USA: Der Zustand der Demokratie 230 Jahre nach der Revolution

Am diesjährigen 4. Juli jährt sich zum 230. Mal die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten, die als Dokument einer gegen Kolonialismus und Despotismus gerichteten Revolution die Menschen auf der ganzen Welt beflügelte. Die Gründung einer neuen Nation, die sich im Sinne der Aufklärung zu Demokratie, Gleichheit und Recht bekannte und die 13 Jahre später beginnende französische Revolution vorwegnahm, fand noch Generationen später internationalen Widerhall.

Das Dokument, das 1776 unterzeichnet wurde, wirkte enorm befreiend. Es proklamiert das Recht des Volkes in Amerika und auf der ganzen Welt, Regierungen mit revolutionären Mitteln zu Fall zu bringen, wenn diese die "unveräußerlichen Rechte" des Volks mit Füßen treten.

Die Führer des Aufstands gegen den britischen Monarchen waren sich über die internationalen Auswirkungen ihres Tuns und die welthistorische Bedeutung der Erklärung bewusst. So schrieb Thomas Jefferson an John Adams, die beide aufgrund eines historischen Zufalls am 50. Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung starben: "Die Flammen, die am 4. Juli 1776 entzündet wurden, sind auf derart große Teile des Globus übergesprungen, dass sie durch die kraftlosen Maschinen des Despotismus nicht mehr ausgelöscht werden können; sie werden diese Maschinen und alle, die sie bedienen, im Gegenteil verschlingen."

Die Unabhängigkeitserklärung war von den Idealen der Aufklärung und deren Verachtung für Ausbeutung und Ungleichheit durchdrungen. Natürlich sind sich Marxisten der Schranken bewusst, die der Verwirklichung dieser demokratischen Ideale unter den damaligen sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen im Wege standen. Im Amerika des 18. Jahrhunderts gab es kapitalistische Eigentumsverhältnisse und Sklaverei. Doch der demokratische Inhalt und die universelle Bedeutung der Eröffnungspassagen der Erklärung sind unbestreitbar:

"Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören; dass zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingesetzt werden, die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten; dass, wenn immer irgendeine Regierungsform sich als diesen Zielen abträglich erweist, es Recht des Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen und diese auf solchen Grundsätzen aufzubauen und ihre Gewalten in der Form zu organisieren, wie es ihm zur Gewährleistung seiner Sicherheit und seines Glückes geboten zu sein scheint."

Kann jemand guten Gewissens behaupten, dass heute ein Dokument, das eine solche Sprache spricht, die Zustimmung auch nur einer Kammer des US-Kongresses finden würde, ohne nicht unverzüglich ein Veto des aktuellen Amtsinhabers im Weißen Hauses hervorzurufen? Das gesamte politische Programm und Handeln der heutigen amerikanischen Regierung ist ihrem Sinn und Inhalt nach, im Inland wie im Ausland, eine vollumfängliche Zurückweisung der Ideale und Prinzipien von 1776.

Ein großer Teil der Unabhängigkeitserklärung richtet sich gegen König George III. Diese Passagen könnten heute mit Leichtigkeit und ohne große Änderungen gegen die Kriegsverbrechen der republikanischen Regierung und ihrer demokratischen Komplizen gerichtet werden. Oder sie könnten zur politischen Rechtfertigung des Vorgehens der Iraker herangezogen werden, die sich gegen die US-Besatzung ihres Landes auflehnen.

Der alte britische König wurde unter anderem beschuldigt, "das Militär von der Zivilgewalt unabhängig zu machen und es ihr überzuordnen" , ein Vergehen, das zum Markenzeichen der Regierung in Washington geworden ist. Diese maßt sich beispiellose Vollmachten an und rechtfertigt diese unter Berufung auf den Status des Präsidenten als "Oberbefehlshaber".

Die Erklärung beschuldigt den britischen Monarchen, "starke Kontingente bewaffneter Truppen bei uns zu stationieren" und "diese durch ein Scheingerichtsverfahren vor jeglicher Bestrafung für etwaige Morde zu bewahren, die sie an Einwohnern dieser Staaten verüben".

Und weiter: "Er hat unsere Meere geplündert, unsere Küsten verheert, unsere Städte niedergebrannt und unsere Bürger getötet. Er schafft gerade jetzt große Heere fremder Söldner heran, um das Werk des Todes, der Verheerung und der Tyrannei zu vollenden, das er bereits mit Grausamkeit und Treuebrüchen begonnen hat, die ihresgleichen kaum in den barbarischsten Zeiten finden und des Oberhaupts einer zivilisierten Nation völlig unwürdig sind."

Jedes einzelne Wort - "Plünderung", "Tod", "Verheerung", "Tyrannei", "Grausamkeit", "Treuebruch" - ist auch heute und mit noch größerer Berechtigung auf Washingtons brutale Eroberung und Besetzung des Irak anwendbar.

