Ungarn: Wahlsieg für "sozialistischen" Millionär

Das bisher in Ungarn regierende Bündnis aus Sozialisten (MSZP) und Liberalen (SZDSZ) hat in der zweiten Runde der Parlamentswahl vom 23. April eine Mehrheit errungen und wird wie bisher mit Ferenc Gyurcsany (MSZP) den Regierungschef stellen. Bereits nach dem ersten Wahlgang, der am 9. April stattfand, lag das Regierungsbündnis vor dem rechtskonservativen Fidesz und dessen Spitzenkandidaten Victor Orban.

Sozialisten und Liberale erreichen insgesamt 209 Mandate, Fidesz kommt auf 165 und das konservative Ungarische Demokratische Forum (MDF) auf 11 Mandate. Andere Parteien waren bereits im ersten Wahlgang an der Fünf-Prozenthürde gescheitert. Die Wahlbeteiligung war trotz des stark polarisierenden Wahlkampfes mit 67,5 Prozent im ersten Wahlgang geringer als vor vier Jahren.

Die Sozialisten erzielten vor allem in großen Städten wie Budapest, Pecs und Miskolc mit geringerer Arbeitslosigkeit und relativ hohem Durchschnittseinkommen die Mehrheit. Gerade die Besserverdienenden gaben der MSZP den Vorzug gegenüber der Fidesz. Dieser punktete besonders in den ländlichen Gegenden, die von Arbeitslosigkeit und Armut gezeichnet sind.

Die MSZP/SZDSZ-Koalition ist die erste ungarische Regierung seit 1990, die im Amt bestätigt wurde. Dies war allerdings nicht der Fall, weil die breite Bevölkerung mit Gyurcsanys Politik übereinstimmt, sondern weil es im gegenwärtigen politischen Spektrum keine ernsthafte Opposition gibt, die die Interessen der breiten Bevölkerung vertritt. Diese stand vor der Wahl zwischen einem neo-liberalen Multimillionär, der für die Sozialistische Partei ins Rennen ging, und einem diskreditierten bürgerlichen Politiker, der mit teilweise offen faschistischen Parolen antrat.

Orban und der Fidesz, bekannt für ihren hysterischen Antikommunismus, versuchten mit einer Mischung aus dumpfem Populismus und reaktionärer, rechter Demagogie soziale Ängste und rückständige Stimmungen zu mobilisieren.

Orban versprach kostenlose Gesundheitsversorgung, sichere Renten, eine Senkung der Energiepreise und die Rückverstaatlichung privatisierten Eigentums. Als Beispiel nannte er die heftig umstrittene Privatisierung des Budapester Flughafens, die von den Sozialisten initiiert worden war. Er wetterte gegen das internationale Kapital und sprach sich für einen besseren Schutz der heimischen Wirtschaft aus. Anscheinend baute er darauf, dass die Politik der rechten Regierung vergessen sei, der er von 1998 bis 2002 vorgestanden hatte. Diese hatte auf Sozialabbau und Privatisierung gesetzt.

In den Wendejahren waren die Jungdemokraten um Orban als Vorkämpfer für Demokratie gegen das totalitäre System aufgetreten. Heute befürworten dieselben Leute offen autoritäre Staatsformen. Laut Istvan Mikola, dem zweiten Mann im Fidesz, geht es darum, "den uferlosen Freiheitsdrang des Individuums einzuschränken". Orban selbst formulierte es noch deutlicher. "Die Republik ist bloß ein Gewand, das sich die Nation überstreift", erklärte er. Er deutete an, dass er sich auch ganz andere Staatsformen, etwa eine Diktatur, gut vorstellen könne.

