen Establishment entwickelt. In den letzten Wahlen ist die Wahlbeteiligung stark zurückgegangen, und zahlreiche "Unabhängige" waren in der Lage, beträchtliche Unterstützung zu gewinnen.

Die Gründe für die Unzufriedenheit sind vielfältig. Teile der städtischen Mittelschichten wurden von dem Zusammenbruch der Immobilienpreise hart getroffen. Die wirtschaftliche Stagnation hat zu der höchsten Arbeitslosigkeit der gesamten Nachkriegszeit geführt. Die Jugend ist von einer Gesellschaft angewidert, die ihr keine Zukunft bietet.

Koizumi übernahm die Führung der LDP 2001 gegen den Widerstand der alteingesessenen Fraktionsführer. Er nutzte seinen Ruf als Exzentriker, um Unterstützung für seine rechten Ziele zu gewinnen. Dennoch stieß er mit seinen Bemühungen, den japanischen Nationalismus und Militarismus wieder aufleben zu lassen, und besonders mit seiner Entscheidung, japanische Soldaten in den Irak zu entsenden, auf erheblichen Widerstand.

Die Wahl vor einer Woche bestritt Koizumi einzig mit dem Thema der Privatisierung der Post, die er als das Mittel hinstellte, das Japan eine neue, rosige wirtschaftliche Zukunft eröffnen werde. Mit der Unterstützung der Medien verkaufte er seine Kampagne als Kampf gegen das "alte Japan". Seine "Ninjas" suchte er bewusst so aus, dass sie in das Bild einer Alternative zu den "altmodischen" LDP-Rebellen in ihren schwarzen Anzügen passten - so gehörten eine ehemalige Schönheitskönigin, eine bekannte Fernsehköchin und der junge Chef einer Internetfirma dazu.

Yasuko Tokuda, ein Public Relations Berater, kommentierte gegenüber der Financial Times : "Mr. Koizumis Stil, die Art, wie er spricht und Fragen mit Entschiedenheit beantwortet, mit diesem Ausdruck in den Augen und mit dieser Kraft - das ist ein neuer Stil, der ihn von den alten, verkalkten traditionellen Politikern unterscheidet." Nakoki Arai, Direktor einer Kunstgalerie, erklärte: "Die Leute wollen nicht unbedingt die Wahrheit hören. Aber sie werden jemandem zuhören, den sie für interessant halten."

Diese oberflächliche Kampagne zeigte Wirkung. Die Leute stimmten nicht nur für die LDP, auch die Wahlbeteiligung war die höchste seit fünfzehn Jahren. Sie betrug 67 Prozent, das sind acht Prozent mehr als bei der Parlamentswahl 2003. Daisuke Muramatsu, ein 24-jähriger Eventmanager aus Tokio, ist ein typisches Beispiel. Er sagte der Washington Post : "Ich habe vorher noch nie gewählt, aber dieses Mal habe ich auf Mr. Koizumi gesetzt. Koizumi geht ein hohes Risiko ein. Ich mag seinen entschlossenen Charakter und seine aggressive Art. Es stehen die größten Reformen in Japan seit der Meiji-Restauration an."

Koizumi konnte mit seiner politischen Täuschung auch deshalb durchkommen, weil es keine wirkliche Opposition gab. Das wirtschaftliche Reformprogramm der DPJ unterscheidet sich nicht wesentlich von dem Koizumis. Die DPJ kritisierte Koizumi sogar, weil seine Marktreformen nicht weit genug gingen. Okada erklärte, Koizumis Plan, einige Postämter in staatlicher Hand zu behalten, sei "keineswegs eine 100prozentige Privatisierung".

Die DPJ veröffentlichte einen "Reform"-Plan, der noch übler als der der Regierung war. Er beinhaltete eine Kürzung der Regierungsausgaben um10.000 Mrd. Yen (74 Mrd. Euro), einen zwanzigprozentigen Abbau der Staatsbediensteten, eine Erhöhung der Konsumsteuer auf acht Prozent und die Abschaffung der Sozialversicherungsagentur.

Die DPJ unternahm keinerlei Anstrengungen, den Irakkrieg im Wahlkampf zum Thema zu machen, obwohl es starke Opposition gegen ihn gibt. Eine Telefonumfrage der Tageszeitung Tokyo Shimbun eine Woche vor der Wahl fand heraus, dass die Hälfte der Wähler einen Rückzug der japanischen Truppen aus dem Irak wollen, und 19 Prozent einen sofortigen Rückzug befürworten. Der Führer der DPJ, Katsuya Okada erklärte lahm, er werde die japanischen Truppen aus dem Irak abziehen - in Konsultation mit der Bush-Regierung.

