Studie zieht verheerende Bilanz der Hartz-Reformen

Wer erinnert sich noch an die Bundestagswahl 2002?

Der Name Hartz stand damals im Mittelpunkt der Wahlkampagne der SPD. Angesichts horrender Arbeitslosenzahlen und stagnierender Wirtschaftsdaten hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder die Vorschläge einer von ihm eingesetzten Kommission, die von VW-Personalvorstand Peter Hartz geleitet wurde, vorzeitig veröffentlichen lassen und versprochen, sie würden wahre Wunderdinge bewirken.

In einem Betrag für das SPD-Organ Vorwärts bezeichnete Schröder die Vorschläge der Hartz-Kommission als "Konzept für die nachhaltige Senkung der Arbeitslosigkeit durch gründliche und gerechte Reformen auf dem Arbeitsmarkt" und als "Blaupause für mehr Beschäftigung, mehr Eigeninitiative und mehr Sicherheit". Hartz und Schröder verkündeten landauf, landab, man werde die Arbeitslosenzahl mit Hilfe der Hartz-Reformen innerhalb von zwei Jahren von vier auf zwei Millionen halbieren.

Zehn Tage vor dem Wahltermin verabschiedete der Bundestag dann die Gesetzespakete Hartz I und Hartz II. Nach der Wahl folgten Hartz III und Hartz IV.

Unter den SPD-Wählern stießen die Hartz-Vorschläge auf Ablehnung. Ihre Kernpunkte bildeten die Privatisierung der Arbeitsvermittlung, die Kürzung der Arbeitslosenunterstützung und der Aufbau eines Niedriglohnsektors. Arbeitslose sollten so gezwungen werden, jede Art von Arbeit anzunehmen. SPD und Grüne verdankten ihre äußerst knappe Wiederwahl schließlich nicht den Hartz-Reformen, sondern ihrer ablehnenden Haltung zum Irakkrieg.

Umso begeisterter wurden die Hartz-Vorschläge von den Gewerkschaften begrüßt. "Zwei Millionen Menschen wieder in Arbeit vermitteln - da machen wir mit", kommentierte der damalige IG-Metall-Vorsitzende Klaus Zwickel das Ergebnis. Die Gewerkschaften hatten in der Hartz-Kommission mit am Tisch gesessen - Seite an Seite mit hochrangigen Wirtschaftsvertretern und SPD-Funktionären.

Für die Gewerkschaften bildeten die Hartz-Vorschläge den willkommenen Vorwand, sich uneingeschränkt hinter die SPD zu stellen und jeder Auseinandersetzung über die verheerende Arbeitslosenbilanz der Regierung Schröder aus dem Weg zu gehen. Eine solche Auseinandersetzung hätte unweigerlich die Frage nach einer politischen Alternative aufgeworfen. Sie hätte deutlich gemacht, dass sich die Massenarbeitslosigkeit im Rahmen der bestehenden kapitalistischen Verhältnisse nicht überwinden lässt. Nun konnten die Gewerkschaften behaupten, die Hartz-Kommission habe einen Weg aufgezeigt, die Massenarbeitslosigkeit mit den bewährten Methoden der Sozialpartnerschaft zu überwinden.

Drei Jahre danach liegt eine Bilanz vor, die in jeder Hinsicht vernichtend ist. Eine mehrere tausend Seiten umfassende Untersuchung stellt fest, dass die Hartz-Reformen - selbst gemessen an den wirtschaftsfreundlichen Kriterien der Hartz-Kommission - nichts weiter waren, als ein groß angelegter Betrug: Show, Werbung oder "Spin", wie es im Englischen heißt. VW ist nicht zufällig der Konzern, der die "Gläserne Manufaktur" und die "Autostadt Wolfsburg" als Erlebnispark erfunden hat.

"Große Teile der Hartz-Reformen" verfehlten ihr Ziel, die Arbeitslosigkeit zu senken, heißt es in dem Bericht. Einige Teile würden sogar kontraproduktiv wirken.

Die Arbeitslosigkeit war sowohl 2004 als auch 2005 nicht gesunken, sondern weiter angestiegen. Im Februar 2005 betrug sie sogar kurzzeitig weit über 5 Millionen und erreichte damit den höchsten Wert seit 1933. Wirkung zeigten die Hartz-Maßnahmen dagegen bei der Schaffung und Ausweitung eines umfassenden Niedriglohnsektors.

