Frankreich: Studenten und Schüler verlangen Generalstreik

Studentendelegationen von 114 Schulen und Universitäten in Frankreich trafen sich am 1. und 2. April an der Universität in Lille, um ihre Reaktion auf Präsident Jacques Chiracs Unterzeichung des Erstarbeitsvertrags (CPE) zu diskutieren, der es den Unternehmern erlaubt, junge Arbeiter während einer zweijährigen "Probezeit" grundlos zu entlassen. Das Nationale Koordinationskomitee rief zu einem unbegrenzten Streik der Arbeiter und Studenten ab dem 4. April auf.

Die Studenten reagierten auf Chiracs landesweite Fernsehansprache, in der er minimale Abänderungen des Gesetzes versprach: Die Probezeit soll von zwei auf ein Jahr verkürzt werden und die Unternehmer entlassenen Arbeitern eine Begründung angeben müssen. Sie antworteten mit folgender Erklärung: "Chirac behauptet, auf unsere Erwartungen reagiert zu haben. Das ist eine Lüge. Die Beibehaltung der Probezeit für ein Jahr ist weiterhin unakzeptabel, da es ein veränderter Schritt in die gleiche Richtung ist. Was die Entlassung angeht, werden wir nur das Recht haben, den ‚Grund’ für den Bruch eines Vertrags zu erfahren, sei er nun gerechtfertigt oder nicht. Danke Boss!"

Die Erklärung fährt fort: "Wir verpflichten uns, die Arbeiterbewegung zu unterstützen. Wir stellen uns für jede gemeinsame Aktion vor Ort zur Verfügung, die den Streik zu entwickeln hilft .... Wir verpflichten uns, jede von Arbeitern im Kampf formulierte Forderung, wie Lohnerhöhungen und die Umwandlung von unsicheren Arbeitsplätzen in Normalarbeitsplätze, zu unterstützen."

Das Koordinierungskomitee forderte einen Aktionstag am 3. April "zur Mobilisierung an den Arbeitsplätzen, gemeinsam mit den Arbeitern und ihren örtlichen Gewerkschaften, mit Hilfe von Flugblättern, Blockaden, Fabrik- und Bürobesetzungen".

Weiter wurde beschlossen: Die Blockade von Straßen und Eisenbahnlinien am Donnerstag; Proteste gegen Polizeiunterdrückung mit Demonstrationen vor Gerichtsgebäuden am Freitag; gemeinsame Demonstrationen von Arbeitern, Arbeitslosen und Studenten am Samstag; ein weiterer nationaler Streik- und Demonstrationstag am 11. April. Die Studenten versprachen, die Besetzung von Universitäten und Hochschulen auch über die Osterferien fortzusetzen.

In der Erklärung des Komitees heißt es: "Die völlige Weigerung der Regierung und Präsident Chiracs, auf unsere Forderungen zu reagieren, das Ausmaß der Unterdrückung, das sie gegen die Bewegung einsetzen, und ihre mehrfache Entscheidung, ihr Schicksal mit dem CPE zu verbinden,... wird sie zwingen, mit der Zurücknahme der Angriffe auch selbst zurückzutreten."

Die Erklärung der Studenten verband allerdings den Aufruf zum Generalstreik nicht direkt mit dem Kampf, die gaullistische Regierung von Chirac und Premierminister Dominique de Villepin zu stürzen. Es hieß stattdessen, der Streik solle anhalten, bis die Regierung ihre "Reform" der Arbeitsgesetzgebung zurückgenommen habe.

Chirac und Villepin haben klar gemacht, dass sie entschlossen sind, nicht nachzugeben. Wenn der Angriff auf die Rechte der Arbeiter abgewehrt werden soll, dann muss die Anti-CPE Bewegung das Ende der Regierung fordern. Dann kann der Kampf für sichere und akzeptable Arbeitsplätze für alle Jugendliche auf der Grundlage des Kampfs für eine Regierung geführt werden, die tatsächlich die Interessen der Arbeiter und Jugend vertritt und die Wirtschaft nach sozialistischen Prinzipien umgestaltet.