230 Jahre nach der Revolution gegen den britischen Kolonialismus, aus der die Vereinigten Staaten hervorgingen, führt deren Regierung einen Kolonialkrieg mit dem Ziel, das Volk des Irak zu unterjochen und sich den Ölreichtum dieses Landes anzueignen.

König George konnte zu seiner Verteidigung wenigstens das Argument ins Feld führen, dass er um die Erhaltung eines bestehenden Imperiums kämpfe und seine Herrschaft über Länder und Untertanen verteidige, die seit langer Zeit anerkanntermaßen als britisch galten.

Das koloniale US-Abenteuer im Irak dagegen ist ein unprovozierter Aggressionskrieg, der auf der Grundlage von Lügen über nicht-existente Massenvernichtungswaffen und terroristische Verbindungen vom Zaun gebrochen wurde. Er bringt zwangsläufig alle Schrecken und Verbrechen einer solchen Intervention mit sich. Die Soldaten, auf der Grundlage solcher Lügen zum Töten und zum Sterben geschickt, werden zunehmend brutalisiert, was eine Kettenreaktion von weiteren Kriegsverbrechen auslöst. Das kriminelle Unterfangen ist zu einer politischen und moralischen Katastrophe ausgewachsen, die kein Flügel des politischen Establishments eindämmen kann oder will.

Weiter beschuldigte die Unabhängigkeitserklärung den britischen Monarchen damals, "uns in vielen Fällen des Rechtes auf ein ordentliches Verfahren vor einem Geschworenengericht zu berauben" und "uns zur Aburteilung wegen angeblicher Vergehen nach Übersee zu verschleppen".

Auch hier haben die Vorwürfe gegen König George wieder einen schaurig aktuellen Beiklang. Die US-Regierung maßt sich das Recht an, Personen zu "feindlichen Kombattanten" zu erklären und ohne Gerichtsprozess einzusperren, sowie angebliche Terrorismusverdächtige routinemäßig im Rahmen "außerordentlicher Überstellungen" in alle Welt zu verschleppen, wo sie nicht vor Gericht gestellt, sondern gefoltert werden.

In einem prägnanten Kolumne der New York Times hat am letzten Montag Edwin G. Burrows, Geschichtsprofessor am Brooklyn College, die Aufmerksamkeit auf das Schicksal von amerikanischen Kolonialisten gelenkt, die während der Revolution von den Briten in New York City eingesperrt wurden. Er schätzt, dass 12.000 oder mehr infolge der miserablen Bedingungen ihrer Gefangenschaft gestorben sind, da sie in provisorischen Gefängnissen in öffentlichen und privaten Gebäuden sowie auf Schiffswracks im New Yorker Hafen ohne ausreichende Ernährung oder sanitäre Anlagen eingesperrt waren.

Er weist darauf hin, dass die brutale Behandlung amerikanischer Aufständischer von der britischen Monarchie damit gerechtfertigt wurde, dass sie "nicht Soldaten, sondern ‘Rebellen’ seien, denn wenn man sie als Kriegsgefangene anerkannt hätte, wäre dies auf eine Anerkennung der amerikanischen Unabhängigkeit hinausgelaufen".

Das tragische Los der amerikanischen Gefangenen, bemerkt er, führte zum ersten Vertrag über die humane Behandlung von Kriegsgefangenen, der 1785 zwischen den gerade unabhängig gewordenen Vereinigten Staaten und Preußen abgeschlossen wurde. Dieses Dokument wurde zum Vorläufer der Genfer Konventionen.

Professor Burrows schließt mit der Bemerkung, dass selbst wenn ein solcher Vertrag schon früher existiert hätte, dies die gefangenen Amerikaner vielleicht nicht hätte retten können. "Großbritannien war damals die Supermacht der Welt, so wie heute die Vereinigten Staaten, und wenn King George nicht wünschte, die gefangenen ‚Rebellen’ menschlich zu behandeln, standen ihm bestenfalls Grundsätze und sein Gewissen im Wege."

Offenbar hielt es der Historiker für überflüssig, die Schlussfolgerungen aus seinen Bemerkungen auszusprechen, schließlich sind die Parallelen zu George W. Bushs Umgang mit dem Begriff "feindliche Kombattanten" unübersehbar. Mit Hilfe dieses Begriffs werden die Genfer Konventionen ausgehebelt, den Gefangenen in Washingtons "globalem Krieg gegen den Terror" die elementarsten Rechte verweigert, die ihnen nach dem Völkerrecht zustehen, und ihre Folterung gerechtfertigt.

Die revolutionären Gründer der Nation verankerten auch das "unveräußerliche Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück" in der Bill of Rights, garantierten die Rede-, Religions-, Presse- und Versammlungsfreiheit sowie die Freiheit, nicht ohne Prozess inhaftiert, willkürlich durchsucht oder festgenommen zu werden.

Die Gangster, die heute die Regierung kontrollieren, versuchen, all diese jahrhundertealten demokratischen Rechte wieder abzuschaffen. In einer massiven, illegalen Operation und in Missachtung des vierten Verfassungszusatzartikels spionieren sie praktisch die ganze amerikanische Bevölkerung aus.