Die Untersuchung über die Auswirkungen der Hartz-Maßnahmen wurde im Auftrag der ehemaligen rot-grünen Bundesregierung von mehreren wirtschaftsnahen Forschungsinstituten erstellt, darunter dem Wissenschaftszentrum Berlin, dem DIW (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung), dem RWI (Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung) sowie dem ZEW (Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung). Sie lag bereits vor einem halben Jahr vor, wurde aber kurz vor der Bundestagswahl von der Regierung Schröder aus nahe liegenden Gründen unter Verschluss gehalten. Am 27. Dezember 2005 hat nun das Handelsblatt erstmals öffentlich über die Studie berichtet.

Gegenstand des wissenschaftlichen Berichts sind die Hartz-Regelungen I bis III. Die Hartz-IV-Regelungen, die Zusammenlegung von Arbeitlosen- und Sozialhilfe, die vor allem den so genannten Langzeitarbeitslosen (über ein Jahr arbeitslos) die Gelder kürzen, sollen gesondert überprüft werden.

Die Privatisierung der Arbeitsvermittlung mit der flächendeckenden Einrichtung von Personal-Service-Agenturen (PSA) galt als "Herzstück" von Hartz I. Die PSA stellen Arbeitslose ein und verleihen sie befristet an Firmen. Peter Hartz hatte versprochen, allein durch die PSA würden 500.000 neue Arbeitsplätze entstehen. Das hat sich als reine Luftblase erwiesen. Tatsächlich wurde nicht einmal ein Zehntel dieses Ziels erreicht. Seit 2003 sind insgesamt 127.143 Arbeitslose an eine PSA weitergeleitet worden. Nicht einmal jeder Dritte von ihnen (38.758) ist in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gewechselt.

Die PSA werden laut Handelsblatt in dem Bericht von allen überprüften Maßnahmen am schlechtesten beurteilt. "Der Einsatz in einer PSA verlängert im Vergleich zur Kontrollgruppe die durchschnittliche Arbeitslosigkeit um fast einen Monat, gleichzeitig liegen die monatlichen Kosten weit über den ansonsten entstandenen Transferleistungen", zitiert die Zeitung aus dem Bericht. "So wie die Personal-Service-Agenturen derzeit aufgestellt sind, sind sie weder effektiv noch effizient und selbst unter Berücksichtigung von möglichen Alternativkosten wie z. B. Eingliederungszuschüssen oder Ähnlichem noch immer ein teures Instrument."

Die einzige Maßnahme, die laut Handelsblatt in dem Bericht gut abschneidet, ist die so genannte Ich-AG, die 2003 im Rahmen der Hartz-II-Reformen eingeführt worden war. Bei der Ich-AG handelt es sich um Selbständige, die zur Unterstützung eine über drei Jahre gestreckte Bezuschussung erhalten. Die Ich-AGler verdingen sich meist für wenig Geld als "freie Mitarbeiter" bei Firmen (vorzugsweise in der Computer- und Werbebranche) oder als "Dienstleister" in den Privathaushalten der Reichen.

Insgesamt gründeten bis November 2005 fast 356.000 Menschen eine Ich-AG. Eine Untersuchung solcher Jobs im Bundesland Nordrhein-Westfalen ergab aber, dass trotz Unterstützung nur jeder Vierte von der Ich-AG leben konnte. Daher sind rund 120.000 Ich-AGs bereits wieder aufgelöst worden. Die gescheiterten Selbständigen stehen meist vor einem enormen Schuldenberg, der den Druck, jede Arbeit anzunehmen, weiter erhöht.

Einen ähnlichen Effekt hatten die neuen Regeln für Mini-Jobs. Die Grenze für geringfügige Beschäftigung, so der gesetzliche Name für die Mini-Jobs, wurde von 325 auf 400 Euro monatlich erhöht (Hartz II). Der Arbeitgeber zahlt dabei lediglich 25 Prozent Pauschalabgaben an die Sozialversicherungsträger. Die Einführung der Mini-Jobs habe für einen Boom der geringfügigen Beschäftigung gesorgt, schreibt das Handelsblatt. "Hinsichtlich des Ziels der Integration von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt sind (...) erhebliche Zweifel angebracht." Der Übergang von Mini-Jobs in reguläre Jobs sei eher die Ausnahme.