Die Position des Nationalen Koordinierungskomitees hebt sich dennoch scharf gegen die Manöver der Führer der Studentengewerkschaft ab, von denen die meisten enge Beziehungen zu den linken Parteien des politischen Establishments haben. Wie die Gewerkschaften haben auch die Führer der Studentengewerkschaft versucht, die Anti-CPE Bewegung zu bremsen und Gespräche mit der Regierung aufzunehmen.

Bruno Julliard, der Vorsitzende der wichtigsten Gewerkschaft der Universitätsstudenten, UNEF (Union Nationale des Étudiants de France), telefonierte am Wochenende mit Innenminister Nicolas Sarkozy. "Höchstwahrscheinlich wird ein Dialog beginnen", erklärte er später. Julliard hat enge Beziehungen zur Sozialistischen Partei.

Während Sarkozy Diskussionen mit Studentenorganisationen und Gewerkschaften organisierte, koordinierte er gleichzeitig weitere Polizeiangriffe auf junge Demonstranten. Gestern Morgen erzwangen dreißig Polizisten vorübergehend die Öffnung des Gymnasiums Marguerite de Navarre in Alençon in Nordwestfrankreich. Die Schule ist seit drei Wochen wegen Schülerprotesten geschlossen. Es gab Gerangel, als Protestierende die Polizei daran hindern wollten, vierzig Eltern und ihre Kinder, die die Blockade ablehnen, durch den Seiteneingang in die Schule zu eskortieren. Obwohl es keine Verletzten und keine Festnahmen gab, zeigt der Zwischenfall die Entschlossenheit der Regierung, die Proteste an den Schulen zu unterdrücken. Die Direktoren der Gymnasien wurden angewiesen, ihre Schulen, wenn nötig unter Zuhilfenahme der Polizei, wieder zu öffnen.

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Reporter der World Socialist Web Site sprachen mit einigen studentischen Delegierten des Nationalen Koordinierungskomitees, bevor dieses seine Erklärung veröffentlichte.

Davy Cottet, ein Student der Naturwissenschaften an der Franche-Compté Universität in Besançon in Ostfrankreich, sagte der WSWS : "Die Diskussion gestern dauerte die ganze Nacht. Wir begannen damit, eine Bilanz der Lage an den verschiedenen Universitäten in Frankreich und unserer Beziehungen zu den verschiedenen Gewerkschaften und den Arbeitern überall zu ziehen. Dann gab es eine lange Diskussion über unsere Forderungen und wie die Bewegung weitergehen soll, und welche Aktionen wir vorbereiten sollten, um den Machtkampf mit der Regierung weiter voranzutreiben, damit sie nachgibt.

Ich glaube es geht nicht nur um den CPE, die Forderungen sind viel weiter gesteckt. Sie erstrecken sich auf das ganze Programm, das in den letzten Jahren verfolgt wurde und zu großer Arbeitsplatzunsicherheit geführt hat. Die Leute haben die Nase voll von den Marktreformen, die schon eine ganze Zeit durchgesetzt werden. Es geht also nicht nur um den CPE, sondern um eine ganze Palette verschiedener Fragen.

Wir werden weiter zu den Arbeitern in den Betrieben gehen und ihnen unsere Forderungen erklären, um sie in unseren Kampf, die Demonstrationen und die nationalen Streiktage einzubeziehen."

Die WSWS fragte Davy, was er über einen unbegrenzten Generalstreik zum Sturz der Regierung denke. "Das ist das Ziel unserer Bewegung", antwortete er. "Ich glaube, die Jugend ist gut genug organisiert, um die Masse der Lohnarbeiter zu mobilisieren, und es sieht so aus, dass die Bewegung weitergeht, bis die Regierung alle Reformen zurücknimmt.

