Das Unglück in Bad Reichenhall und seine politischen Folgen

Der Dacheinsturz der Eislaufhalle im südostbayerischen Bad Reichenhall, der zwölf Kindern und Jugendlichen sowie drei Erwachsenen das Leben kostete und 34 Personen (15 von ihnen müssen noch stationär behandelt werden) verletzte, hat eine heftige Debatte unter Politikern und Fachleuten ausgelöst. Was hat neben den Massen von Nassschnee auf dem Flachdach letztlich zum Zusammenbruch der Holzkonstruktion an jenem Nachmittag des 2. Januar dieses Jahres geführt?

Betroffene und Anwohner sind sich einig: Das Dach war morsch, die Sanierung der Halle seit langem überfällig. (Wir berichteten darüber bereits am 5. Januar.) Auch die Stadtverwaltung war sich der Gefahr bewusst, als sie den Sportverein an diesem Nachmittag nicht mehr trainieren ließ und die Halle nach dem Öffentlichkeitsbetrieb schließen und den Schnee auf dem Dach beseitigen wollte.

Doch die örtlichen Politiker weisen fraktionsübergreifend jegliche Verantwortung für das Unglück weit von sich. Lokale wie überregionale Fachleute widersprechen sich sogar, ob die etwa 35-jährige Holzkastenkonstruktion aus Schichtholz, Holzstegen, Nagel-Press-Leimung sowie Ober- und Untergurten das Gewicht des Nassschnees hätte halten müssen.

Der Hausmeister der Eishalle habe noch am späten Vormittag des Unglückstages die Schneedecke auf dem Dach gemessen. Die Schneelast sei deutlich unter der Gefahrenmarke gewesen, betonte Oberbürgermeister Wolfgang Heitmeier (Freie Wähler). Über das genaue Gewicht schweigt er sich aus. Ebenso wenig äußert er sich zu konkreten Einzelheiten des von der Stadt in Auftrag gegebenen Sanierungsgutachtens, welches 2003 angefertigt wurde. Sein Schweigen rechtfertigt Heitmeier mit den laufenden Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Traunstein. Diese hatte unmittelbar nach dem Unglück Untersuchungen wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung eingeleitet.

Zwar bleibt das Untersuchungsergebnis der Staatsanwaltschaft abzuwarten, doch wirft die aufgeflammte Diskussion über die Sicherheitsprüfungen bereits jetzt ein negatives Schlaglicht auf Gesetzeslücken und schwindende staatliche Verantwortung für die Sicherheit öffentlicher Gebäude und Anlagen.

Während es strenge gesetzliche Vorgaben und Prüfungsmechanismen für die Planung, Konstruktion und Errichtung eines Gebäudes gibt, mangelt es an gesetzlichen Regelungen zur Sicherheitsprüfung bestehender Gebäude. Laut Aussage des Staatssekretärs im hessischen Wirtschafts- und Verkehrsministerium betrifft hier die Sicherheitsprüfung vor allem den Brandschutz. Dies gilt insbesondere für Sonderbauten wie Einkaufseinrichtungen, Schwimm- und Eislaufhallen. Mit Übergabe des "Schlüssels" geht ansonsten jegliche Verantwortung auf den Bauherrn, hier die Stadt über.

Nun gehören - aufgrund der seit Jahren bestehenden Gesetze - die Überprüfung der Sicherheitsstandards z. B. bei Fahrstühlen, Öltanks und Windräder zur regelmäßigen Selbstverständlichkeit. Für Sonderbauten wie die Eislaufhalle in Bad Reichenhall gilt dies nicht. Hier entscheiden die Geldbörsen der Bauherren und ihre jeweiligen Interessen darüber, ob, wie oft und in welchem Umfang die in ihrer Obhut stehenden Gebäude geprüft und Sicherheitsmängel beseitigt werden.

Deregulierung von Vorschriften und Abbau staatlicher Verantwortung

Wie schon nach dem Einsturz der Berliner Kongresshalle 1980 wird verstärkt die Einführung staatlich geregelter Kontrollen öffentlich genutzter Gebäude gefordert. So verlangt der Präsident des Deutschen Städtetages und Münchner Oberbürgermeister, Christian Ude (SPD), regelmäßige Kontrollen. Er schlug vor, bei Hallen mit Publikumsverkehr einen festen Turnus vorzuschreiben, und äußerte, dass es einen verhängnisvollen Trend gebe, Kontrollen als überflüssige Bürokratie anzusehen.

Desgleichen fordert die Bundesvereinigung der Prüfingenieure strengere Kontrollen bei öffentlichen Einrichtungen und Bauten mit hohem Gefährdungspotential. Auch die Einstürze mehrerer Strommasten bei dem Unwetter im vergangenen Herbst, als ganze Ortschaften tagelang vom Stromnetz abgeschnitten waren, zeigten, dass fortschreitende Privatisierung zusammen mit deregulativen Maßnahmen verheerende Konsequenzen haben können. Doch gehe es nicht einfach darum, neue Gesetze zu erlassen, sondern deren Umsetzung zu kontrollieren, so der Verbandspräsident Hans-Peter Andrä. Gleichzeitig warnt Andrä davor, die baulichen Vorschriften zu lockern, um Kosten zu senken.

