G8-Gipfel: Geopolitisches Kräftemessen in St. Petersburg

Seit sich die Regierungschefs Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens, Italiens und Japans 1975 im französischen Rambouillet erstmals zu einem "Kamingespräch" trafen, sind die um Kanada und Russland ergänzten jährlichen G8-Gipfel zu einer gewaltigen Veranstaltung angewachsen. Der eigentliche Gipfel wird von Treffen von Fachministern und zahlreichen anderen Veranstaltungen eingerahmt, ganze Heerscharen von Beamten bereiten ihn monatelang vor.

Trotz diesem Großaufwand bleiben die Gipfel in der Regel symbolisch - Propagandaveranstaltungen oder Fototermine. Größere Entscheidungen werden selten getroffen, schon gar keine unerwarteten. Doch ungeachtet - oder gerade wegen - dieses symbolischen Charakters lassen die Gipfel oft Rückschlüsse auf den Zustand der internationalen Beziehungen zu.

Mit dem G8-Gipfel, der vom 15. bis 17. Juli im russischen St. Petersburg stattfindet, ist dies ganz ohne Zweifel der Fall. Der seit Jahren geplante erste G8-Gipfel auf russischem Boden sollte ursprünglich die vollständige Integration Russlands in den Club der führenden kapitalistischen Industrieländer symbolisieren. Stattdessen sind das Treffen und das vorausgehende diplomatische Tauziehen zum Schaufenster für die scharfen Spannungen geworden, die die internationalen Beziehungen kennzeichnen.

Vor allem das amerikanisch-russische Verhältnis hat seinen tiefsten Punkt seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion erreicht. Das geht so weit, dass einige US-Politiker - wie die Senatoren John McCain und Joseph Lieberman - sogar einen Boykott des Petersburger Gipfels forderten.

Zwei Fragen stehen im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen.

Die erste steht unter dem Titel "globale Energiesicherheit" ganz oben auf der offiziellen Tagesordnung. Hier geht es um die Kontrolle über die internationalen Energievorräte und Transportrouten, die ihrerseits einen Schlüsselfaktor im geopolitischen Kräfteverhältnis des 21. Jahrhunderts darstellt.

Russland gehört zu den weltweit größten Öl- und Gasexporteuren und verfügt über gewaltige unerschlossene Gasreserven. Es versucht diesen Umstand gezielt zu nutzen, um seine Stellung als Weltmacht zu festigen und internationale Bündnisse zu formen, die dem amerikanischen Vormachtstreben entgegenwirken und die von Präsident Putin immer wieder eingeforderte "multipolare Weltordnung" gewährleisten - was Washington mit allen Mitteln zu verhindern sucht.

Die zweite Frage ist mit der ersten eng verbunden. Sie steht nicht auf der offiziellen Tagesordnung, wird auf dem Gipfel aber dennoch eine maßgebliche Rolle spielen: die Haltung gegenüber Iran.

Vieles deutet darauf hin, dass es hier zu einem Kompensationsgeschäft kommen könnte. Russland stimmt Sanktionen gegen Teheran zu und die USA geben im Gegenzug ihre Blockadehaltung in einer oder mehreren anderen umstrittenen Frage auf. Im Gespräch sind die angestrebte russische WTO-Mitgliedschaft oder der Abschluss eines Atompakts, der es Russland ermöglichen würde, in großem Umfang internationalen Atommüll zu lagern - ein Milliardengeschäft.

Zahlreiche Nebenkriegsschauplätze, die während der Vorbereitung des Gipfels für Schlagzeilen sorgten - Putins autoritäre Herrschaftsformen, Russlands neu entdecktes Interesse für den Umweltschutz (Erdgas und Nuklearenergie gelten als besonders umweltfreundliche Energieformen) oder der Moskauer Religionsgipfel, auf dem vom Vatikan über die russisch orthodoxe Kirche bis zu den iranischen Mullahs alles vertreten war - haben dazu gedient, den propagandistischen Druck auf den jeweiligen Kontrahenten zu erhöhen. Sie sind Bestandteil des geopolitischen Kräftemessens.

