Treffen der Internationalen Redaktion der WSWS

Bericht über die Weltwirtschaft im Jahr 2006

Teil 3

Den folgenden Bericht hat Nick Beams anlässlich der Internationalen Redaktionskonferenz (IEB) der World Socialist Web Site gegeben, die vom 22. bis 27. Januar 2006 im australischen Sydney stattfand. Beams ist Mitglied des WSWS IEB und Nationaler Sekretär der Socialist Equality Party (Australien). Wir veröffentlichen den Bericht in drei Teilen.

Zum Abschluss dieses Überblicks möchte ich einige neulich gemachte Bemerkungen des stellvertretenden Präsidenten der Bank von England, Sir Andrew Large, zitieren, der zuständig für finanzielle Stabilität ist. Large wies auf "einige", wie er sie nannte "weniger angenehme Aspekte" des gegenwärtigen Finanzsystems hin, darunter die Schwierigkeit, den wirklichen Wert von Anlagegütern und Verträgen zu bestimmen; das Vertrauen in Finanzmodelle, die nicht unter unterschiedlichen wirtschaftlichen Bedingungen ausgetestet wurden; Ungewissheit über das Verhalten neuer Marktteilnehmer; und "die Schwierigkeit einzuschätzen, wie stabil die Märkte sind, falls eine Reihe von gewichtigen Investoren gleichzeitig entscheiden, ihre Anlagen zu Geld zu machen... Die Frage ist: werden die Anfälligkeiten größer, und werden sie eines Tages greifbar werden, wenn ein großer Schock hereinbricht, den der Markt einfach nicht mehr auffangen kann? Tatsache ist, wir wissen es nicht."

Der Zuwachs an exotischen Finanzinstrumenten, von denen es viele selbst vor ein paar Jahren noch nicht gegeben hat, ist ziemlich ungewöhnlich. Hedge Fonds verfügen über mindestens 1 Billion US-Dollar, eine Summe, die sich seit 1998 verdreifacht hat. Und man schätzt, dass der Derivaten-Markt auf eine halbe Billiarde anwachsen wird, das sind 500 Billionen US-Dollar, mehr als das Zehnfache des BIPs der Welt - das bei ca. 45 Billionen US-Dollar liegt.

Eine weitere wichtige Tatsache der jüngsten Zeit ist der Anstieg des Gold-Preises, der jetzt einen 25-Jahres-Höchststand erreicht hat und jetzt bei ca. 560 US-Dollar pro Unze liegt. Der Wechsel ins Gold spiegelt einen Mangel an Vertrauen in alle großen Währungen wider. Als die Regierung Nixon 1971 die Golddeckung des Dollars abschaffte und damit das Bretton-Woods-System beerdigte, wurde der Dollar zur internationalen Austauschwährung. Aber in den 35 Jahren seitdem war er nicht in der Lage, eine stabile Grundlage für das internationale Währungssystem zu schaffen.

In der Zeit der Stagflation Ende der 1970er Jahre, fiel der Dollar auf einen Rekordtiefstand, was schließlich zum Volcker-Schock von 1979 führte, als die US-Zinssätze auf Rekordhöhe angehoben wurden. Das verursachte die tiefste Rezession seit den 1930ern und eine tiefe Finanzkrise in den so genannten unterentwickelten Ländern. Der steigende Wert des US-Dollars führte zu einem immer größeren Handelsdefizit, da die US-Exporte wegen ihrer Preise auf dem Weltmarkt nicht konkurrieren konnten. Das führte 1985 zum Plaza-Abkommen, in dem die Zentralbanken übereinkamen, den Wert des Dollars zu senken. Aber diese Entscheidung hatte weit reichende Konsequenzen; die nicht gerade geringste davon war ein Ansteigen des Yen und ein Immobilien- und Aktienmarkt-Boom in Japan, der schließlich 1989 zusammenbrach und den Weg frei machte für mehr als ein Jahrzehnt Deflation.