Der Fidesz ist auf Positionen eingeschwenkt, die noch vor wenigen Jahren nur von faschistischen Gruppierungen vertreten wurden, wie die Rückgabe Transsylvaniens an Ungarn. Mikola erklärte, eine künftige Fidesz-Regierung werde mindestens zwanzig Jahre an der Macht bleiben, wenn sie den im Ausland lebenden Ungarn die Staatsbürgerschaft zuerkenne. Diese würden sie dann aus Dankbarkeit immer wieder wählen. Entsprechend nationalistisch war der Jargon von Fidesz-Vertretern. Politische Gegner wurden abfällig als Zigeuner und Juden bezeichnet.

Seit 2002, als Orban den Posten des Premierminister an den Sozialisten Medgyessy abtreten musste, hat sich der Fidesz rasch weiter nach rechts entwickelt. Orbans erklärtes Ziel war es, ein breites, rechtes Sammelbecken aufzubauen. Mittlerweile sind mit Ausnahme des MDF, dem die ehemalige Justizministerin seiner Regierung Ibolya David vorsteht, nahezu sämtliche rechten Parteien und Bewegungen im Fidesz vertreten.

Nach Orbans Rücktritt, den er unmittelbar nach Bekanntwerden der Wahlniederlage bekannt gab, könnte es sein, dass seine "Volksbewegung" schnell wieder auseinander bricht. Über die Nachfolge Orbans als Parteivorsitzender wird zur Zeit noch spekuliert.

Auch Gyurcsanys Sozialisten sind keine moderaten, weltoffenen Demokraten. Auch dort bediente man sich des Nazi-Vokabulars. Ein Kandidat der MSZP musste zurücktreten, nachdem er einen jüdischen Fidesz-Funktionär öffentlich als "Vorzeige-Jude" betitelt hatte. Für heftige Kritik sorgte auch der Slogan der Sozialisten, "Es gibt ein Land. Es gibt ein Programm. Es gibt einen Mann", der unüberhörbar an die Nazi-Parole "Ein Volk, ein Reich, ein Führer" erinnerte.

Es wurde von mehreren Vorfällen berichtet, bei denen Wahlhelfer der Sozialisten politische Gegner massiv bedrohten und sogar physisch angriffen. Im Allgemeinen zeigte der gesamte Wahlkampf, dass in beiden Lagern demokratische Werte keinen hohen Stellenwert haben.

Wirtschaft, Politik und Medien begrüßten den Wahlsieg Gyurcsanys. Der 44-Jährige gilt als Verfechter eines freien Marktes, dem keine Beschränkungen auferlegt werden dürfen. Er selbst sieht in dem britischen Premier Tony Blair sein großes Vorbild.

Gyurcsanys Werdegang ist typisch für jene Wendehälse, die sich nach dem Zusammenbruch der stalinistischen Regime in Osteuropa das öffentliche Eigentum unter den Nagel rissen und damit ein beträchtliches privates Vermögen anhäuften. Der ehemalige Vorsitzende der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei Ungarns legte durch den Kauf und Verkauf von Staatsguthaben während der sogenannten "wilden Privatisierungen" den Grundstein für seinen Reichtum.

Während immer breitere Teile der Bevölkerung in Armut gerissen wurden, gründete Gyurcsany 1992 seine eigene Investmentgesellschaft, scheffelte etwa 14 Millionen Euro und wurde damit zu einem der reichsten Männer des Landes. Nachdem im Sommer 2004 heftige Konflikte in der MSZP aufgebrochen waren, löste Gyurcsany den bisherigen Regierungschef Peter Medgyessy ab.

Von dem Seiteneinsteiger aus der Wirtschaft erwartet die ungarische und europäische Elite damals die notwendige Rücksichtslosigkeit, drastische Einschnitte durchzusetzen. Nach dem EU-Beitritt des Landes, der durch ein Absenken der Löhne und eine weitgehende Privatisierung der Wirtschaft vorbereitet worden war, setzte Gyurcsany den sozialen Kahlschlag fort. Die von den Sozialisten gepriesene, vergleichsweise geringe Anhebung der Gehälter für Staatsbedienstete sowie einige Projekte an Schulen haben lediglich als Feigenblatt für den Wahlkampf gedient.