Dieses Ergebnis der Hartz-Reformen - die Errichtung eines unsicheren Niedriglohnsektors, der wiederum dazu dient, das Tariflohnsystem aufzubrechen - war politisch gewollt. Insbesondere die CDU nimmt die Veröffentlichung des Berichts im Handelsblatt jetzt zum Anlass, weitere Schritte anzumahnen, die den Niedriglohnsektor weiter ausweiten.

CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla bezeichnete die Ergebnisse der Studie als Bestätigung des Unionskurses. Der Katalog der Fördermaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit (BA) müsse jetzt "durchforstet" werden. Dabei will die Union selbst die letzten Gelder für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen (etwa Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder Weiterbildung) streichen und zur Errichtung eines staatlich bezuschussten Niedriglohnsektors einsetzen. So wirbt sie für ein Kombilohn-Modell, bei dem sich der Lohn des Arbeitenden aus einem Minilohn des Betriebs und staatlichen Zuschüssen zusammensetzt. Bereits die rot-grüne Bundesregierung hatte die Einführung eines Kombi-Lohns beabsichtigt.

Auf diese Weise wird der Bericht der Wirtschaftsinstitute zu den Wirkungen der Hartz-Reformen von der Großen Koalition benutzt, um die aufgezeigten negativen Folgen der Reformen zu potenzieren. Schon jetzt ist die Zahl der sozialversicherten Arbeitnehmer stark gesunken. Im September 2005 arbeiteten 331.000 Menschen weniger in einem solchen Arbeitsverhältnis als ein Jahr zuvor.

Gestiegen ist dagegen die Zahl der geringfügig Beschäftigten und der selbstständigen Ich-AGler. Rund 4,9 Millionen Männer und Frauen arbeiten derzeit ausschließlich in einem Minijob. Das ist eine Steigerung von mehr als 30 Prozent in den letzten fünf Jahren. Zusätzlich haben 1,5 Millionen Männer und Frauen neben ihrem Hauptberuf einen Minijob. Oft erledigen sie die Arbeiten, die früher Vollzeitkräfte verrichteten. Hinzu kommen rund 240.000 Ich-AGs und mittlerweile 255.000 so genannte Ein-Euro-Jobber. Bei den Ein-Euro-Jobs erhalten Arbeitslose, die keine reguläre Arbeit finden, für angeblich zusätzliche gemeinnützige Arbeiten pro Stunde ein bis zwei Euro "Aufwandsentschädigung" zu ihrem Arbeitslosengeld (maximal 200 Euro im Monat).

Auch an einer anderen Front entwickelt sich Billiglohnarbeit in großem Umfang. Immer mehr Hochschul- und Fachhochschulabsolventen landen in einem niedrig oder gar nicht bezahltem "Praktikum", weil die Zahl der arbeitslosen Akademiker ständig steigt.

Ende September 2004 waren in Deutschland knapp 253.000 Hochschulabsolventen arbeitslos gemeldet. 95.668 Akademiker waren ohne Berufserfahrung, 22,4 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Viele Tausende dieser arbeitslosen Architekten, Wirtschafts-, Sprach-, Gesellschaftswissenschaftler, Software-Experten, Ingenieure usw. sehen sich gezwungen, ohne Lohn zu arbeiten - insbesondere diejenigen, die gerade aus der Universität kommen.

Anfang nächsten Jahres will der DGB eine ausführliche Studie über den Umfang und das Ausmaß der Ausbeutung junger Studierter in Praktika vorlegen. Erste Ergebnisse der Studie haben bereits eine fatale Entwicklung aufgezeigt: Als "Praktikum", "Volontariat", "Hospitation" oder "Projektassistenz" getarnte, unbezahlte oder schlecht bezahlte Beschäftigung breitet sich stark aus. 39 Prozent der bisher Befragten erhalten während ihres Praktikums trotz Vollzeitarbeit keine Bezahlung. Etwa die Hälfte der Befragten klagt über "Ausbeutung".

Siehe auch:
"Wohl dem der Vermögen hat" - Soziale Ungleichheit in Deutschland wächst stetig
(2. Dezember 2005)
Das Arbeitsamt spart durch Förderung von Billiglohnarbeit
( 4. Oktober 2005)
Die Maatwerk Insolvenz
( 13. März 2004)
Rot-grüne Regierung will Niedriglöhne durchsetzen
( 16. Januar 2002)
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