Der Dollar war so rasch gefallen, dass 1987 ein Abkommen getroffen wurde, seinen Wert zu stabilisieren - das Ergebnis war das Louvre-Abkommen. Allerdings führten Meinungsverschiedenheiten zwischen den USA und Deutschland über die Zinssätze zu Turbulenzen auf den Finanzmärkten und 1987 zum Börsenkrach.

Der gerade neu ernannte Vorstandschef der Notenbank, Alan Greenspan, reagierte auf den Börsenkrach auf eine Weise, die im Verlauf der nächsten 18 Jahre zur Gewohnheit wurde. Er öffnete die Geldhähne und garantierte den Banken Kredite, falls sie in Schwierigkeiten geraten sollten,. Der Zusammenbruch des Aktienmarktes wurde so- mit massivem Eingreifen der Finanzbehörden - verhindert, aber die Währungsturbulenzen gingen weiter. Die frühen 1990er erlebten eine Krise des britischen Pfunds und des skandinavischen Bankensystems. Dann kam die Mexiko-Krise von 1994, bei der die Clinton-Regierung einschritt, um US-Banken und -Kreditinstituten mit einer Bürgschaft aus der Patsche zu helfen.

Gegen Ende des Jahres 1996 war offenkundig, dass sich am Aktienmarkt der Vereinigten Staaten eine Spekulationsblase entwickelte - eine Tatsache, die von Greenspan während eines Treffens des Leitungsgremiums der Notenbank eingeräumt wurde. Aber außer einer Erklärung gegen "unvernünftigen Überschwang" wurde nichts unternommen. Der Widerstand der Wall Street gegen die eine Zinssatz-Erhöhung, die Greenspan 1997 durchgesetzt hatte, war so heftig, dass der Notenbankchef beschloss, nichts gegen den Anstieg der Aktienpreise zu unternehmen. Der Ausbruch der Asienkrise war das Signal für eine Erleichterung der Liquidität.

Als die Aktienspekulationsblase schließlich Anfang 2001 platzte, war Greenspans Reaktion, die Zinssätze zu senken. Als Folge sollte sich eine Spekulationsblase auf dem Immobilienmarkt bilden, da die Zinssätze auf einen Rekordtiefpunkt sanken. In jüngster Zeit hat die Notenbank die Sätze wieder angehoben, hauptsächlich aus der Sorge heraus, keine Reaktionsmöglichkeiten mehr zu haben, wenn die nächste Krise hereinbricht.

Die Widersprüche des Kapitalismus

Wenn sich eine Finanzkrise entwickelt, werden zweifellos viele Greenspan dafür verantwortlich machen... wenn die Notenbank nur etwas unternommen hätte, um die Finanz-Spekulationsblase im Keim zu ersticken etc., etc., etc., genauso wie versucht wurde, die Politik der Notenbank für den Zusammenbruch der Wall Street 1929 und die darauf folgende große Depression verantwortlich zu machen.

Es wäre zwar falsch die Bedeutung von Individuen und ihrer Entscheidungen zu leugnen, dennoch kann die Ausdehnung des Geld- und Kreditsystems und die potentielle Instabilität, die das mit sich bringt, nicht den Entscheidungen Greenspans angelastet werden. Seine Politik war eine Reaktion auf die Entwicklung der objektiven Widersprüche in der kapitalistischen Wirtschaft selbst.

Wie schätzen wir diese Prozesse ein?

In den frühen 1970ern brach das Nachkriegsgleichgewicht des Weltkapitalismus zusammen. Die nächsten drei Jahrzehnte brachten eine gewaltige Umwälzung in der Weltwirtschaft. Wir stehen jetzt vor der Frage: Bewegen wir uns auf ein neues Gleichgewicht zu oder haben die tiefgehenden Veränderungen in der Weltwirtschaft in den vergangenen drei Jahrzehnten die Bedingungen für wirtschaftliche und politische Unruhen und die Möglichkeit zum Sturz des Kapitalismus durch die sozialistische Revolution geschaffen. Mit anderen Worten: Was sind im Weltmaßstab die Aussichten für den Sozialismus?

