Erste Runde der Fußballweltmeisterschaft

Während Millionen feiern, setzt die deutsche Regierung ihr Programm durch

Seit Tagen bewegen sich Millionen Fußballfans in Deutschland und Hunderte Millionen auf der ganzen Welt im Wechselbad von Euphorie und Enttäuschung, je nachdem, wer gerade gewinnt oder verliert. Die Weltmeisterschaft, die in zwölf Städten Deutschlands stattfindet, hat zweifellos globale Ausmaße. In Berlin und andern großen Städten quellen Busse und Bahnen von buntem Volk über, und Straßen und Plätze sind in ein Farbenmeer getaucht. Fans aus jedem Winkel der Erde drapieren sich in die Hemden, Halstücher und Hüte ihrer Favoriten.

Die kleine Minderheit der Fußballbegeisterten, die eins der exorbitant teuren WM-Tickets ergattert haben, bilden auf den Tribünen Fanblocks zur Unterstützung ihrer Länderteams, aber außerhalb der Stadien sammeln sich die einfachen Fans zu Tausenden vor den Riesenleinwänden und bilden ein bunt gemischtes und fröhliches Publikum. Selbst die WM-Organisatoren haben sich überrascht gezeigt, dass so viele Fans es vorziehen, gemeinsam mit den andern vor den Großleinwänden der Städte zu feiern, als die Spiele allein in den eigenen vier Wänden zu verfolgen. So strömen in Berlin jeweils bis zu einer halben Million überwiegend junger Menschen in den Tiergarten hinter dem Brandenburger Tor, wenn es gilt, sich ein Spiel anzuschauen.

In den Läden sind die deutschen Fahnen (made in China) ausverkauft, aber die Fahnen aller 32 an der WM beteiligten Länder sind ebenfalls vorhanden. Die gesamte Fassade eines Hausblocks in Berlin-Kreuzberg ist mit großen Fahnen aller 32 Nationen bedeckt. Im gleichen Stadtviertel (in dem auch viele Türken wohnen) sieht man Wagen mit deutschen und türkischen Wimpeln. Die Zeitungen berichten über junge deutsche Fans, die an Tagen, an denen ihre eigene Mannschaft nicht spielt, schon mal ihr deutsches T-Shirt gegen ein brasilianisches einwechseln, wenn die Brasilianer spielen, und so bereitwillig die Mannschaft eines andern Landes unterstützen. Letztes Wochenende dankten die Spieler aus Ghana in Köln den deutschen Fans für ihre Unterstützung, als der afrikanische WM-Neuling die erfahrenen Tschechen 2:0 besiegten.

Die relative Leichtigkeit, mit der sich die Fans verschiedenster Nationalitäten zusammenfinden und gemeinsam feiern, zeigt einen objektiven Integrationsprozess, der nun auch das Fußballfeld erreicht hat. Bei ihrem Sieg über Polen hat sich die deutsche Mannschaft vergangene Woche auf zwei Spieler, Miroslav Klose und Lukas Podolski, gestützt, die in Polen geboren sind und heute die deutsche Staatsangehörigkeit haben. Die beiden sollen sich auf dem Spielfeld in ihrer Muttersprache unetrhalten. Das Siegestor für Deutschland wurde in letzter Minute von Oliver Neuville geschossen, der in der Schweiz geboren ist.

So gut wie alle Spieler des Matchs Trinidad & Tobago gegen England vergangene Woche spielen bei einem englischen Fußballclub. Die englischen Spieler (außer Leuten wie Beckham, der z.B. für Real Madrid kickt) kommen von britischen Erstliga-Clubs, während die meisten Spieler von Trinidad & Tobago für Clubs in der dritten und vierten Liga kicken.

Es ist bemerkenswert, dass Neonazi-Gruppen, die zu Rassismus und nationalistischen Übergriffen anstacheln wollten, auf beträchtliche öffentliche Opposition gestoßen sind. Die Fußball-WM ist keine Wiederholung der Berliner Olympiade von 1936.

Ein "Glücksfall" für die Große Koalition

Während Millionen einfacher Fußballfans aus Europa und der ganzen Welt die Weltmeisterschaft als willkommene Gelegenheit sehen, aus der alltäglichen Plackerei, dem Arbeitstrott oder der Arbeitslosigkeit auszubrechen und zu feiern, wittern die deutsche Regierung, die Unternehmer und Medienvertreter ihre Chance und nutzen bewusst die Feststimmung rund um die Turniere, um ihre (un-)sozialen politischen Projekte durchzusetzen.

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihre Große Koalition von CDU und SPD haben erkannt, dass die WM die ideale Gelegenheit zur Durchsetzung ihres Programms bietet, da die öffentliche Aufmerksamkeit maximal abgelenkt ist.

