Großmächte tragen Mitverantwortung für israelische Kriegsverbrechen

Die israelischen Taten im Gazastreifen und Westjordanland stellen Kriegsverbrechen dar.

Kaum noch jemand glaubt, dass es Tel Aviv ernsthaft um die Freilassung des Obergefreiten Gilad Schalit geht. Vielmehr führt Israel, wie Ministerpräsident Ehud Olmert gestern erklärte, einen "langen Krieg", um die verbliebene politische Infrastruktur der Palästinenserbehörde zu zerstören und einen Regimewechsel einzuleiten.

Einen solchen Angriffskrieg zu führen, stellt ein "Verbrechen gegen den Frieden" dar. Diese Definition ergibt sich aus den Nürnberger Prinzipien, die während des Prozesses gegen führende deutsche Nazis nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelt wurden, um den Begriff des Kriegsverbrechens konkret zu fassen. Sie fand nachfolgend Eingang in die Charta der Vereinten Nationen (UN). Das Verbrechen wird noch größer durch den ungleichen Charakter des derzeitigen Konflikts, in dem Israel über eine überwältigende militärische Überlegenheit verfügt.

Israel hat führende palästinensische Parlamentarier verhaftet und eingesperrt. Die Büros des palästinensischen Ministerpräsidenten Ismail Hanija wurden bombardiert, und den politischen Führer der Hamas Khaled Meschaal und andere, die im syrischen Exil in Damaskus leben, mit dem Tode bedroht.

In Hinblick auf die Verhaftung von nicht weniger als einem Drittel der palästinensischen Regierungsmitglieder und Dutzenden Hamas-Vertretern erklärte der israelische Verteidigungsminister und Vorsitzende der Arbeitspartei Amir Peretz: "Der Maskenball ist vorbei. [...] Die Anzüge und Krawatten werden nicht länger als Tarnung für die Beteilung an Entführungen und die Unterstützung von Terror dienen."

Die israelische Politik des Regimewechsels endet nicht in Palästina. Auch Syrien befindet sich im Visier. Im Rahmen einer bewussten Provokation flogen vier israelische Kampfflugzeuge über den Sommerpalast des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, während sich dieser im Gebäude befand. Olmert hat angekündigt, der Schlüssel zur Lösung der Krise liege in Syrien, und Damaskus vorgeworfen, hinter den jüngsten Angriffen auf Israel zu stecken. Der stellvertretende israelische Ministerpräsident Schimon Peres besteht darauf, Assad müsse den von Israel so bezeichneten "Terrorapparat" ausweisen, der von Syrien aus operiere.

Tel Aviv will die Palästinenser ins blanke Elend stürzen, um jeden Willen zum Widerstand gegen die israelischen Diktate zu brechen. Diesem Zweck dient der Einfall in den Gazastreifen und die damit verbundenen Kollektivstrafen - ebenfalls eine Praxis, die an die Praktiken von SS und Wehrmacht erinnert, nach den Genfer Konventionen ausdrücklich ein Kriegsverbrechen darstellt und geächtet ist.

Israel begann die derzeitige Offensive mit der Zerstörung des einzigen Elektrizitätswerks im Gazastreifen. Damit wurde beinahe die Hälfte der Bewohner bei sengender Hitze von jeglicher Stromversorgung abgeschnitten. Seitdem ist die zivile Infrastruktur in Schutt und Asche gelegt worden, darunter Brücken, Straßen, eine Universität und das Gebäude einer Wohltätigkeitsorganisation. Jede Nacht fliegen Kampfflugzeuge mit Überschall über Gaza-Stadt und andere größere Orte, und der dabei entstehende Knall lässt Fensterschreiben zu Bruch gehen. Olmert erklärte dazu: "Ich übernehme persönlich die Verantwortung für das, was in Gaza passiert. Ich will, dass niemand nachts in Gaza zum Schlafen kommt."