Um diese Frage anzugehen, würde ich gerne einen Artikel der "linken" Autoren Leo Panitch und Sam Gindin mit dem Titel "Finanzen und das amerikanische Imperium" untersuchen, der in der Ausgabe 2005 des Socialist Register erschienen ist.

Der Leitgedanke des Artikels ist, dass die Finanzialisierungsprozesse der letzten 30 Jahre den amerikanischen Kapitalismus nicht geschwächt, sondern gestärkt haben. Den beiden Autoren zufolge spielten der Volcker-Schock der frühen 1980er Jahre und das nachfolgende neoliberale Programm eine Schlüsselrolle dabei, den amerikanischen Kapitalismus zu stärken.

"Letztendlich", schreiben sie, "sind die Risiken in der internationalen Akkumulation abhängig vom Vertrauen in den Dollar und seiner Basis in der Stärke der amerikanischen Wirtschaft sowie der Fähigkeit des amerikanischen Staats mit der unvermeidbaren Unbeständigkeit der Finanzmärkte fertig zu werden. Der Wirtschaftsaufschwung der Nachkriegszeit hat das Vertrauen in die amerikanische Macht widergespiegelt; bei der Wiedererrichtung der Weltmacht, die in den frühen 1980ern begann, ging es darum, nach den Verunsicherungen der 1960er und 1970er Jahre dieses Vertrauen wiederherzustellen."

Sie betonen, dass die Ausweitung des Finanzwesens das Herzstück sowohl der Internationalisierung der Produktion als auch der anhaltenden Stärke der amerikanischen Wirtschaft ist; das liberalisierte Finanzwesen ist ein Entwicklungsmechanismus, mit dem der amerikanische Staat seine Ziele verwirklicht, sowie Finanzkrisen bewältigt, sobald sie auftauchen. Zur gleichen Zeit hat die Globalisierung des Finanzwesens zu seiner Amerikanisierung geführt, was entscheidend wurde für die Wiederherstellung und die Universalisierung der amerikanischen Macht.

Panitch und Gindin lehnen ab, was sie das "alte Paradigma von der inter-imperialistischen Rivalität" nennen, und zwar weil die augenblickliche Einbindung in das amerikanische Weltreich bedeutet, dass eine Krise des Dollars eine Krise des gesamten Systems wäre.

"An der Vorstellung festzuhalten, dass die Krise der 1970er Jahre heute immer noch existiert, widerspricht den Veränderungen, die seit den frühen 1980ern stattgefunden haben. Was für eine Krise des Kapitalismus ist das, wenn das System sich verbreitert und vertieft, und sogar eine weitere technologische Revolution unterstützt, während die Opposition gegen das System nach drei Jahrzehnten unfähig ist, irgendeine wirksame Herausforderung auf die Beine zu stellen? Wenn die Krise zur,Norm’ wird, trivialisiert das das Konzept und lenkt uns davon ab, ein Verständnis der neuen Widersprüche der gegenwärtigen Lage zu bekommen."

Eine Reihe von Dingen muss hier geklärt werden. Natürlich ist es notwendig, zwischen einer kurzfristigen Krise der kapitalistischen Wirtschaft - dem Zusammenbruch des Aktienmarktes 1987, dem Zusammenbruch des "Long Term Capital Management" - und der langfristigen historischen Lebensfähigkeit der kapitalistischen Produktionsweise in der gegenwärtigen Epoche zu unterscheiden. Der Kapitalismus befindet sich kurzfristig nicht ständig in einer Krise, und genauso wenig sollte die "Krise des Kapitalismus" angeführt werden, um wirtschaftliche Entwicklungen zu erklären.