Offiziell wird nichts unversucht gelassen, um Nationalismus zu schüren. Merkel hat gefordert, dass mindestens ein Kabinettsmitglied bei jedem WM-Spiel zugegen sein soll, und alle Limousinen, die deutsche Politiker durch Berlin kutschieren, sind ostentativ schwarz-rot-golden beflaggt.

Obwohl es kein Geheimnis ist, dass Merkel sich wenig für Fußball interessiert, tauchte sie beim Duell Deutschland-Polen in der ersten Reihe der Ehrentribüne auf. In den luxuriösen VIP-Logen und abgeschirmten "Hospitality"-Bereichen setzen Regierungs- und Kabinettsmitglieder ihre Diskussionen mit den Vertretern der Geschäfts- und Bankenwelt fort.

Doch die Koalitionsregierung ist auch außerhalb der Stadien nicht faul. Zynisch nutzen die Vertreter der herrschenden Elite die Welle der öffentlichen Begeisterung, die dazu neigt, die politischen Abwehrmechanismen der Bevölkerung zu betäuben, um ihre eigenen Interessen mit großer Vehemenz durchzusetzen. So schreibt Der Spiegel in seiner aktuellen Ausgabe: "Für die Große Koalition ist die Weltmeisterschaft ein Glücksfall."

In der Eröffnungswoche der WM hat die Koalitionsregierung eine dreiprozentige Mehrwertsteuererhöhung durch beide Kammern des deutschen Parlaments gepeitscht. Die Erhöhung, die Anfang 2007 in Kraft tritt, stellt die größte einzelne Steuererhöhung der deutschen Nachkriegsgeschichte dar und wird vor allem Menschen mit Niedrigeinkommen und die Armen belasten. Auf der regulären Pressekonferenz des Bundestags, wo solche Entscheidungen normalerweise zur Sprache kommen und hinterfragt werden, fand sich nur eine Handvoll Journalisten ein; die Diskussion wurde schnell abgewürgt.

Bundespräsident Horst Köhler, der beim Spiel Deutschland gegen Polen neben Merkel saß, hat aus Anlass der Weltmeisterschaft seine Begeisterung über den angeblich "gesunden Patriotismus" (eine üble Formulierung!) in Deutschland ausgedrückt. Gleichzeitig forderte er die Merkel-Regierung auf, die Demontage des deutschen Sozialstaats verstärkt voranzutreiben und weitere wirtschaftsfreundliche Maßnahmen zu beschließen. Am Sonntag betonte Köhler im Deutschlandfunk, wie wichtig es sei, den deutschen Sozialstaat grundlegend zu reformieren. Man müsse "ein neues Verhältnis zwischen kollektiver Absicherung und Eigenverantwortung finden", sagte Köhler in Berlin, und wies darauf hin, dass das Grundgesetz nicht vorschreibe, wie sozialstaatliche Ausgleichsmaßnahmen zu definieren seien.

Köhlers Initiative wurde als Aufforderung an die Adresse der Regierung verstanden, ihre Maßnahmen stärker voranzutreiben. So soll die Gesundheits-"Reform" das bisherige System, das paritätisch von Unternehmern und Beschäftigten getragen wird, zugunsten privater Vorsorge herunterfahren und so die Gesundheitsleistungen verstärkt vom Einkommen abhängig machen. Köhlers Vorschläge wurden vom deutschen Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) sofort aufgegriffen. Dieser ließ außerdem wissen, die Regierung sei nicht bereit, Beiträge für Kinder aus Familien mit geringem Einkommen aus dem Bundeshaushalt zu bezahlen. Das Kabinett hat sich eine Frist bis Mitte Juli gesetzt, um die letzten Entscheidungen zur Gesundheitsreform zu treffen.

Köhler rief außerdem zu einer Reduzierung der Lohnnebenkosten auf - ein weiteres Lieblingsthema Steinbrücks, dessen eigene Pläne für eine weitere Reduzierung der Unternehmenssteuern am 25. Juni noch dem entsprechenden Koalitionsausschuss vorgelegt werden müssen.

Außerdem hat Präsident Köhler Änderungen der Harz-Reformen I bis IV für Arbeitslose gefordert. Seine Bemerkungen fallen in eine Zeit, in der die drakonischen Maßnahmen, die die vormalige SPD-Grünen-Regierung unter Gerhard Schröder eingeführt hat, immer stärker in die Kritik geraten. In Regierungs- und Unternehmenskreisen heißt es, die kümmerlichen Harz-IV-Leistungen seien immer noch zu hoch, um die Arbeitslosen zur Aufnahme jeder Art von Niedriglohnarbeit zu veranlassen, und begünstigten angeblich den Missbrauch.