Wir haben für die Forderung nach dem Rücktritt der Regierung gestimmt. Die Leute sollen wissen, dass sie eine Politik verfolgt, die wir nicht billigen, und die sie gewaltsam durchzusetzen versucht. Weil die Menschen diese Politik ablehnen, ist es nach unserer Meinung nur recht und billig, wenn die Regierung geht.

Ich denke, das Ziel der Bewegung ist es, die Forderungen der Bevölkerung deutlich zu machen, und dann werden wir sehen, ob es bei den nächsten Wahlen eine Partei gibt, die diese Forderungen politisch unterstützt."

Baptiste Bourel studiert Englisch an der Universität von Lille, und Thomas Boggio studiert dort Geschichte. Auch mit ihnen sprach die WSWS. Baptiste betonte, dass es der Bewegung nicht nur um den CPE geht. Er sagte: "Ich denke, es geht grundlegend darum, dass die Politik, kapitalistische Politik, die Gesellschaft in allen westlichen Ländern auf einem sehr niedrigen Existenzniveau hält. Deshalb akzeptieren Leute unsichere Arbeitsplätze, weil sie besser sind als gar nichts, und ohne Arbeitsplatz hast du gar nichts.

Heute werden die Kinder in der Schule auf Hilfsarbeiterjobs vorbereitet, wo zur Zeit Leute fehlen. Das staatliche Schulsystem ist nicht in der Lage, sie auf eine Karriere oder auf einen Beruf vorzubereiten, den sie sich wünschen, so dass sie auf Arbeitsplätze abgedrängt werden, die sonst niemand will.

Ein wichtiger Punkt in der Reform des Arbeitsrechts der Regierung ist der, dass Jugendliche jetzt schon mit fünfzehn Jahren Nachtarbeit machen dürfen. 1874 wurde die Altersgrenze für Nachtarbeit auf Sechzehn festgelegt, und jetzt wird sie auf Fünfzehn abgesenkt. Das ist ein wirklicher Rückschritt."

"Die Bewegung ist nicht konservativ, sie ist progressiv", sagte Thomas. "Ich lese den Courrier Internationale und die internationalen Medien. Sie schreiben, dass wir protestieren, weil wir konservativ seien, und dass die Franzosen keinen Fortschritt wollten, weil sie ihre sozialen Errungenschaften verteidigen wollten. Diese Bewegung lehnt ab, was man uns heute anbietet, das stimmt. Aber wir wollen nicht rückwärts gehen. Zu viele Menschen haben für diese Rechte gekämpft. Warum sollen wir jetzt rückwärts gehen?

Nach mehr als einem Monat Demonstrationen auf der Straße ist klar, dass die Regierung sich nicht um uns schert. Deswegen ist es keine Überraschung, dass es Elemente gibt, die zur Gewalt greifen, obwohl ich kein gewalttätiger Typ bin. Einige glauben, dass das der einzige Weg ist, die Regierung zu beeindrucken."

Thomas fügte hinzu: "Die Bewegung sollte sich ständig selbst überprüfen. Zum Beispiel dürfen wir nicht vergessen, dass Präsident Chirac zur Zeit der Ereignisse von 1968 Staatssekretär im Sozialministerium war und mittendrin gesteckt hat. Er kennt diese Art Bewegung gut. Leute haben manchmal den Eindruck, dass er nicht wirklich weiß, mit was er es zu tun hat. Aber ich glaube, er ist ein verschlagener Fuchs, der genau weiß, was er tut."

Siehe auch:
Der Kampf gegen den "Erstarbeitsvertrag" und die Notwendigkeit einer neuen Führung der Arbeiterklasse
(29. März 2006)
Die Volksfront von 1936 - Historische Lehren für den Kampf gegen den Ersteinstellungsvertrag
( 24. März 2006)
Frankreich - Mai-Juni 1968: Der Verrat von KPF und CGT
( 23. März 2006)
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