Nachdem das geklärt ist, ist es notwendig, eine Einschätzung der historischen Lage der kapitalistischen Weltwirtschaft zu geben. Worin bestand die "Krise der 1970er" Jahre, von der die beiden Autoren behaupten, sie müsse nun beiseite gelegt werden? Sie hatte ihre Wurzeln im Prozess der Kapitalakkumulation - der treibenden Kraft der kapitalistischen Wirtschaft. Das tendenzielle Fallen der Profitrate, das sich seit Ende der 1960er Jahre entwickelte, konnte nicht innerhalb des existierenden Produktionssystems überwunden werden. Die kapitalistische Wirtschaft musste radikal umstrukturiert werden. Genau das führte zum Prozess der Globalisierung - d.h. zu dem Versuch des Kapitals, den Druck auf die Profitraten durch die Ausnutzung der billigsten Arbeitskräfte zu überwinden. Wurde die Profitrate wiederhergestellt? Die Anzeichen sagen nein.

Einer Analyse zufolge lag die amerikanische Profitrate zu Beginn des Nachkriegs-Booms bei 22 Prozent, bevor sie in der Zeit von 1967 bis 1977 zurück ging und bei 10 Prozent landete. Seitdem ist die Profitrate, trotz der unermüdlichsten Anstrengungen sowohl der Unternehmer als auch des Staates, die Reallöhne zu drücken und neue Technologien einzuführen, nach einem kurzen Spurt in den 1990ern nur auf 14 Prozent gestiegen. (Siehe Fred Mosley, "Marxist Crisis Theory and the Postwar US Economy" in Anticapitalism, hrsg. Von Alfredo Saad-Filho, S. 212)

Obwohl genaue Zahlen fehlen, weist das Auftreten mehrerer gigantischer Spekulationsblasen, in denen Reichtum nicht durch die Gewinnung von Mehrwert erzielt wird, sondern durch Spekulation und Finanztricks, darauf hin, dass es den Abwärtsdruck auf die Profitraten gibt. Geld muss mit riskanten Finanzgeschäften gemacht werden, weil es anders nicht verdient werden kann.

Panitch und Gindin behaupten, es sei notwendig, "die neuen Widersprüche der gegenwärtigen Lage" zu verstehen. Worin bestehen diese? Gegensätze zwischen den Imperialisten, erklären sie uns, gehören der Vergangenheit an, und die fallende Profitrate, die in den 1970ern eine Krise hervorrief, gibt es nicht mehr. Demzufolge müssen wir die wachsende Stärke des US-Imperialismus anerkennen und unsere alten Vorstellungen und Perspektiven, die auf einem Verständnis der objektiven Widersprüche des Weltkapitalismus basieren, zur Seite legen. Bedeutet dies, der Sozialismus ist unmöglich geworden? Nein, aber er hat eine neue Grundlage.

"Eine Zukunft jenseits des Kapitalismus ist möglich und zunehmend notwendig vom Standpunkt der sozialen Gerechtigkeit und der ökologischen Vernunft aus, aber der Kapitalismus befindet sich immer noch im Prozess des Entstehens." Also können wir immer noch von den Widersprüchen des Kapitalismus sprechen, aber wir sollten nicht zuviel Aufhebens darum machen, es sei denn, sie nehmen die Form von Klassenwidersprüchen an. Wir müssen "uns von der Vorstellung befreien, dass die,Krise’ etwas ist, das den Kapitalismus dazu bringt, sich selbst zu zerstören".

"Die Möglichkeiten für radikale Veränderungen [man beachte: nicht für die sozialistische Revolution] in der gegenwärtigen Epoche des Kapitalismus, werden sich hauptsächlich um Probleme der politischen Legitimität drehen, als um einen plötzlichen Wirtschaftszusammenbruch."