Gegen die Einführung regelmäßiger Kontrollen wendet sich der Sachverständigen-Verband BVS: "Das ist nicht notwendig, wenn ein Gebäude ordnungsgemäß gebaut worden ist", betont Verbandschef und Architekt Michael Staudt in der Frankfurter Allgemeine Zeitung (6. Januar 2006). Der Städte- und Gemeindebund in Hessen bezeichnete sogar den Ruf nach zusätzlichen Kontrollen als eine "typisch deutschen Reaktion", die nur neue Vorschriften schaffe.

Die geltende Bauordnung verlangt u. a. die Prüfung der Nichtgefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, insbesondere Leben oder Gesundheit, und der natürlichen Lebensgrundlagen. Doch verlässt sich der Gesetzgeber darauf, dass die beim Bau auferlegten Sicherheitsvorschriften und statischen Berechnungen auf Jahrzehnte hinaus die Sicherheit der Gebäude garantieren. Das Auftreten von Materialermüdung müsse schon bei der Planung berücksichtigt und daraus entstehende mögliche Gefahren im Voraus beseitigt werden, erläuterte ein Bauingenieur des bayerischen Innenministeriums. Bei Gebäuden nehme der Gesetzgeber daher an, sie seien "auf Dauer" errichtet.

Tatsächlich haben sich die Länder aufgrund vom Bund eingeführter Deregulierungspläne in den vergangenen Jahren insbesondere aus der Prüfung von Bauvorlagen sukzessive zurückgezogen. Bayern spiele dabei eine Vorreiterrolle, so Ulrich Battis, Leiter des Berliner Instituts für Deutsches und Internationales Baurecht, gegenüber der FAZ. Battis betont jedoch, an der Intensität der repressiven Kontrolle, also der Überprüfung und Abnahme der fertig gestellten Bauwerke durch die staatliche Bauaufsicht, habe sich nichts Substantielles geändert. Erst recht könne bei der regelmäßigen Überprüfung von Gebäuden nicht von einer Deregulierung gesprochen werden: "Wo es noch nie eine Regulierung gab, kann nichts dereguliert werden."

Auch Henning Jäde, leitender Ministerialrat der Obersten Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium, hält die bestehenden baurechtlichen Bestimmungen für ausreichend. In der Regel seien Hochbauten nicht so wie Brücken oder Windräder dynamischen Belastungen und wechselnden Windverhältnissen ausgesetzt. Für Ausnahmen wie die freistehenden Hochhäuser in Frankfurt/Main gebe es Sonderbestimmungen zur periodischen Überprüfung der Standfestigkeit.

Laut Jäde wirke der verantwortliche Bauherr wie eine Art "permanenter Gebäude-TÜV", da er sein Gebäude am besten kenne. Außerdem würden in der jetzigen Debatte die finanziellen, technischen und organisatorischen Dimensionen einer regelmäßigen Überprüfung von Hochbauten unterschätzt: "Es ergäbe keinen Sinn, nur zu prüfen, ob es in einem Gebäude von der Decke tropft; man müsste Verkleidungen lösen und Laboruntersuchungen in Auftrag gaben, was sehr teuer wäre."

Profitwirtschaft im Konflikt mit Recht auf Gesundheit und Leben

Der Ruf nach stärkerer Umsetzung von Kontrollrichtlinien und Verbesserung der Gesetzeslage zur Kontrolle der Sicherheitsstandards bei alternden Gebäuden bleibt folgenlos, wenn im Anschluss an die Gutachten nicht auch Sicherheitsmängel beseitigt werden. Dies halten die meisten Politiker mit Blick auf die Finanzkassen der Länder, Städte und Gemeinden für kaum finanzierbar oder ausgeschlossen.

Michael Staudt warnt, dass öffentliche Gebäude in Intervallen von 15 bis 20 Jahren überarbeitet werden müssten, die Gemeinden dafür aber heute kein Geld mehr haben. Auch Christian Ude warnt eindringlich vor maroder Bausubstanz und befürchtet eine Schließungswelle. "Fast alle Kommunen in Deutschland haben wegen ihrer Haushaltssituation in den vergangenen Jahren Mittel für den Bauunterhalt kürzen müssen", sagte er den Ruhr-Nachrichten. Besonders bei Bauwerken aus den sechziger und siebziger Jahren seien die Probleme besorgniserregend. Hier müssten Alarmzeichen wie Risse im Beton oder Feuchtigkeit im Gemäuer sehr ernst genommen werden.