Diese Strafmaßnahmen richten sich gegen eine Bevölkerung, die bereits schrecklich unter der monatelangen Wirtschafts- und Militärblockade gelitten hat. Im Gazastreifen leben anderthalb Millionen Menschen, womit das Gebiet eine der am dichtesten besiedelten Gegenden auf der Erde ist. Die meisten von ihnen sind Flüchtlinge, die immer noch in einem der acht Lager unter UN-Verwaltung leben, in denen es selbst an der einfachsten Infrastruktur fehlt. Mit Rückendeckung der Großmächte hält Israel seit fünf Monaten die Grenzen des Gazastreifens geschlossen und verweigert jede Überweisung der Anteile an Zöllen und Steuern, die den Palästinensern zustehen. In Folge waren bereits Hunderttausende von Hunger betroffen, bevor die jetzigen Feindseligkeiten überhaupt begonnen hatten.

Israels politisches und militärisches Vorgehen ist derart unverhohlen, dass sich verschiedene Kommentartoren gezwungen sahen, den üblichen Medienbehauptungen zu widersprechen, es handle sich bei dem Angriff um einen Versuch, den gefangenen Soldaten zu befreien.

Der Leitkommentar der Financial Times vom 1. Juli erklärte: "Die neue israelische Regierung von Ehud Olmert sagt, dass der einzige Zweck in der Befreiung des Obergefreiten Gilad Schalit bestehe, der am vergangenen Sonntag bei einem Angriff von palästinensischen Kämpfern auf eine israelischen Militärposten entführt wurde. Doch die Unverhältnismäßigkeit von Mitteln und Zielen lässt darauf schließen, dass es sich hierbei um einen Vorwand handeln könnte. ... [Olmert] wurde aufgrund seines Versprechens gewählt, einseitig neue Grenzen eines erweiterten israelischen Staates festzulegen, indem große Teile der Besetzten Gebiete annektiert werden, auf denen die Palästinenser gehofft hatten ihren unabhängigen Staat aufzubauen. Die israelische Regierung kann mit diesem Landraub nur davonkommen, wenn sie glaubhaft macht, dass sie keinen palästinensischen Verhandlungspartner hat und daher im Interesse der eigenen Sicherheit handeln muss."

Im Observer schrieb Will Hutton: "Die finstere Interpretation der israelischen Reaktion in Gaza lautet, dass man keinen politisch lebensfähigen Verhandlungspartner in Palästina haben will. Es passt Israel ins Konzept, die Hamas als terroristische Fundamentalisten zu charakterisieren, die als Gesprächspartner vollkommen indiskutabel sind. So kann Israel mit seinen einseitig durchgesetzten Siedlungen, dem Mauerbau und Landraub fortfahren und im Gegenzug die Flammen des palästinensischen Extremismus anfachen."

Und Shimon Schiffer bemerkte in der israelischen Tageszeitung Yediot Aharonot : "Wir sehen hier keinen Versuch, den Obergefreiten Schalit zu retten und sicher zu seiner Familie zurück zu bringen, und auch keinen Versuch, den Abschuss von Kassam-Raketen zu verhindern, sondern einen Schritt, um die Hamas-Regierung zu zerstören."

Protokollnotizen über Verhandlungen, die Palästinenserpräsident Mahmud Abbas in der vergangenen Woche mit den Fraktionsführern von Hamas, Islamischer Dschihad, Volksfront und Demokratische Front führte, bestätigen ebenfalls, dass der Angriff auf den Gazastreifen dazu diente, eine Einigung unter den islamischen Gruppen zur Anerkennung Israels zu verhindern.

Laut den Notizen, die von der israelischen Zeitung Ha'aretz veröffentlicht wurden, beschrieb Abbas den Friedensplan der "Road Map", der von den Vereinigten Staaten, Europa, Russland und den Vereinten Nationen entwickelt wurde, als "einen Lebensretter". Niemand "außer den Amerikanern" könne die Israelis unter Druck setzten und kein anderer Kurs sei möglich, betonte er. Er ergänzte, die Einrichtungen der Palästinenserbehörde im Gazastreifen seien "zu 75 Prozent zerstört, während sie im Westjordanland zu 100 Prozent zerstört sind".