Hier werden, im ersten Jahrzehnt des einundzwanzigsten Jahrhunderts alle Probleme aufgeworfen, die in der Auseinandersetzung mit den Revisionisten zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts aufbrachen. Wie Rosa Luxemburg in ihrer Antwort an Eduard Bernstein erklärt, ist entweder die sozialistische Umgestaltung des Kapitalismus die Folge aus den internationalen Widersprüchen des Kapitalismus und seines letztendlichen Zusammenbruchs oder das kapitalistische System ist in der Lage, seine inneren Widersprüche zu unterdrücken. "Dann aber hört der Sozialismus auf, eine historische Notwendigkeit zu sein, und er ist dann alles, was man will, nur nicht ein Ergebnis der materiellen Entwicklung der Gesellschaft."

Bernstein hatte behauptet, dass die neuen Kredit- und Finanz-Instrumente einen Ausbruch der Art von Krise verhindert hätten, die den Kapitalismus in der Vergangenheit erschütterten, und die kapitalistische Wirtschaft gestärkt hätten. Luxemburg antwortete, dass der Kreditmechanismus zwar Widersprüche in der Entwicklung des Kapitalismus überwinde, aber nur um sie auf einer höheren Ebene wieder neu zu schaffen.

Mit Worten, die nichts von ihrer Bedeutung verloren haben, erklärte sie: "So ist der Kredit, weit entfernt, ein Mittel zur Beseitigung oder auch nur zur Linderung der Krisen zu sein, ganz im Gegenteil ein besonders mächtiger Faktor der Krisenbildung. Und das ist auch gar nicht anders möglich. Die spezifische Funktion des Kredits ist - ganz allgemein ausgedrückt - doch nichts anderes, als den Rest von Standfestigkeit aus allen kapitalistischen Verhältnissen zu verbannen und überall die größtmögliche Elastizität hineinzubringen, alle kapitalistischen Kräfte in höchstem Maße dehnbar, relativ und empfindlich zu machen. Dass damit die Krisen, die nichts anderes als der periodische Zusammenstoß der einander widerstrebenden Kräfte der kapitalistischen Wirtschaft sind, nur erleichtert und verschärft werden können, liegt auf der Hand."

Sicherlich sind die vorher zitierten Bankiers keine Anhänger Rosa Luxemburgs, aber dennoch haben sie sich genau über diesen Prozess besorgt geäußert.

Die Verrätereien an der Arbeiterklasse und die Rolle des US-Imperialismus

Zum Abschluss möchte ich die Behauptung überprüfen, dass der Prozess der Finanzialisierung die Position des amerikanischen Kapitalismus und seine Vorherrschaft über das globale kapitalistische System gestärkt und den Kapitalismus insgesamt zu neuem Leben erweckt habe.

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir die historische Beziehung Amerikas zum kapitalistischen Weltsystem untersuchen. Am Vorabend der russischen Revolution sprach Lenin vom Imperialismus als dem letzten Stadium des Kapitalismus, als dem Vorabend der sozialistischen Umgestaltung. Trotzkis Perspektive der permanenten Revolution basierte auf dem Verständnis, dass Russland - isoliert gesehen - nicht reif war für den Sozialismus, die entwickelten kapitalistischen Wirtschaften es aber sicher waren. Deshalb konnte und musste die russische Revolution die Einleitung der sozialistischen Weltrevolution sein.

Die revolutionäre Perspektive der Bolschewisten hat sich dann doch nicht verwirklicht und im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts gab es eine weitere Entwicklung der Produktivkräfte unter dem Kapitalismus. Wie uns unsere Autoren in Erinnerung bringen, findet heute eine technologische Revolution statt. Sollten wir vielleicht schlussfolgern, dass die russische Revolution verfrüht war, dass sie dazu verurteilt war, isoliert zu werden, und dass deshalb die Degeneration der Revolution, der Aufstieg des Stalinismus und alles, was noch folgte, unvermeidlich war?

Das wäre eine völlig mechanische Herangehensweise. Man muss sich nur die fürchterlichen Kosten für die Menschheit ansehen, die mit der Fortdauer des kapitalistischen Systems im zwanzigsten Jahrhundert verbunden waren, um diese Frage zu beantworten.

