Bolkestein-Richtlinie:

40.000 demonstrieren in Berlin

In Berlin demonstrierten am vergangenen Samstag knapp 40.000 Menschen gegen die Bolkestein-Richtlinie. Neben dem DGB und verschiedenen Umwelt- und Naturschutzorganisationen hatten auch SPD, Grüne, Linkspartei und die Sozialausschüsse der Union (CDA) zu der Demonstration unter dem Motto "Europa ja, Sozialdumping nein" aufgerufen.

In der Demo marschierten nicht nur der DGB-Vorsitzende Michael Sommer und Vertreter der Einzelgewerkschaften, sondern auch zahlreiche Politiker wie Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul und Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Thierse (beide SPD) sowie der Grünen-Vorsitzende Reinhold Bütikofer und Grünen-Fraktionschefin Renate Künast.

 

In der vergangenen Woche hatte die sozialdemokratische Fraktion im Europaparlament bereits angekündigt, der Richtlinie unter bestimmten Bedingungen zuzustimmen. Diese Bedingungen hatten Vertreter der Fraktion in einer Arbeitsgruppe des EU-Parlaments zusammen mit Mitgliedern der konservativen EVP-Fraktion ausgehandelt. Das Parlament wird diesen Kompromiss aller Voraussicht nach am kommenden Dienstag mit den Stimmen beider Fraktionen verabschieden.

De facto unterscheidet sich dieser Kompromiss nur unwesentlich von dem ursprünglichen Entwurf. Es werden vor allem einige Formulierungen geändert und teilweise verwässert. So erklärte etwa der konservative österreichische Abgeordnete Othmar Karas gegenüber der Tageszeitung Standard zu einem der am meisten umstrittenen Punkte, dass "der Begriff Herkunftslandprinzip nicht mehr verwendet wird, aber das Grundprinzip bleibt".

Der "Kompromiss" wird nicht nur von den europäischen Sozialdemokraten und der Bundesregierung, sondern auch von den Gewerkschaften unterstützt. Auf der Demo selbst drückte Sommer seinen "ausdrücklichen Dank" für die erzielten Fortschritte aus. Der Entwurf käme vielen seiner Forderungen entgegen und solle verabschiedet werden. Die Demonstration hält er für notwendig, um dafür zu sorgen, dass der Kompromiss am Dienstag auch tatsächlich beschlossen und nicht von der EVP oder der Kommission verhindert werde.

Die Veranstalter waren konsequent bemüht, die Demo inhaltlich auf die Ablehnung der Bolkestein-Richtlinie bzw. ihre Durchsetzung in leicht veränderter Form zu beschränken und alle weiterführenden Fragen auszuklammern. Die EU und ihre Institutionen, die seit Jahren für Sozialabbau und Lohndumping verantwortlich sind, werden als Garanten des Fortschritts dargestellt. So erklärte Martin Rocholl, der für die Umweltorganisation BUND und Attac sprach, auf der Abschlusskundgebung, dass sich für ihn "mit der Europäischen Union die Hoffnung auf Frieden, auf mehr Toleranz, mehr Demokratie, mehr soziale Sicherheit, mehr Verbraucher- und Umweltschutz und mehr Rechtsstaatlichkeit verbindet".

Der größte Streik im öffentlichen Dienst seit 14 Jahren und der Streik der Belegschaft des AEG-Werkes in Nürnberg waren dem Chef des DGB in seiner Rede nur eine kurze Bemerkung wert. Mit keinem Wort erwähnte er den geplanten Abbau von 20.000 Stellen bei VW.

In einer Situation, in der die Große Koalition heftige Angriffe auf die Bevölkerung plant, zahlreiche wichtige Unternehmen massive Stellenstreichungen ankündigen und die Bundesrepublik auf neue Kriege vorbereitet wird, organisieren die Gewerkschaften einen zahnlosen Protest gegen eine EU-Richtlinie, der sie in Wirklichkeit längst zugestimmt haben. Damit haben die Gewerkschaften wie schon in der Vergangenheit eine Trillerpfeifen-Demonstration veranstaltet, um den Widerstand der Bevölkerung aufzufangen und unter ihre Kontrolle zu bringen.

In den letzten Jahren kam dieser Widerstand gegen die Kürzungspolitik an vielen Stellen unabhängig von den alten Organisationen zum Ausdruck. In Deutschland entwickelten sich vor anderthalb Jahren quasi aus dem Nichts Massendemonstrationen gegen Hartz IV und die Agenda 2010, in Frankreich und den Niederlanden entschied sich die Mehrheit trotz einer massiven Kampagne des politischen Establishments gegen die EU-Verfassung und überall in Europa ist es zu heftigen Arbeitskämpfen gekommen. Es steht außer Frage, dass die Demonstration gegen die Bolkestein-Richtlinie zu einem Anziehungspunkt des Widerstands hätte werden können.

Stattdessen hat der DGB einen Show-Protest organisiert. Über 30.000 der knapp 40.000 Demonstranten wurden zuvor von 600 Gewerkschaftsbussen aus dem ganzen Bundesgebiet angefahren. Sie kamen, ausgerüstet mit Mützen, Fahnen und Trillerpfeifen, in den Invalidenpark zum Bundeswirtschaftsministerium, wo sie mit Schlagermusik und kostenloser Erbsensuppe versorgt wurden. Die Demonstranten zogen dann weiter bis zum Palast der Republik, wo die Schlusskundgebung stattfand. Auch dort dominierte laute Musik das Bild. Bratwurstbuden übertrafen die Anzahl politischer Informationsstände bei weitem.

Auf diese Weise sind die Gewerkschaften kaum mehr in der Lage, Menschen außerhalb ihres unmittelbaren Einflussbereichs zu mobilisieren. Anders als auf den Demonstrationen gegen Sozialabbau der letzten Jahre traf man erstaunlich wenig Mitglieder von Erwerbsloseninitiativen, einfache Arbeiter oder Jugendliche.

Eine Ausnahme war Thomas, ein 25 jähriger Politikstudent aus Potsdam. Er war durch die Zeitung auf die Demo aufmerksam geworden. Er sei auf der Demo, um gegen den Neoliberalismus zu kämpfen und auch um anderen Leuten Mut zu machen. Er hält die Perspektiven der Gewerkschaft nicht für geeignet, die Bolkestein-Richtlinie zu verhindern. "Man wird die Regierung durch Demonstrationen nicht dazu bringen können, gegen die globale kapitalistische Logik zu handeln. Um die kapitalistische Logik zu knacken, brauchen wir eine internationale Perspektive."

Kurz nach Beginn der Kundgebung am Schlossplatz löste sich die Demonstration rasch auf. Nur etwa 3.000 Menschen verfolgten die Redebeiträge.

Siehe auch:
Der Kampf gegen die EU-Institutionen erfordert eine sozialistische Perspektive
(10. Februar 2006)
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