Europa fehlt es zwar nicht am Ehrgeiz, wohl aber an der nötigen Geschlossenheit, in diesem Kräftemessen eine eigenständige Rolle zu spielen. Obwohl es die Hälfte der Gipfelteilnehmer stellt und auch die EU selbst auf dem Gipfel vertreten ist, hält es in den meisten Fragen zu den USA. Mit Ausnahme Großbritanniens verfolgt es die amerikanischen Hegemonialbestrebungen im Mittleren Osten und Zentralasien zwar mit Misstrauen. Noch mehr fürchtet es aber, dass es Russland gelingen könnte, die Stellung der Energieproduzenten gegenüber den Konsumenten zu stärken. Europa ist, mehr noch als die USA, auf Energieimporte angewiesen.

Energiesicherheit

Russland, das am Ende der Jelzin-Ära ökonomisch und politisch am Boden lag, hat in den vergangenen Jahren einen bemerkenswerten ökonomischen Aufstieg erlebt. Seit 1999 verzeichnet die Wirtschaft eine jährliche Wachstumsrate von 6 Prozent, der Wert der russischen Aktienmärkte ist seit 2001 um das Elffache auf 621 Milliarden Dollar gestiegen und das Bruttoinlandsprodukt soll im laufenden Jahr 900 Milliarden Dollar betragen.

Diese Zahlen sind in erster Linie ein Ergebnis der gestiegenen Öl- und Gaspreise, die sich seit 2002 verdreifacht haben. Russland ist nach Saudi-Arabien der weltweit zweitgrößte Ölproduzent und verfügt über 65 Prozent der internationalen Erdgasreserven. Zurzeit kommt Russland für einen Neuntel der weltweiten Öl- und einen Fünftel der Erdgasförderung auf.

Die Regierung Putin betrachtet dies als Faustpfand, um Russlands Stellung als Weltmacht wieder herzustellen und zu stärken. Sie hat den Energiesektor über den Gasmonopolisten Gazprom und staatsnahe Ölkonzerne systematisch ihrer Kontrolle unterworfen und nutzt Russlands Stellung als Energieproduzent, um die mittlerweile selbständigen Regionen der früheren Sowjetunion wieder an sich zu binden und neue internationale Bündnisse zu schmieden. In Washington und auch in Europa stößt dies auf empörte Ablehnung.

So haben die Inhaftierung des Ölmagnaten Michail Chodorkowski und die Zerschlagung seines Jukos-Konzerns bis heute anhaltende Proteste ausgelöst. Die Argumente sind auf beiden Seiten verlogen. Dem Westen geht es nicht um Demokratie, sondern um den Zugang zu den Reichtümern Russlands, die unter Jelzin zu Spottpreisen verschleudert wurden. Und Putins Vorgehen richtet sich nicht gegen die raubgierigen Oligarchen als solche, deren Reichtum er verteidigt und schützt, sondern lediglich gegen den Ausverkauf strategischer Ressourcen an ausländische Interessenten. Chodorkowski stand kurz davor, große Teile seines Unternehmens an amerikanische Ölkonzerne zu verkaufen, als der Staat zuschlug.

Zu heftigen Spannungen haben auch die vom Westen gesponserten farbigen "Revolutionen" in Georgien und der Ukraine sowie das Vordringen der USA in den zentralasiatischen Raum im Rahmen des Afghanistan-Kriegs geführt. Dort hat Russland inzwischen wieder Boden gut gemacht, indem es die wichtigsten Gasproduzenten durch langfristige Abnahmeverträge an sich band. Gazprom leitet dieses Gas auf den Weltmarkt weiter. Außerdem hat es Kirgisien, Kasachstan und Usbekistan in ein neues Bündnis mit China eingebunden, die Schanghai-Organisation für Zusammenarbeit (SCO), zu deren letztem Treffen auch Iran und Pakistan eingeladen wurden.

Als Russland Ende letzten Jahres den Gaspreis für die Ukraine auf Weltmarktniveau anhob und dem Land kurzfristig den Gashahn abdrehte, schrillten in den westlichen Staatskanzleien endgültig die Alarmglocken. Der Schritt, der nur geringe Auswirkungen auf die Gaslieferungen nach Europa hatte, wurde allgemein dahingehend interpretiert, dass es Russland mit dem Einsatz von Öl und Gas als politisches Druckmittel ernst meint. Eine zu hohe Abhängigkeit von russischen Lieferungen gilt seither als schwerer geostrategischer Nachteil.

