Großbritannien

Labour-Regierung legt Entwurf für einschneidende Sozialreform vor

Das geplante Gesetz für eine Sozialreform, das die britische Labour-Regierung vor der parlamentarischen Sommerpause vorgestellt hat, ist gegen die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft gerichtet - die Kranken, Alleinerziehenden und alten Arbeitnehmer. Der Gesetzentwurf sieht vor, sie von Sozialleistungen abzuschneiden und in Arbeit zu zwingen.

Damit werden drei Ziele verfolgt. Erstens soll das soziale Sicherungssystem abgebaut werden, indem ein stark reduzierter Anspruch auf Sozialleistungen davon abhängig gemacht wird, ob sich eine Person bei Maßnahmen zur Wiedereingliederung in die Arbeitswelt kooperativ verhält. Zweitens soll weiterhin und verstärkt der gesellschaftliche Reichtum in die Taschen der Kapitaleigner umverteilt werden, indem eine große Gruppe von Arbeitskräften geschaffen wird, die schlecht bezahlte und unangenehme Jobs anzunehmen gezwungen sind. Und drittens dient das Gesetz zur weiteren Privatisierung der Arbeitsvermittlung.

Die Regierung gibt offen zu, dass der Sozialstaat umgebaut und stärker auf die Bedürfnisse der Großkonzerne ausgerichtet werden soll. Der britische Gesundheitsminister John Hutton stellte den Gesetzentwurf mit den Worten vor, der Sozialstaat müsse "den britischen Unternehmen helfen, sich in der globalen Wirtschaft erfolgreich durchzusetzen".

"Arbeit ist die beste Sozialpolitik überhaupt", fuhr Hutton fort und betonte, der Sozialstaat müsse jenen helfen, die nicht arbeitsfähig sind, und die Menschen bei der Ausbildung jener Fertigkeiten unterstützen, mit denen man eine Arbeitsstelle bekommt.

Das Gesetz folgt auf eine ganze Reihe von Maßnahmen, die seit dem Regierungsantritt der Labour Party 1997 eingeführt wurden. Hierunter finden sich zum Beispiel das "New Deal"-Programm, das insbesondere junge Arbeitslose aus der staatlichen Unterstützung drängen soll, sowie die Festlegung eines gesetzlichen Mindestlohns und Steuernachlässe für Niedriglohnempfänger. All dies hat dazu beigetragen, einen "flexiblen Arbeitsmarkt" im britischen Dienstleistungssektor zu schaffen und die Unternehmen durch niedrige Löhne zu subventionieren.

Mittlerweile arbeiten in Großbritannien zwei Millionen Menschen mehr als 1997; damit hat das Land die höchste Erwerbstätigenquote unter allen Industrienationen. Der Staat will nun eine Million der insgesamt 2,7 Millionen dauerhaft Kranken, 300.000 Alleinerziehende und eine Millionen alte Arbeitnehmer, sogar Menschen im Rentenalter, wieder in Arbeit bringen. Das Ziel besteht darin, 80 Prozent der Bevölkerung im Erwerbstätigenalter in Arbeit zu haben - eine beispiellose Quote.

Dabei zeigen staatliche Statistiken, dass das Niveau der Sozialleistungen in Großbritannien niedriger ist als im größten Teil Westeuropas und dass auf der Insel nicht mehr Menschen eine Invalidenrente beantragen als irgendwo sonst. Somit bedeuten die Pläne der Regierung eine Generalüberholung des Sozialstaats, die auch strengere Regeln für die Wiedereingliederung von Alleinerziehenden in den Arbeitsmarkt einschließt, und eine Erweiterung der staatlichen Verfügungsgewalt.

Im Gesetzentwurf sind Details absichtlich ausgespart. Das Ministerium soll die Verantwortung für die weitere Ausarbeitung und Umsetzung des Gesetzes übertragen bekommen, wodurch es zukünftig weitaus leichter wird, die Regeln und Vorgaben willkürlich zu verschärfen, ohne sich einer größeren öffentlichen Debatte auszusetzen oder das Parlament darüber abstimmen zu lassen. Die Regierung hat bekannt gegeben, dass sie sich von dem neuen Sozialgesetz Einsparungen in Höhe von mindestens elf Milliarden Euro erwartet. Die Invalidenrente kostet den Staat derzeit etwa 18 Milliarden Euro pro Jahr.

Ungefähr 2,7 Millionen Menschen in Großbritannien erhalten eine Invalidenrente; diese Zahl ist seit Mitte der 1990er Jahre unverändert. Nach dem Gesetz werden jene bestraft, die sich weigern, an Wiedereingliederungsmaßnahmen teilzunehmen.