Dem wachsenden Kesseltreiben gegen Arbeitslose ging vor kurzem die skandalöse Bemerkung des neuen SPD-Vorsitzenden Kurt Beck voraus, man müsse als Arbeitsloser "nicht alles rausholen, was geht". Während deutsche Unternehmen Rekordprofite einheimsen und ihre Manager beispiellose Summen kassieren, schlägt Beck vor, die Arbeitslosen sollten zweimal darüber nachdenken, bevor sie ihre fürstliche Beihilfe von 345 Euro pro Monat beantragen!

Wie vorauszusehen war, folgte auf Becks Bemerkungen letzte Woche der Ruf der CDU nach einem obligatorischen "Gemeinschaftsdienst" für Arbeitslose. Zuletzt hatten in Deutschland Hitlers Nationalsozialisten einen derartigen "Arbeitsdienst" praktiziert. Jetzt hat sich Köhler dem Chor derjenigen angeschlossen, die nach neuen Maßnahmen rufen, um den deutschen Sozialstaat weiter zu beschneiden und die Arbeitslosen unter Druck zu setzen.

Auch Deutschlands Wirtschaft betrachtet die Weltmeisterschaft als passende Gelegenheit, um Pläne für einen neuen, drakonischen Stellenabbau anzukündigen. Der leitende Direktor von Volkswagen, Horst Neumann, kündigte am Wochenende an, dass insgesamt 30.000 Arbeitsplätze bei VW bedroht seien. Bisher hatte der Konzern noch von 20.000 Stellen gesprochen, die zur Disposition stünden. Jetzt sind weitere Zehntausend Arbeitsplätze in Gefahr, und das Management droht auch mit der Möglichkeit, die Produktion des Golf aus der größten deutschen Fabrik in Wolfsburg abzuziehen und zu verlagern, falls die Arbeiter nicht bereit sind, sechs unbezahlte Stunden zusätzliche Arbeit pro Woche zu leisten.

Fernsehen und viele Zeitungen bringen pausenlose Berichte von der WM, Skandalgeschichten und Klatsch, während dem deutschen Publikum - Fußballfans ebenso wie Fußballmuffeln - eine gründliche Analyse der internationalen Ereignisse und der Arbeit der Regierung vorenthalten bleibt. Solche Nachrichten gehen praktisch in den Sportberichten unter - ein in den USA häufig beobachtetes, aber in Europa noch relativ neues Phänomen.

Die Koalitionsregierung hat noch weitere Beschlüsse gefasst, die in der Presse kaum Erwähnung fanden. Zum Beispiel will sie die Verlängerung der UN-Präsenz in Äthiopien und Eritrea mit deutschen Beobachtern unterstützen. Und nicht nur an der UN-Operation in diesen zwei afrikanischen Ländern beteiligt sich Deutschland, sondern es schickt im Rahmen einer EU-Mission auch Soldaten in den Kongo. Diese Auslandseinsätze, die als Wahrnehmung deutscher Verantwortung für internationale "friedenserhaltende Maßnahmen" und ähnliches hingestellt werden, zeigen in Wirklichkeit die wachsende Aggressivität des deutschen Imperialismus im Weltmaßstab.

Merkel und der deutsche Verteidigungsminister Franz-Josef Jung (CDU) haben ausdrücklich erklärt, es sei für Deutschland notwendig, seine Militäroperationen auszuweiten und stärker in den Dienst der nationalen Interessen zu stellen.

Eine letzte Bemerkung zur Weltmeisterschaft im Zusammenhang mit dem Wiedererwachen eines angeblichen "gesunden Nationalismus" in Deutschland: In vorderster Front der politischen Prominenz, die einen solchen Nationalismus ermutigt, stehen die Grünen. Der Inhalt eines solchen "gesunden Nationalismus" wurde zu Beginn der Fußball-WM deutlich, als sich die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth gemeinsam mit einem der rechtesten deutschen Politiker, dem bayrischen Innenminister und Law-and-Order-Mann Günther Beckstein, während des Eröffnungsspiels der iranischen Mannschaft an einer reaktionären Kundgebung gegen die Anwesenheit iranischer Vertreter beteiligte.

Während ein anderer prominenter Grüner, Joschka Fischer, vor kurzem für seine Dienste für den amerikanischen Staat mit einer Gastprofessur an der Princeton Universität belohnt wurde, hat seine Nachfolgerin keine Probleme, sich gemeinsam mit extrem rechten deutschen Politikern an einer Kampagne zu beteiligen, die jenen in die Hände spielt, die nach einer neuen imperialistischen Aggression im Nahen Osten rufen.

Siehe auch:
Fußball-WM 2006 - ein Milliardengeschäft
(23. Mai 2006)
Bundeswehr will 2.000 Soldaten bei der Fußball-WM einsetzen
( 10. Februar 2006)
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