Wie ernst die Lage tatsächlich überall ist, zeigt eine Studie der sächsischen Bauindustrie über Brücken, der zufolge zwei Drittel der untersuchten Objekte mit den Noten drei oder vier beurteilt wurden, also einer dringenden Instandsetzung oder Erneuerung bedürften. Wegen Kälteeinbruchs geschlossene Schulen, Lecks in Schuldächern, Brücken, die nur im Schritttempo überfahren werden dürfen, aus Sicherheitsgründen abgesperrte Räume in öffentlichen Gebäuden, marode Spielplätze, veraltete Straßen und Gehwege sind allerorts bekannt.

Doch die kommunalen Ausgaben - z. B. für den Erhalt und die Sanierung von Straßen, Schulen und Sporteinrichtungen - gehen nach Angaben des Deutschen Städte- und Gemeindebundes drastisch zurück, in den neuen Bundesländern noch stärker als in den alten. So gaben ostdeutsche Kommunen 2004 rund 4,4 Mrd. Euro für Investitionen in die öffentliche Infrastruktur aus, mithin fast 60 Prozent weniger als Anfang der 90er Jahre. In den alten Bundesländern verringerte sich das Ausgabenvolumen im gleichen Zeitraum um 35 Prozent auf 15,2 Mrd. Euro. Laut Aussage des ehemaligen Hauptgeschäftsführers des Hauptverbands der Deutschen Bauindustrie Michael Knipper haben die Kommunen seit 1992 ihre Bauausgaben um 42 Prozent zurückgefahren. Allein in den ersten drei Quartalen 2005 sind sie nochmals um 8 Prozent gesunken.

Nach Angaben der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) investierten die Städte und Gemeinden 1999 noch mehr als 19 Milliarden Euro in Straßen und Gebäude. 2004 waren es nur noch knappe 15 Milliarden Euro, also ein Rückgang von mehr als einem Fünftel. Allein für die Sanierung und den Neubau von Schulen müssten laut KfW bundesweit bis 2009 rund 60 Milliarden Euro ausgegeben werden.

Schuld sind aber nicht nur die Finanzplaner in den Städten und Gemeinden. Die Finanzkrise der Kommunen ist vor allem ein Ergebnis der Bundes- und Landespolitik. Bereits seit dem Jahre 2000, also kurz nach ihrem Amtsantritt, hatte die rot-grüne Bundesregierung Gelder für Städte und Kommunen drastisch gekürzt. Damit wurde die Steuerreform finanziert, mit der eine weitere Senkung der Unternehmens- und Einkommenssteuern - vor allem bei den Besserverdienenden - durchgesetzt wurde.

Die jetzige Große Koalition setzt diese Politik der Umverteilung von unten nach oben fort. Kommunen und Städte, die weder über moderne und zahlungsfähige Industrieansiedlungen noch über Tourismusattraktionen verfügen, verarmen schnell. Doch auch die reicheren Regionen werden von dem allgemeinen Abwärtstrend nicht verschont. Die jüngsten Pläne des Bundeskabinetts unter Merkel und Müntefering zur höheren Finanzierung des öffentlichen Bauvorhabens und zur Wirtschaftsstärkung werden nur einer kleinen Minderheit von Unternehmen nutzen.

Angesichts dieses Drucks, der von der Bundesregierung ausgeübt wird, sehen sich die Kommunen gezwungen, immer größere Einsparungen vorzunehmen und andere Einnahmequellen zu erschließen. Der Bad Reichenhaller Oberbürgermeister Heitmeier entschied im Jahre 2004 zusammen mit der Mehrheit des Stadtrats daher ganz nach marktwirtschaftlichen Kriterien, d. h. zu Gunsten der Tourismusbranche. Die seit Jahren zur Debatte stehende Sanierung des Gebäudekomplexes wurde verschoben und stattdessen eine Salzwasser-Therme errichtet bzw. ausgebaut. 30 Mio. Euro wurden hierfür verbraucht. Im vergangenen Jahr war kein Geld mehr für die Sanierung des Eislauf- und Schwimmhallenkomplexes vorhanden.

Das Unglück von Bad Reichenhall zeigt sehr deutlich, wie die Profitwirtschaft sich das gesamte gesellschaftliche Leben unterordnet, auch wenn es Menschenleben kostet.

Die arrogante und zynische Haltung, die dieser Politik zugrunde liegt, hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung in einem Seite-Eins-Kommentar auf den Punkt gebracht: "Die Eissporthalle von Bad Reichenhall - war sie nicht ohnehin ein Luxusgebäude? Schlittschuh fahren kann man auch unter freiem Himmel. Baden kann man im Winter zwar nicht im Freien, die Schwimmhalle daneben hätte somit mehr Berechtigung - aber muss man überhaupt im Winter schwimmen? Geringere Ansprüche bedeuten geringere Risiken."

Siehe auch:
Bad Reichenhall: Dacheinsturz fordert mindestens zwölf Tote
(5. Januar 2006)
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