Die Tatsache, dass die Produktivkräfte auch weiterhin gewachsen sind, macht die revolutionäre Perspektive nicht ungültig, Aber darauf stützt sich das Argument, der Kapitalismus sei nicht völlig aufgebraucht. Es hilft uns allerdings zu verstehen, warum eine solche Perspektive nicht verwirklicht wurde. Das Fortbestehen des Kapitalismus und die Weiterentwicklung der Produktivkräfte wurden durch die enorme Stärke des amerikanischen Kapitalismus möglich gemacht.

Das Internationale Komitee hat wiederholt die Bedeutung betont, die der Verrat der Kämpfe der Arbeiterklasse durch die stalinistischen und reformistischen Führungen für die Aufrechterhaltung des Kapitalismus im zwanzigsten Jahrhundert hatte. Es ist auch notwendig die Wechselwirkung zwischen diesen Verrätereien und der Rolle der Vereinigten Staaten zu untersuchen.

Der Ausbruch des Weltkriegs 1914 kennzeichnete das Ende der organischen friedlichen Entwicklung des Kapitalismus und den Beginn der Epoche der sozialen Revolution. Die Arbeiterklasse war jedoch, mit Ausnahme Russlands, nicht in der Lage die Bourgeoisie zu stürzen. Das stand keineswegs von vornherein fest. Ein wichtiger Faktor für der Entscheidung der Vereinigten Staaten, in den Krieg einzugreifen, war die Erkenntnis, dass die Gefahr der sozialen Revolution um so größer werde, je länger er dauerte. Wilsons berühmte 14 Punkte wurden aufgesetzt als Antwort auf die bolschewistische Herausforderung und die Bedrohung, die die russische Revolution für die Stabilität der gesamten kapitalistischen Ordnung darstellte. Ohne die amerikanische Intervention hätte Deutschland nicht um Frieden gebeten, und die europäischen Mächte hätten den Krieg fortgesetzt. Unter diesen Umständen wäre der Krieg möglicherweise durch die soziale Revolution, und nicht durch eine amerikanische Intervention beendet worden.

Die Bourgeoisie war in der Lage, die Situation zu stabilisieren, aber sie konnte keins der Probleme lösen, die zum Krieg geführt hatten. Eine Reihe potentiell revolutionärer Situationen entwickelte sich in Deutschland in den frühen 1920ern. Diese Ära wurde zum Abschluss gebracht, als die deutsche kommunistische Partei sich als unvorbereitet erwies, was zu der verpassten Chance vom Oktober 1923 führte. Aber selbst das wäre nur ein Ereignis in einer anhaltenden sich vertiefenden Krise gewesen, hätten die USA nicht mit einem Plan zur erneuten Stabilisierung Deutschlands und Europas eingegriffen - dem Dawes-Plan.

Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass ohne die Verrätereien der Sozialdemokratie im Krieg und direkt danach der amerikanische Imperialismus nicht in der Lage gewesen wäre einzugreifen.

In der politischen Situation, die durch diese Verrätereien geschaffen wurde, war die Stärke des US-Kapitalismus in der Lage, die Situation, zumindest vorübergehend, zu stabilisieren. Aber er konnte die wirtschaftlichen Probleme des Weltkapitalismus nicht lösen - sie brachen nur sechs Jahre später in der großen Depression wieder auf. Dennoch hatte die vorübergehende wirtschaftliche Stabilisierung immense politische Konsequenzen. Sie verfestigte die Isolation der Sowjetunion, begünstigte den Aufstieg der stalinistischen Bürokratie und fügte den neu entstandenen Sektionen der Kommunistischen Internationale enormen Schaden zu.