* Die Invalidenrente, die derzeit höher ist als die Arbeitslosenunterstützung, wird für neue Antragsteller nicht mehr zur Verfügung stehen. All jene, die sich nun erstmals wegen Krankheit arbeitsunfähig melden, erhalten stattdessen eine so genannte Einstellungs- und Unterstützungspauschale, deren Höhe sich nach ihrem Anspruch aus der Arbeitslosenversicherung richtet und die einer Bedürftigkeitsprüfung unterliegt.

* Antragsteller müssen sich Tests unterziehen, die ihre Arbeitsfähigkeit bewerten sollen. Die Bewertung konzentriert sich darauf, was die Person zu leisten in der Lage ist, und beachtet dabei weniger den Gesundheitszustand und die zuvor ausgeübte Tätigkeit. Ist der Antragsteller fähig, irgendeine Arbeit zu leisten, wird die höhere Sozialleistung nur dann ausgezahlt, wenn sich die betreffende Person umschulen lässt und nach Arbeit sucht. Wer dies nicht tut, erhält nicht die Zusatzleistungen.

* Auch diejenigen, die derzeit von den Tests ausgenommen sind, darunter z.B. geistig schwer Beeinträchtigte, müssen nach Arbeit Ausschau halten, um in den Genuss der Zusatzleistungen zu gelangen. Antragsteller müssen sich bereit erklären, Kurse zu besuchen, um ihre Vermittelbarkeit zu verbessern. Sie sollen ihre Gesundheitsprobleme soweit in den Griff bekommen, um arbeiten zu können, so z.B. bei psychischen Krankheiten eine entsprechende Therapie machen.

* Auch von denjenigen, die bereits eine Invalidenrente, Einkommenszulagen wegen gesundheitlicher Einschränkungen oder eine Schwerbehindertenpauschale erhalten, wird erwartet, dass sie Arbeit suchen und sich regelmäßig testen lassen, um zu erfahren, welche Tätigkeiten auszuüben sie in der Lage sind.

* Ärzte und Pflegepersonal sollen darauf hinarbeiten, eine Wiedereingliederung der Patienten in die Arbeitswelt bzw. ihren Verbleib darin zu ermöglichen. "Berater" der Vermittlungsagenturen werden den Arztpraxen zugeteilt.

* Die Ehe- und Lebenspartner der Leistungsempfänger werden angehalten, Arbeit zu suchen.

Die Regierung bleibt jeden Beweis schuldig, dass sich das Sozialsystem in einer Krise befindet, dass die Kosten für die Invalidenrente steigen (tatsächlich fallen sie) oder dass die meisten Menschen, die Invalidenrente beantragen, arbeiten können, wenn sie nur rechtzeitig dazu angehalten werden. Es wird auf staatlicher Seite davon ausgegangen, dass ein Großteil der Krankheiten und Behinderungen, an denen die Menschen leiden, "im Kopf" entstehen und daher durch kognitive Verhaltenstherapien behandelbar sind bzw. dass es sich bei einem Großteil der Antragsteller um Simulanten und Betrüger handelt, die durch eine Politik der Arbeitsanreize und Leistungskürzungen auszusortieren sind.

Die Verantwortlichen stützen sich dabei auf die Arbeiten einer Forschergruppe an der Universität Cardiff, die von Unum Provident finanziert wird, der weltweit größten Versicherung im Bereich Arbeits- und Berufsunfähigkeit. Es versteht sich, dass der Versicherer selbst ein großes Interesse hat, das Verständnis von Arbeitsunfähigkeit stärker einzuschränken. Mit anderen Worten: Dieselbe Firma, die von dem Wechsel in der Sozialpolitik profitieren wird, spielt eine Schlüsselrolle dabei, ihn vorzubereiten.

Folgende weitere Maßnahmen sind vorgesehen:

* Alleinerziehende Eltern, die staatliche Unterstützung erhalten, werden zu Gesprächsterminen verpflichtet, um sie zur Wiederaufnahme von Arbeit zu bewegen. Bei Kindern unter 11 Jahren finden diese Gespräche alle sechs Monate, bei Kindern über 11 Jahren alle drei Monate statt.

* Wohngeld wird nunmehr nicht mehr direkt in Höhe der Gesamtmietkosten an den Vermieter überwiesen. Stattdessen zahlt der Staat neuen Antragstellern, die in Privatwohnungen leben (etwa eine Million von den vier Millionen Menschen, die Wohngeld erhalten), künftig eine niedrigere Mietpauschale. Dies soll sie dazu zwingen, nach billigeren Angeboten Ausschau zu halten. 'Asoziale' Familien können fortan aus Sozialwohnungen hinausgeworfen werden.

* Die neue Gesetzgebung soll die Pflichtverrentung mit 65 aufheben. Für alle unter 65 Jahren wird es damit kein festgesetztes Rentenalter mehr geben; alle über 65 dürfen bei ihren Arbeitgebern die Weiterbeschäftigung beantragen. Im Jahre 2011 wird die Regierung darüber entscheiden, ob sämtliche Regelungen bezüglich des Rentenalters abgeschafft werden.