Kurz nach seiner Amtsübernahme wechselte Gyurcsany 2004 den Finanzminister aus. Der Posten wurde von Janos Veres übernommen, einem Hauptverantwortlichen für das "Bokros- Paket", auf dessen Grundlage Mitte der Neunziger Jahre die Wirtschaft radikal umstrukturiert und der Forint abgewertet worden waren. Lohnverluste und Stellenabbau in bis dahin ungekanntem Ausmaß waren die Folge.

Heute lebt etwa ein Drittel der ungarischen Bevölkerung unter oder an der Armutsgrenze. Während die Löhne stagnieren oder sinken, sind die Kosten für Lebensmittel, Mieten, Dienstleistungen und Energie enorm gestiegen. Seit dem EU-Beitritt wurden beispielsweise die Strompreise um bis zu 15 Prozent erhöht.

Die private Verschuldung hat stark zugenommen. Wie die Budapester Zeitung berichtete, stiegen in Ungarn die Kredite an Privatpersonen in einem Umfang von 650 Mrd. Forint (2,5 Mrd. Euro). "Der Großteil der Ausleihungen an die Bevölkerung waren Wohnraumkredite, gefolgt von den Konsumentenkrediten. Da weder die Nominallöhne noch die Ersparnisse der Bevölkerung im Vorjahr erheblich stiegen, wird davon ausgegangen, dass sich die Verschuldung der Bevölkerung weiter erhöhte."

Trotz aller durchgesetzter Reformen wurde die sozial-liberale Regierung von internationalen Wirtschaftskreisen und der Europäischen Union auch kritisiert. Ihnen ging alles nicht schnell und weit genug. Die Zeit, als Ungarn noch einen gewissen wirtschaftlichen Boom erlebte - der hauptsächlich aus der raschen Veräußerung der profitablen Staatbetriebe resultierte -, ist längst vorbei. Der ehemalige "Musterschüler" Osteuropas wird seit längerem für die angeblich im Vergleich zu anderen osteuropäischen Staaten zu hohen Löhne und Sozialstandards angegriffen.

Vertreter der Europäischen Union ermahnten die neue Regierung, zügig alles zu unternehmen, was wirtschaftsfreundlichere Bedingungen im Lande schafft. Am Montag erklärte eine Sprecherin des EU-Währungskommissars Joaquin Almunia, dass die Regierung bis Anfang September konkrete Pläne zur Senkung des Defizits vorlegen müsse. Investmenthäuser und Rating-Gesellschaften fordern, dass bereits im Sommer ein neues Reformpaket vorgelegt wird, ohne Rücksicht auf die im Herbst stattfindenden Kommunalwahlen.

Nach seinem Wahlsieg kündigte Gyurcsany sogleich die "intensivste Reformära seit der Wende" 1989 an. Er versprach, das momentan existierende Budgetdefizit auszugleichen und bis 2008 sämtliche Kriterien für die Einführung des Euro im Jahr 2010 zu erfüllen. Bei einem gegenwärtigen Defizit zwischen sechs und acht Prozent des Bruttoinlandprodukts bedeutet das ungeheuere Kürzungen in allen Bereichen.

Neben Kürzungen in öffentlichen Verwaltungen soll vor allem ein tiefgreifender Umbau des Pensions- und des Gesundheitssystems vorgenommen werden. Auch eine Abkehr vom bisher weitgehend kostenlosem Bildungssystem ist zu erwarten. Verschärft wird die Situation durch die zu erwartenden Steuerentlastungen für Unternehmen. Die SZDSZ machte ihre weitere Zusammenarbeit mit den Sozialisten von diesen abhängig. Die Liberalen, deren Basis die schmale Schicht wohlhabender ungarischer Geschäftsleute ist, setzen sich für einen einheitlichen Steuersatz, eine sogenannte "Flat Tax" ein.

Siehe auch:
Sozialisten nominieren Multimillionär Gyurcsány zum Premierminister
(25. September 2004)
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