Es gibt keinen Zweifel, dass die stalinistischen Parteien die entscheidende Rolle bei der Stabilisierung des Weltkapitalismus nach dem II. Weltkrieg gespielt haben. Aber ohne die Fähigkeit der USA, die Grundlagen für ein Wachstum der internationalen kapitalistischen Wirtschaft zu legen, hätte die Situation ganz anders ausgesehen. Unter Bedingungen einer sich vertiefenden Nachkriegs-Wirtschaftskrise, hätte sich den Sektionen der Vierten Internationale die Gelegenheit geboten, in dem Moment um die Führung zu kämpfen, in dem die Arbeiterklasse in Konflikt mit ihren stalinistischen und reformistischen Führungen gekommen wäre.

Stattdessen führte die Stabilisierung des Weltkapitalismus unter der Schutzherrschaft des amerikanischen Kapitalismus zu einer anhaltenden Vorherrschaft dieser bürokratischen Apparate über die Arbeiterklasse und einer Isolation der Vierten Internationale, ein Prozess, der sich in der Entwicklung diverser revisionistischer Trends und Strömungen widerspiegelte.

Nach dem II. Weltkrieg waren die USA - im Unterschied zu der Zeit nach dem I. Weltkrieg - in der Lage, ein neues kapitalistisches Gleichgewicht zu schaffen, indem sie sich auf den Verrat der stalinistischen und sozialdemokratischen Führungen stützten. Sie waren der Träger und Organisator eines neuen Produktionssystems, das imstande war, den historischen Rückgang der Profitrate zu überwinden, der am Vorabend des I. Weltkriegs aufgetreten war.

Aber wie sieht die Situation heute aus? Die USA mögen die vorherrschende Weltmacht sein, aber sie verfügen über kein neues Produktionssystem, das in der Lage wäre, ein weltweites wirtschaftliches Gleichgewicht und eine neue Expansionsphase der kapitalistischen Entwicklung zu schaffen. Im Gegenteil, sie versuchen den Auswirkungen ihres wirtschaftlichen Niedergangs durch militärische Maßnahmen entgegenzuwirken. Und das bedeutet, ungeachtet unserer beiden Autoren, dass sich die Konflikte zwischen den Imperialisten vertiefen und verstärken werden.

Auf der wirtschaftlichen Ebene ist die Vorherrschaft des amerikanischen Finanzwesens kein Ausdruck von Stärke, sondern Ausdruck einer historischen Krise. Das Finanzkapital erleichtert die Anhäufung von großem Reichtum, aber es beschäftigt sich nicht mit der - vom Standpunkt des Akkumulationsprozesses der kapitalistischen Wirtschaft gesehen - entscheidenden Gewinnung von Mehrwert aus der Arbeiterklasse. Vielmehr beschäftigt es sich mit der Aneignung von Mehrwert, der woanders gewonnen wurde. Das Finanzkapital ist zwar äußerst notwendig für eine erweiterte Entwicklung des Kapitalismus, es ist aber gleichzeitig parasitär.

Wenn schon nicht Amerika, kann dann vielleicht die Industrialisierung Chinas der globalen kapitalistischen Ordnung eine zweite Chance verschaffen? Immerhin könnte man argumentieren, dass die massive Senkung der Lohnkosten, die sich durch eine Verlagerung der Produktion nach China und der Dienstleistungen nach Indien ergibt, die Profitrate in die Höhe treiben wird.

Lasst uns prüfen, was eine solche Entwicklung bedeutet. Zunächst einmal würde es ein starkes Wachstum der chinesischen Wirtschaft erfordern. Aber kaum hat dieser Prozess begonnen, da hat er schon zu Konflikten mit den Vereinigten Staaten geführt. China wurde als "strategischer Rivale" eingestuft.

