Frankreichs Präsident Chirac droht mit atomarer Vergeltung bei Terroranschlägen

Der französische Präsident Jacques Chirac droht Staaten, die Terroranschläge auf Frankreich und dessen strategische Interessen unterstützen oder den Einsatz von Massenvernichtungswaffen erwägen, mit atomaren Vergeltungsschlägen. Eine entsprechende Neudefinition der französischen Verteidigungsstrategie verkündete er am Donnerstag auf dem Atom-U-Boot-Stützpunkt Ile Longue in der Bretagne.

In einer verteidigungspolitischen Grundsatzrede sagte Chirac: "Die atomare Abschreckung ist nicht dazu bestimmt, fanatische Terroristen abzuschrecken. Doch die Führer von Staaten, die gegen uns auf terroristische Mittel zurückgreifen, sowie alle, die in der einen oder anderen Weise den Einsatz von Massenvernichtungswaffen erwägen, müssen verstehen, dass sie sich einer festen und angepassten Antwort unserer Seite aussetzen würden. Diese Antwort kann konventionell sein; sie kann auch anderer Natur sein."

Zu den Interessen, die es zu schützen gelte, zählt der Präsident auch "die Garantie unserer strategischen Versorgung und die Verteidigung der verbündeten Länder". Dabei obliege es dem Präsidenten, einzuschätzen, ob "das Ausmaß und die möglichen Folgen einer Bedrohung oder einer unerträglichen Erpressung ... in das Feld unserer vitalen Interessen fallen".

Ausdrücklich warnte Chirac "gewisse Staaten", die versuchten, "sich mit Atomwaffen auszustatten, und das unter Bruch der Verträge" - ein unmissverständlicher Warnung an den Iran, dem Frankreich, die EU und die USA vorwerfen, er baue Atomwaffen.

Frankreich verfügt über schätzungsweise 300 Atomsprengköpfe, die - anders als die britischen - nicht der Kontrolle der Nato unterliegen. Die force de frappe, wie die französische Atomstreitmacht genannt wird, gilt seit den Zeiten von Charles de Gaulle als Symbol der französischen Stärke und Unabhängigkeit (auch gegenüber den USA) und wird von allen Präsidenten als entsprechendes Prestigeobjekt behandelt.

Das galt auch für den Sozialisten François Mitterrand, in dessen Amtszeit die Versenkung eines Greenpeace-Schiffes, das im Südpazifik gegen französische Atomwaffentests protestierte, durch den französischen Geheimdienst fällt. Chirac nahm 1995, unmittelbar nach Beginn seiner Amtszeit, die Tests auf dem Mururoa-Atoll wieder auf, bis er sie schließlich unter massiven internationalen Protesten einstellen musste.

Nach der bisher geltenden Doktrin soll die force de frappe ausschließlich im Falle einer Bedrohung der territorialen Integrität, der Bevölkerung und der Souveränität Frankreichs zum Einsatz kommen. Sie soll einen potentiellen Gegner abschrecken, da er im Falle eines Angriffs mit seiner vollständigen Vernichtung rechnen müsste.

Nun hat Chirac die Schwelle für den Einsatz von Kernwaffen deutlich gesenkt. Die Gefährdung der Versorgung Frankreichs mit strategischen Rohstoffen oder die bloße Drohung mit Massenvernichtungswaffen reichen aus, um ihren Einsatz zu rechtfertigen.

Chirac hält zwar weiterhin an einer Strategie der Abschreckung fest. "Es käme in keinem Fall in Frage, atomare Mittel in Konflikten zu militärischen Zwecken einzusetzen", sagte er. Es gehe um "die glaubwürdige Drohung mit ihrem Einsatz", um damit "Führer, die uns gegenüber feindliche Absichten hegen, ... zur Vernunft zu bringen und ihnen die maßlosen Kosten bewusst zu machen, die ihre Handlungen für sie selber und für ihre Staaten hätten".

Doch gleichzeitig erklärte Chirac, Frankreich habe seine Atomstreitkräfte seit dem Ende des Kalten Krieges so umgebaut, dass sie auch unterhalb der Schwelle der totalen Vernichtung gegen ausgewählte strategische Ziele eingesetzt werden könnten.

"Gegen eine Regionalmacht haben wir nicht nur die Wahl zwischen Untätigkeit und Vernichtung", sagte er. "Die Flexibilität und Reaktionsfähigkeit unserer strategischen Streitkräfte würde uns erlauben, unsere Antwort direkt auf die Machtzentren und ihre Handlungsfähigkeit zu richten. Unsere ganze Atomstreitmacht wurde in diesem Geist konfiguriert. Mit diesem Ziel haben wir zum Beispiel die Zahl der Atomsprengköpfe auf bestimmten Raketen unserer U-Boote gesenkt."

Mit der Möglichkeit, gezielte Schläge gegen ausgewählte Ziele zu führen, steigt auch die Wahrscheinlichkeit eines tatsächlichen Einsatzes von Atomwaffen. Die USA arbeiten seit langem an der Entwicklung taktischer Atomwaffen, die auch im Rahmen konventioneller Kriege eingesetzt werden können, um strategische Ziele oder widerspenstige Regionen auszuschalten.