Ebenso alarmierend wirkte Putins überraschende Ankündigung, eine Gaspipeline von den westsibirischen Feldern nach China zu bauen, die er anlässlich eines Peking-Besuchs im März dieses Jahres machte. Bisher war man davon ausgegangen, dass die westsibirischen Felder für den russischen und europäischen Verbrauch bestimmt seien und für Lieferungen nach China neue Felder in Ostsibirien erschlossen würden. Sollte die Gaspipeline nach Westsibirien verwirklicht werden, stünden China und Europa als konkurrierende Abnehmer da, was Russlands Stellung als Anbieter wesentlich stärken würde.

Seit Gazprom die Gaslieferungen in die Ukraine unterbrach, haben sich die Beziehungen der USA und Europas zu Russland deutlich abgekühlt. Die propagandistischen Trommelwirbel gegen Putins autoritäres Regime sind lauter und schriller geworden. Putin seinerseits hat zu einer Gegenkampagne angesetzt. Er nahm an einer staatlich gesponserten Konferenz von NGOs in Moskau teil und ließ sich dort sogar Kritik gefallen, stellte sich den Fragen einer internationalen Online-Konferenz und organisierte einen dreitägigen Gipfel von religiösen Vertretern aus 49 Ländern gegen "Extremismus".

Zum G8-Gipfel hat er ein Angebot zur "globalen Energiesicherheit" vorgelegt. Es soll laut Putin "sicherstellen, dass die Weltbevölkerung und die Weltwirtschaft zu erschwinglichen Preisen und mit minimalen Umweltschäden Zugang zu Energieressourcen haben". "Die Herausbildung eines günstigen Investitionsklimas und von festen, durchsichtigen Regeln auf dem globalen Energiesektor spielen bei der Energiesicherheit eine wichtige Rolle," fügte er hinzu.

Die Abnehmerländer betrachten Putins Angebot allerdings als Danaergeschenk. Es soll ihrer Meinung nach sicherstellen, dass Russland als Schiedsrichter auf dem globalen Energiemarkt zu einem entscheidenden Machtfaktor wird.

Der amerikanische Council on Foreign Relations, ein halboffizieller außenpolitischer Think Tank, fasste die gegensätzlichen Interessen folgendermaßen zusammen: "Langfristiges Ziel der USA ist die Minderung ihrer Abhängigkeit vom Nahen Osten. Die Europäer verfolgen das Ziel, zu diversifizieren und ihre Abhängigkeit von russischen Energieimporten zu mindern. Russland hat eine ganz andere Auffassung von Energiesicherheit. Russland will sicherstellen, dass es eine anhaltende Nachfrage nach seinem Öl und Gas gibt. Russland will seine Stellung auf dem Weltenergiemarkt auch als Mittel nutzen, um Großmacht zu sein. Dazu muss es bereit sein, seinen Einfluss politisch zu nutzen."

Iran

Es ist durchaus möglich, dass es in St. Petersburg zu einer Art Geschäft auf Gegenseitigkeit kommt. Washington hat zwar den Druck auf Moskau vor dem Gipfel systematisch erhöht. So lud Präsident Bush den georgischen Staatschef Micheil Saakaschwili zehn Tage vor dem Gipfel demonstrativ ins Weiße Haus ein. Doch Washington ist auch daran interessiert, russische Unterstützung für ein härteres Vorgehen gegen den Iran zu gewinnen.

Angesichts des militärischen Debakels im Irak geht Washington immer offener dazu über, den Konflikt auf die Nachbarländer auszudehnen, um auch dort einen Regimewechsel in seinem Sinne herbeizuführen. Israel zerschlägt mit amerikanischem Einverständnis die Hamas-geführte Palästinenserbehörde und bedroht Syrien, während die USA mit europäischer Unterstützung den Druck auf den Iran erhöhen.