Darüber hinaus zerstört die Industrialisierung Chinas die Klassenbeziehungen in allen großen kapitalistischen Ländern, wo die Arbeiterklasse mit den Folgen der wirtschaftlichen Globalisierung konfrontiert ist. In den Vereinigten Staaten zum Beispiel sind die massiven Lohnkürzungen, die jetzt bei Delphi eingeleitet wurden, ein Ausdruck des ungeheuren Drucks, der auf die Löhne und die sozialen Bedingungen ausgeübt wird. Dieser Druck spiegelt sich in dem Drang wider, die firmeneigene Altersversorgung abzuschaffen, wo sie noch existiert, um die in Amerika ansässigen Firmen international wettbewerbsfähig zu machen. In Europa hat der britische Premierminister Tony Blair auf die Notwendigkeit eines Reformprozesses hingewiesen - vor allem die Demontage des Sozialstaats - um gegenüber China konkurrenzfähig zu bleiben. Und in Australien erklärte Premierminister John Howard, dass einer der Gründe für die jüngsten einschneidenden Veränderungen des Arbeitsrechts die Konkurrenz aus China und Indien sei.

Und dann die Situation in China selbst. Mehrere zehn Millionen Menschen drängen in die Reihen der internationalen Arbeiterklasse. Im augenblicklichen Stadium, solange das Wirtschaftswachstum noch anhält, kann es durchaus Illusionen in die Regierung geben. Das kann sich jedoch rasch ändern, da der Prozess der Industrialisierung unweigerlich alle möglichen wirtschaftlichen und politischen Schocks zur Folge haben wird. Man muss sich nur die Turbulenzen anschauen, welche die Industrialisierung Russlands zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts begleitet haben - und die Prozesse, die sich in China abspielen, entwickeln sich in einem viel größeren Maßstab.

Die internationalen Beziehungen sind gekennzeichnet durch erhöhte Spannungen. Und China nimmt nicht nur den Einfluss auf die unmittelbare Region, sondern entwicklet auch Beziehungen zu anderen Regionen der Welt, wie z. B. Lateinamerika, dem Nahen Osten und Europa, wo sich Konflikte über Rohstoffe, Märkte und politischen Einfluss entwickeln werden und schon entwickelt haben. Chinas Beziehungen zu jeder Großmacht werden die Konflikte zwischen ihnen vertiefen. Zum Beispiel hat selbst die Howard-Regierung, trotz ihrer bedingungslosen Unterstützung für den Irakkrieg und für Bushs "Krieg gegen den Terror", Washington gewarnt, nicht zu erwarten, dass Australien sich bei einem Konflikt mit China wegen Taiwan hinter die USA stellen werde.

Wie die gesamte Geschichte zeigt, zerstört der Aufstieg einer neuen Industriemacht das vorhandene Machtgleichgewicht und schürt die Konflikte und Rivalitäten zwischen den Imperialisten. An einem bestimmten Punkt kann das zum Ausbruch eines Krieges führen und das Versinken in Barbarei. Wie soll die Arbeiterklasse darauf reagieren? Sie muss die Aufgabe übernehmen, die globale Wirtschaft auf sozialistischer Grundlage neu zu organisieren. Hier kommen wir zu der entscheidenden Frage der politischen Perspektive, die sich durch eine ständige Analyse aller Aspekte der Weltsituation und ihrer strategischen Konsequenzen entwickelt. Genau das liegt im Zentrum der Aufgaben, mit denen die World Socialist Web Site in der kommenden Periode konfrontiert ist.

Unsere Analyse hat gezeigt, dass 35 Jahre nach dem Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods und dem Gleichgewicht, das nach dem II. Weltkrieg aufgebaut worden war, der Weltkapitalismus nicht nur unfähig war, ein neues Gleichgewicht zu schaffen, sondern dass seine Widersprüche die Bedingungen für ein tiefgehendes Ungleichgewicht schaffen. Die letzte Periode der Globalisierung von 1870 bis 1914 hat zu Kriegen und Revolutionen geführt. Das Ergebnis der gegenwärtigen Globalisierungsphase wird nicht weniger explosiv sein. Und genau auf diese Situation müssen wir uns vorbereiten.

Siehe auch:
Bericht über die Weltwirtschaft im Jahr 2006 - Teil 1
(30. März 2006)
Teil 2
( 31. März 2006)
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