Chiracs Drohungen müssen daher ernst genommen werden. Die herrschende Klasse Frankreichs, die auf eine lange Geschichte imperialistischer Verbrechen und blutiger Kolonialkriege zurückblickt, wird nicht davor zurückschrecken, große Gebiete nuklear einzuäschern, wenn sie ihre "vitalen Interessen" gefährdet sieht.

Chirac benannte diese Interessen in seiner Rede konkret. Er bezeichnete "die Teilung der Rohstoffe, die Verteilung der Naturressourcen und die Entwicklung der demographischen Gleichgewichte" als "neue Quellen des Ungleichgewichts". Anders ausgedrückt: Chirac ist bereit, Atomwaffen einzusetzen, um das "Gleichgewicht" bei der Versorgung Frankreichs mit Rohstoffen und Naturressourcen wieder herzustellen.

Unmittelbarer Adressat von Chiracs Drohungen ist der Iran, der für Frankreich und die anderen europäischen Mächte große strategische Bedeutung hat. Das Land gehört zu den weltweit größten Öl- und Gasproduzenten und ist ein wichtiger Absatzmarkt für die europäische Wirtschaft, ganz abgesehen von seiner zentralen Lage zwischen Golf und Kaspischem Meer, Kleinasien und indischem Subkontinent.

Der französische Präsident hat seine neue Verteidigungsdoktrin kurz nach dem Scheitern der Verhandlungen über das iranische Atomprogramm verkündet. Nachdem es Großbritannien, Deutschland und Frankreich nicht gelungen ist, Teheran zum freiwilligen Verzicht auf sein Atomprogramm zu verpflichten, wollen sie den Fall vor den UN-Sicherheitsrat bringen. Dies könnte, beginnend mit Sanktionen und anderen Zwangsmaßnahmen, leicht zu einer militärischen Eskalation des Konflikts führen.

Nachdem die USA und Israel wiederholt mehr oder weniger offen mit Militärschlägen gegen iranische Atomanlagen gedroht haben, versucht Frankreich nun die Initiative zurück zu gewinnen, indem es seinerseits mit Atomschlägen droht.

Dabei wird deutlich, dass Chirac US-Präsident Bush nicht nachsteht, wenn es um die Verteidigung der eigenen imperialistischen Interessen geht. Die französische Regierung hatte sich - ebenso wie die deutsche - nicht aus Rücksicht auf das Völkerrecht oder aus Abscheu vor dem gewaltsamen Vorgehen der USA gegen den Irakkrieg ausgesprochen, sondern weil sie ihre eigenen imperialistischen Interessen gefährdet sah.

In den vergangenen Wochen haben sich Berichte über eine enge Zusammenarbeit deutscher, französischer und amerikanischer Geheimdienste während des Irakkriegs gehäuft. Obwohl sich die französische und die deutsche Regierung öffentlich gegen den Krieg aussprachen und amerikanische Menschenrechtsverletzungen brandmarkten, arbeiteten sie hinter den Kulissen eng mit den USA zusammen, unterstützten diese bei der militärischen Logistik und halfen ihnen bei der illegalen Festnahme, der Verschleppung und der Folter angeblicher Terroristen.

Auch gegen Syrien - einen weiteren Adressaten von Chiracs Drohungen - arbeiten die USA und Frankreich eng zusammen. Gemeinsam haben sie den syrischen Rückzug aus dem Libanon erzwungen.

Mit seinem atomaren Säbelrasseln reagiert Chirac außerdem auf starken inneren Druck. Die Umfragewerte des 73-jährigen Präsidenten liegen im Keller. Niemand glaubt mehr, dass er sich 2007 um eine dritte Amtszeit bewerben wird, was laut Verfassung möglich wäre. Indem er die force de frappe, das alte Symbol französischer Größe, wieder ins Spiel bringt, versucht Chirac von den wachsenden sozialen Spannungen abzulenken und an den französischern Nationalstolz zu appellieren.

Gleichzeitig versucht er damit, seinen Favoriten Premierminister Dominique de Villepin gegen Innenminister Nicoals Sarkozy zu stärken. Beide wollen Chiracs Nachfolge als Präsident antreten. Sarkozy, der für eine Annäherung an die USA eintritt, hat sich kritisch über die force de frappe geäußert, weil diese mit drei Milliarden Euro jährlich rund ein Zehntel des französischen Militärhaushalts verschlingt.

Von einem großen Teil der französischen Elite wird Chiracs Vorstoß aber unterstützt. Kritik kam vor allem aus den Reihen der Grünen und der Kommunistischen Partei, die Chirac vorwerfen, er konterkariere die Bemühungen um nukleare Abrüstung.

Volle Unterstützung erhielt er dagegen von einem prominenten Mitglied der Sozialistischen Partei. Laurent Fabius, der im vergangenen Jahr gegen die EU-Verfassung aufgetreten war und zu den sozialistischen Aspiranten um das Präsidentenamt gehört, erklärte seine Übereinstimmung mit Chiracs Doktrin. "An der von ihm dargelegten nuklearen Haltung Frankreichs gibt es nichts, das ich grundlegend ablehnen würde", sagte Fabius. Chirac habe Recht, wenn er darauf beharre, dass der Terrorismus eine große Gefahr darstelle. "Die Entschlossenheit des Staatschefs besteht in der Stärke der nuklearen Abschreckung."

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