Diese Perspektive übernahmen Hamas und Islamischer Dschihad an dem Tag, an dem Israel im Gazastreifen einfiel. Es war die verzweifelte Hoffnung eines Regimes am Rande des Zusammenbruchs, dass ein Einschmeicheln bei Bush die Vereinigten Staaten überzeugen könnte, ihren regionalen Statthalter zur Ordnung zu rufen. Aber Tel Aviv wollte keine Kapitulation von Seiten der Hamas, denn dies hätte Israel des Vorwands beraubt, weiter gegen die Palästinenserbehörde vorzugehen. Israel bombardierte den Gazastreifen, um einen Vergeltungsschlag zu provozieren, der den Vorwand für eine umfassende Invasion liefern würde - und erhielt ihn durch den Überfall eines palästinensischen Kommandos auf die Grenzstation und die Gefangennahme des Obergefreiten Schalit.

Diese Tatsachen sind den herrschenden Kreisen weltweit bestens bekannt. Darüber hinaus führt Israel seine Angriffe gegen eine Regierung, die im Januar von der Bevölkerung in einem Verfahren demokratisch gewählt wurde, das vom Nahost-Quartett bestehend aus Vereinigten Staaten, Europäischer Union, Russland und Vereinten Nationen unterstützt worden war. Trotz alledem und nach einer einwöchigen Offensive, die in einem Blutvergießen zu enden droht, hat keine westliche Regierung mehr als ein paar oberflächliche Appelle zur Zurückhaltung an Israel gerichtet.

Dies ist in erster Linie so, weil die Offensive im Gazastreifen die voll Rückendeckung Washingtons genießt.

Auf einer außerordentlichen Sitzung des UN-Sicherheitsrats am 30. Juni verhinderten die Vereinigten Staaten die Verabschiedung einer Resolution, in der Israel kritisiert wurde. Der amerikanische UN-Beauftragte John Bolton sagte, der Sicherheitsrat solle "vermeiden, irgendwelche Schritte zu unternehmen, die die Spannungen in der Region anheizen könnten", und betonte, Schalits Freilassung sei der "beste Weg, um die unmittelbare Krise zu beenden". Er benutzte das Treffen als Gelegenheit, um Washingtons Ausfälle gegen Syrien und den Iran zu steigern und forderte, die beiden Länder sollten "ihre Rolle als staatliche Unterstützer des Terrorismus beenden und die Taten der Hamas, eingeschlossen diese Entführung, unmissverständlich verurteilen".

Die Bush-Regierung spielte ursprünglich mit der Möglichkeit einer Verhandlungslösung, wobei sie einen palästinensischen Staat in Teilen der Besetzten Gebiete hingenommen hätte, um die arabischen Verbündeten Amerikas ruhig zu stellen und deren Unterstützung für die Besetzung des Iraks angesichts der wachsenden Opposition in diesen Ländern leichter zu machen. Doch im vergangenen Frühjahr konnte der damalige israelische Ministerpräsident Ariel Scharon Bushs Unterstützung für seinen Plan gewinnen, einseitig die israelischen Grenzen festzulegen. Scharons Nachfolger Olmert weiß, dass er in Hinblick auf den Gazastreifen und das Westjordanland über eine Blankovollmacht verfügt und die Vereinigten Staaten auch das Schüren von Spannungen mit Damaskus begrüßen.

Die europäischen Mächte sind besorgt, dass die israelischen Handlungen den Mittleren und Nahen Osten vollends destabilisieren könnten. Dennoch sind sie nicht bereit, sich auf eine direkte Konfrontation mit Washington einzulassen, um dies zu verhindern.

Das Schweigen aller Großmächte der Welt demonstriert, in welchem Ausmaß die Grundregeln des Völkerrechts zur Bedeutungslosigkeit verkommen sind, seitdem die Vereinigten Staaten ihren Krieg gegen den Irak begonnen haben.

Alles, was Israel jetzt im Gazastreifen macht, wurde von den Vereinigten Staaten und ihrem wichtigsten Verbündeten Großbritannien auch schon im Irak begangen. Auch dort basierte die Kriegserklärung auf einem konstruierten Vorwand. Und Washington hatte sogar noch weniger Skrupel, unter offener Verletzung des Völkerrechts den Regimewechsel zum Kriegsziel zu erklären. Die kollektive Bestrafung der irakischen Bevölkerung, die es wagte, sich gegen die Besetzung des Landes zu wehren, war ebenso brutal und obszön wie im Fall der Palästinenser. Das hat der mörderische US-Angriff auf Falludscha gezeigt.