* Die Weiterbeschäftigung soll für Arbeiter attraktiv gemacht werden, indem im Gegenzug für die Zurückstellung bei der staatlichen Rente eine Abfindung in Form einer Einmalzahlung oder eines höheren späteren Rentenanspruchs erfolgt. Außerdem sollen Gesetzesänderungen in Kraft treten, die ihnen eine Weiterbeschäftigung beim selben Arbeitgeber erlauben, während sie weiterhin ihre Betriebsrente beziehen.

Zudem wird der Staat 60 Prozent der Stellenvermittlung und der zur Privatisierung vorgesehenen Schulungsmaßnahmen an private und ehrenamtliche Arbeitsvermittler abtreten und diese nach Erfolg bezahlen. Die Vermittlungsagenturen erhalten auch das Recht, die Leistungen bei denjenigen zu kürzen, die sich als "unkooperativ" erweisen. Dies ist Teil der allgemeinen Regierungspolitik, öffentliche Dienstleistungen zu privatisieren und den so genannten "Dritten Sektor" zu fördern, der aus ehrenamtlichen Gruppen, Wohltätigkeitsorganisationen und nicht-kommerziellen Unternehmen besteht.

Steve Davies, leitender Forscher an der Universität Cardiff, veröffentlichte jüngst einen Bericht mit dem Titel Bereitstellung von Arbeitsvermittlungsdiensten durch den Dritten Sektor, der ein Schlaglicht auf die scheinbar so uneigennützigen und allein an ihrer Aufgabe interessierten Organisationen im Dritten Sektor wirft, die öffentliche Dienstleistungen anbieten.

Der Bericht weist nach, dass die Regierung eine neue Generation von Multimillionären schafft und die Wohltätigkeitsorganisationen in millionenschwere Unternehmen verwandelt, indem ihnen vertraglich öffentliche Dienstleistungen übertragen werden.

Zum Beispiel die Stiftung Shaw Trust, die Umschulungsmaßnahmen für Behinderte anbietet: Ihre Einnahmen stiegen von rund 28 Millionen Euro auf beinahe 100 Millionen Euro im vergangenen Jahr, was größtenteils auf Aufträge der staatlichen Arbeitsvermittlung Jobcentre Plus im Umfang von etwa 56 Millionen Euro zurückzuführen ist. Ein anderer Wohltätigkeitsverband, Tomorrow's People, unterhält durch seine Vermögensverwalter enge Verbindungen zu dem Lebensmittelkonzern Diageo. Das halbprivate Unternehmen Working Links gehört der Unternehmensberatung Gap Gemini, der Vermittlungsagentur Manpower und der Wohltätigkeitsorganisation Mission Australia, die sich in Großbritannien für die Übernahme des australischen Systems einsetzt, nach dem die gesamte Arbeitsvermittlung dem privaten Sektor und Wohltätigkeitsorganisationen zu übertragen ist.

Gegründet werden diese Unternehmen oft von ehemaligen leitenden Angestellten aus dem öffentlichen Sektor, gehen dann aber rasch in großen Konzernen auf. Ein Beispiel hierfür ist Deborah Fern, die 1986 Fern Training and Development gründete und ihre Firma für rund 20 Millionen Euro an die expandierende Gesellschaft Carter and Carter verkaufte.

Die höchste Bezahlung im Bereich der Umschulungs- und Fortbildungsunternehmen erhält mit rund 900.000 Euro Jahreseinkommen der Direktor von WCTS Ltd.; die einzige Aktionärin der Firma, Dr. Sarah Burnett, bekommt eine Dividende von jährlich 150.000 Euro. Emma Harrison erhielt aus ihrem Unternehmen A4E im Jahre 2005 eine Dividende in Höhe von mehr als 1,5 Millionen Euro und soll über ein Gesamtvermögen von rund 80 Millionen Euro verfügen. Sie beschäftigt mehr als 1.500 Menschen und hat Verträge in Höhe von 110 Millionen Euro an Land gezogen, um Bildungsmaßnahmen für Arbeitslose im Rahmen des staatlichen "New Deal"-Programms durchzuführen sowie Fortbildungsangebote für private Firmen und Sozialprogramme in Israel und Polen umzusetzen.

Sogar in den nicht-kommerziellen Organisationen liegen die Gehälter der Vorstände bei über 150.000 Euro.

Davies weist auch die Behauptungen der Regierung zurück, unabhängige Dienstleister würden ihre Arbeit besser erledigen als der öffentliche Dienst. Er kommt zu dem Schluss: "Wenn den Mitarbeitern der staatlichen Vermittlungsagentur Jobcentre Plus die gleichen Freiheiten und Gelder gewährt wurden wie privaten Unternehmen oder Wohltätigkeitsorganisationen, dann waren sie in der Lage, mit den Leistungen der privaten und nicht-kommerziellen Auftragnehmer mitzuhalten und diese sogar zu übertreffen."

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