Als die Medien begannen, einige dieser Verbrechen aufzudecken, reagierte die Regierung mit offener Einschüchterung. Die prominentesten Anhänger der Republikaner im Kongress beschuldigten einzelne Zeitungen des "Verrats" und forderten ihre Strafverfolgung. Sie begründen dies mit dem unheilvollen Argument, dass im "globalen Krieg gegen den Terror" die Pressefreiheit wie so viele andere seit 1776 bestehende demokratische Grundrechte nicht mehr anwendbar sei.

Ohne nennenswerten Widerstand aus dem politischen Establishment wird hier eine präsidiale Diktatur errichtet, die das sorgfältig austarierte System, das die Gründer der amerikanischen Republik in der Verfassung verankert hatten, über den Haufen wirft und dem grundlegenden Prinzip der Unabhängigkeitserklärung direkt zuwiderläuft, wonach die Regierung "ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten" muss.

Der Angriff der Exekutive auf die demokratischen Grundrechte wird durch die grotesken Bemühungen des Kongresses ergänzt, die US-Verfassung durch reaktionäre und undemokratische Maßnahmen zu ergänzen, die vom Verbot der gleichgeschlechtlichen Ehe bis hin zur Kriminalisierung des Fahnenverbrennens reichen.

Im Bemühen, an die rückständigsten Stimmungen zu appellieren, führt die republikanische Rechte einen Rundumschlag gegen die säkularen Grundlagen der amerikanischen Revolution, die nicht nur die Freiheit der Religion, sondern auch von Religion garantiert. Darin besteht die Bedeutung der Trennung von Kirche und Staat, die im ersten Verfassungszusatz klar festgelegt ist. Es gibt zahlreiche Versuche, religiöse Bigotterie zum Gesetz zu erheben und die Entwicklung der Wissenschaft in jedem Bereich einzuschränken, von der globalen Erderwärmung über die Stammzellenforschung bis hin zur Behandlung von Krankheiten, die sexuell übertragen werden.

Nie war der Widerspruch zwischen den demokratischen Idealen der Revolution und der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Realität der amerikanischen Gesellschaft schärfer als heute.

Der Grund für die tiefe Kluft zwischen Ideal und Realität ist die beispiellose soziale Polarisierung zwischen einer schmalen Schicht der Finanz- und Konzernelite und der amerikanischen Arbeiterklasse - der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung. Die erstere kontrolliert sowohl die großen Parteien als auch alle Regierungsinstitutionen, während die letztere praktisch politisch entmündigt ist.

Die herrschende Elite der Milliardäre und Multimillionäre benutzt ihren Einfluss auf die Regierung, um alle politischen Maßnahmen zu verhindern, die durch Armutsbekämpfung, Gesundheitsvorsorge, Erziehung usw. zur Linderung des sozialen Elends und der Ungleichheit beitragen könnten. Solche Maßnahmen werden als inakzeptable Hindernisse für die ungezügelte Anhäufung von individuellen Reichtümern abgelehnt. Stattdessen sagt man den Opfern der gesellschaftlich erzeugten Katastrophe, sie sollten sich an Wohltäter wie die Milliardäre Bill Gates und Warren Buffett wenden.

Es ist unmöglich, die demokratischen Prinzipien, die in Amerikas Gründungsdokument enthalten sind, mit der ständigen Vertiefung der sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit in Übereinstimmung zu bringen. Die soziale Polarisierung erzeugt derartige Spannungen, dass sie sich zwangsläufig in sozialen und politischen Kämpfen Ausdruck verschaffen müssen. An ihnen werden sich Massen arbeitender Menschen beteiligen, die eine Regierung, die nur für die Reichen da ist und durch sie kontrolliert wird, in wachsendem Maße ablehnen.

Der 4. Juli 2006 ist ein passender Tag, um sich daran zu erinnern, dass die Unabhängigkeitserklärung ausdrücklich das Recht des Volkes bestätigt, jede Regierung "zu ändern oder abzuschaffen", die seine "unveräußerlichen Rechte" verletzt, und sie durch ein neues System zu ersetzen, das "ihm zur Gewährleistung seiner Sicherheit und seines Glückes geboten zu sein scheint".

Die Socialist Equality Party blickt vertrauensvoll auf den Tag, an dem die arbeitenden Menschen Amerikas dieses universelle Recht wahrnehmen und sich gemeinsam mit Arbeitern auf der ganzen Welt in einer neuen Revolution erheben werden. Sie werden Krieg, Armut und Unterdrückung abschaffen und eine sozialistische Gesellschaft errichten, um die Bedürfnisse der Mehrheit zu befriedigen und nicht die Profitinteressen einer herrschenden Elite.

Siehe auch:
USA: Oberster Gerichtshof urteilt gegen Militärtribunale der Bush-Regierung
(5. Juli 2006)
Die Philantropie des Warren Buffet
( 1. Juli 2006)
Verfassungszusatz der Republikaner gegen Schwulen-Ehe - ein zynisches und reaktionäres Manöver
( 22. Juni 2006)
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