Die Sozialdemokratische und die Kommunistische Partei kritisierten zwar die Anwesenheit japanischer Truppen im Irak und die sozialen Auswirkungen einiger Regierungsmaßnahmen, aber diese so genannten "sozialistischen" Parteien sind kaum mehr als Satelliten der DPJ. Die KPJ appellierte für einen "gemeinsamen Kampf" aller Oppositionsparteien - d.h. gemeinsam mit der DPJ - gegen die Privatisierung der Post. Die KPJ warnte also nicht davor, dass die DPJ genauso brutal gegen die arbeitende Bevölkerung wie die LDP vorgehen würde, sondern verbreitete den Mythos, die DPJ sei ein kleineres Übel.

Koizumi war auch deswegen in der Lage, Wähler hinter sich zu bringen, weil Japan die Erfahrung des zerstörerischen Marktradikalismus, wie er von Reagan und Thatcher vor zwei Jahrzehnten in Gang gesetzt wurde, noch nicht im vollem Umfang gemacht hat. Besuchern aus Großbritannien oder den USA fällt sofort auf, wie zahlreich die Beschäftigten auf Flughäfen, in Läden und an anderen öffentlichen Plätze noch sind. Solche Beschäftigtenzahlen gehören anderswo um der "Effizienz" und "Wettbewerbsfähigkeit" willen längst der Vergangenheit an.

Jetzt bereitet Koizumi im Namen des "neuen Japan" "Reformen" vor, die die Arbeitslosigkeit nach oben treiben und die Kluft zwischen Arm und Reich vertiefen werden. In den letzten vier Jahren hat Koizumi die Aufträge der öffentlichen Hand bereits um zwanzig Prozent gekürzt. Die Japan Highway Corp., eine staatliche Straßenbaufirma, hat etwa 300 Mrd. Euro Schulden angehäuft und soll nächsten Monat privatisiert werden.

Die Wirtschaftsreformen werden jetzt stark beschleunigt werden. Finanzexperten weisen darauf hin, dass Japans öffentliche Verschuldung, die sich unter Koizumi noch erhöht hat und nun 150 Prozent des Bruttosozialprodukts beträgt, völlig untragbar sei. Mit den Staatsschulden wurden Sozialleistungen, die Löhne der Staatsbediensteten, sowie Renten und Gesundheitsversorgung finanziert. Das alles muss jetzt gekürzt werden.

Kazuo Mizuno, Chefökonom bei Mitsubishi Securities, sagte der Japan Times, Koizumi müsse jetzt für den Schuldenberg der öffentlichen Hand bezahlen. Mizuno zufolge steigen die Rentenkosten wegen des Bevölkerungswachstums jährlich um 500 Mrd. bis zu einer Billion Yen [3,7 Mrd. bis 7,4 Mrd. Euro], während die Krankenversicherung jedes Jahr ein Minus von Hunderten Milliarden Yen ausweist. Er argumentierte für eine Erhöhung der Verbrauchssteuern von fünf Prozent auf zehn bis fünfzehn Prozent und für eine Kürzung der Beamtengehälter um zwanzig Prozent.

Nayoyuki Yoshino, Professor an der Keio Universität, erklärte unverblümt, die Lösung für die Finanzprobleme der Renten- und Krankenkassen bestehe darin, das Rentenalter anzuheben und "die älteren Bürger, die weiter arbeiten wollen, weiter arbeiten zu lassen".

Die Wirtschaftselite Japans sieht Koizumis Wahlsieg als einmalige Gelegenheit, Umstrukturierungsmaßnahmen der Wirtschaft voranzutreiben, die seit zehn Jahren oder länger überfällig sind. In bestimmten Kreisen der herrschenden Klasse werden schon Forderungen laut, Koizumi solle das Regierungsamt bis über die nächste Wahl hinaus behalten.

Wer Koizumi in der Hoffnung gewählt hat, im "neuen Japan" werde sich seine Lage verbessern, wird noch manchen Schock erleben.

Siehe auch:
Vorgezogene Parlamentswahlen in Japan: Nach Rückschlag der Privatisierungspläne für die Japanische Post ruft Koizumi Neuwahlen aus
(17. August 2005)
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