In dieser Hinsicht schlug die Bush-Regierung eine Bresche, die nun von allen imperialistischen Ländern genutzt wird.

Die Europäische Union hatte versuchte, in der Irakfrage eine gewisse Distanz zu den Vereinigten Staaten zu wahren und die Achtung des Völkerrechts und der multilateralen Institutionen verlangt. Doch abgesehen von einer direkten militärischen Beteiligung nutzten die europäischen Mächte jede Möglichkeit, um den Angriff auf Bagdad zu erleichtern, und unterstützten nachfolgend die amerikanische Besetzung des Iraks.

Nur wenige Monate nach dem Krieg sanktionierte der UN-Sicherheitsrat die Invasion und übertrug den Besatzungsmächten die unbegrenzte Kontrolle über den Ölreichtum des Landes. Das einmütige Votum rechtfertigte effektiv nicht nur die koloniale Unterjochung des Iraks, sondern auch zukünftige Angriffskriege.

Vor dem Irakkrieg konzentrierte sich die Kritik der europäischen Mächte an den Vereinigten Staaten auf Washingtons Doktrin des "präventiven" oder "präemptiven" Kriegs. Doch der spätere Entwurf für eine europäische Verfassung - der nur wegen der massiven "Nein"-Stimmen bei den Referenden in Frankreich und den Niederlanden durchfiel - erhob den Präventivkrieg zur Militärdoktrin der Europäischen Union.

Dieser Abstieg in die Illegalität zeigt sich auch im Nachgeben der europäischen Mächte angesichts der Misshandlungen in Guantánamo und Abu Ghraib, sowie in der Zusammenarbeit mit der CIA bei der Überstellung von Gefangenen. All die Maßnahmen gegen demokratische Rechte, die die Vereinigten Staaten im so genannten "Kampf gegen den Terror" eingeleitet haben, wurden von den anderen Großmächten übernommen - willkürliche Inhaftierung, staatliche Überwachung und Kriminalisierung von politisch abweichenden Meinungen.

Die Tragödie, die die Palästinenser heimgesucht hat, ist vielleicht das deutlichste Beispiel für das Einverständnis zwischen den Vereinigten Staaten und den europäischen Regierungen.

Amerika finanziert die israelische Kriegsmaschine, während sich Europa zur Finanzierung der Palästinenserbehörde bereit erklärt - vorausgesetzt, sie gibt jeden Widerstand gegen die Besetzung auf. Das ist der wesentliche Inhalt der "Road Map", auf die sich das Nahost-Quartett geeinigt hat. Als Tel Aviv die Wahl der Hamas an die Spitze der Palästinenserbehörde benutzte, um eine Wirtschaftsblockade zu verhängen, wurde dies sowohl von Washington als auch von Brüssel unterstützt.

Man kann sich der israelischen Offensive im Gazastreifen nicht widersetzen, indem man an die "internationale Gemeinschaft" appelliert, wie es nun die Palästinenserbehörde tut. Mächte, die selbst die Rückkehr zu kolonialen Eroberungskriegen und die Installation von Marionettenregimes legitimieren wollen, können nicht laut protestieren, wenn Israel ähnliche Verbrechen begeht. Notwenig ist vielmehr die politische Mobilisierung von Arbeitern, jungen Menschen und Intellektuellen auf der Basis eines sozialistischen und internationalistischen Programms, das die Opposition gegen den Zionismus in den Rahmen einer größeren Perspektive zur Befreiung des Nahen und Mittleren Ostens von imperialistischer Herrschaft stellt.

Siehe auch:
Israelischer Angriff auf Gaza kann zum Flächenbrand werden
(4. Juli 2006)
Die politischen Kalkulationen hinter Israels Einmarsch im Gazastreifen
( 1. Juli 2006)
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