Für Russland steht im Iran viel auf dem Spiel. Die beiden Länder unterhalten enge wirtschaftliche Beziehungen. Iran ist nach Indien und China der weltweit drittgrößte Abnehmer russischer Waffen und importiert von dort auch große Teile seiner Kraft- und Atomkraftwerke. Vor allem aber ist Teheran ein wichtiger strategischer Partner im Bemühen, die USA und die Nato aus dem kaspischen Raum herauszuhalten. Hinzu kommt, dass sich das Mullah-Regime bisher im Interesse guter gegenseitiger Beziehungen bei der Unterstützung islamistischer Kräfte in Russland und der Kritik an Moskaus Tschetschenienpolitik auffallend zurückgehalten hat.

Moskaus Bündnis mit Teheran hat allerdings Grenzen. Moskau ist nicht daran interessiert, dass der Iran zu einer starken Regionalmacht wird oder gar Atomwaffen erwirbt. Dies würde unweigerlich eigene Interessen in der Region berühren. Das Land ist zudem äußerst instabil. Sowohl eine weitere Radikalisierung des gegenwärtigen islamischen Regimes als auch ein Umsturz zugunsten eines westlicher orientierten Regimes scheint möglich.

Seit Teheran im Februar 2003 öffentlich erklärte, es strebe die Entwicklung eines vollständigen atomaren Brennstoffkreislaufes an, und im Januar dieses Jahres die Forschung zur Uran-Anreicherung wieder aufnahm, hat sich die Beziehung zwischen den beiden Ländern merklich abgekühlt.

Russland hat inzwischen einen eigenen Vorschlag vorgelegt, um die umstrittene Atomfrage zu lösen. Er würde es Teheran erlauben, im Rahmen eines iranisch-russischen Gemeinschaftsunternehmens Uran anzureichern, teilweise allerdings auf russischem Boden. Sollte Teheran diesen Vorschlag ablehnen, ist es gut möglich, dass Russland im UN-Sicherheitsrat Sanktionen gegen den Iran zustimmt.

Mit Sicherheit wird Moskau diese Frage als Faustpfand beim geopolitischen Kräftemessen in St. Petersburg einsetzen.

So meldete die Presse am Montag, Washington sei bereit, ein umfassendes Abkommen über zivile Nukleartechnik mit Moskau zu schließen, falls es sich Sanktionen gegen den Iran nicht länger widersetze. Dieses Abkommen würde es Moskau ermöglichen, in großem Umfang internationalen Nuklearmüll in Sibirien zu entsorgen - ein lukratives Geschäft, das bis zu 20 Milliarden Dollar im Jahr einbringt. Bisher kontrollieren die USA aufgrund internationaler Abkommen über die Weitergabe ausgedienter Brennstäbe rund 95 Prozent des potenziellen Marktes für Atommüll.

Auch andere Vereinbarungen wären möglich. So blockiert Washington seit Jahren die angestrebte russische Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation WTO.

Doch unabhängig davon, welche Vereinbarungen in St. Petersburg letztlich ausgemauschelt werden, können sie die zugrundeliegenden geostrategischen und energiepolitischen Konflikte bestenfalls vorübergehend dämpfen, nicht aber lösen. Hinzu kommt, dass einige der wichtigsten Wirtschaftsmächte und Energieverbraucher - China, Indien, Brasilien, Mexiko, Südafrika - in der G8 nicht vertreten und bestenfalls als Gäste eingeladen sind.

Letztlich haben die enormen Spannungen, die im Vorfeld des Petersburger Gipfels sichtbar geworden sind, ihre Ursache in der Unvereinbarkeit der globalen Wirtschaft mit dem Nationalstaatensystem, auf dem der Kapitalismus beruht. Wie in der Periode vor dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, entladen sich diese Spannungen in immer gewaltsameren Konflikten, die schließlich in einen Weltkrieg münden, wenn die arbeitenden Bevölkerung den Kapitalismus nicht beseitigt und die Gesellschaft auf sozialistischer Grundlage weltweit neu organisiert.

Siehe auch:
Starke Spannungen beherrschen G8-Gipfel 2005
(9. Juli 2005)
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