Großbritannien

Blair will Menschenrechtsgesetz aufheben

Der Angriff der Blair-Regierung auf Bürgerrechte hat diese Woche einen neuen Hohepunkt erreicht. Die Regierung hat angekündigt, sie werde eine Reihe bestehender Gesetze, wie das Menschenrechtsgesetz von 1998, aufheben. Sie reagierte damit auf ein Urteil des Obersten Gerichts vom Anfang des Monats, das die Regierung des "Machtmissbrauchs" und der Unterhöhlung der Gesetzlichkeit schuldig sprach.

Der Spruch des High Courts bezog sich auf den Fall von neun Afghanen, die im Februar 2000 den verzweifelten Versuch unternommen hatten, dem Taliban-Regime zu entkommen, indem sie auf einem Inlandflug eine Boing 727 kaperten und die Crew zwangen, zum Flughafen Stanstead bei London zu fliegen.

Bei Entführung beträgt die Gefängnisstrafe bis zu neun Jahren, und in Großbritannien verurteilte Ausländer werden nach Verbüßung ihrer Strafe normalerweise in ihr Heimatland ausgewiesen. Andrerseits ist die Regierung aber nach internationalen Gesetzen verpflichtet, einen Asylantrag zu behandeln.

Als klar wurde, dass die Männer und ihre Familien das Flugzeug entführt hatten, um in Großbritannien Asyl zu beantragen, versuchte die Regierung, sie mit allen Mittel an der Wahrnehmung dieses Rechts zu hindern. Der damalige Innenminister Jack Straw sagte: "Ich bin fest entschlossen, niemandem den Eindruck zu vermitteln, dass sich Flugzeugentführungen lohnen... Ich möchte, dass alle Passagiere dieses Flugzeugs so bald wie irgendwie möglich aus diesem Land entfernt werden."

Nach einer intensiven Kampagne der rechten Medien wurden die neun Männer wegen Flugzeugentführung, Freiheitsberaubung, Waffenbesitz mit der Absicht, Gewalt anzudrohen, und dem Besitz von Sprengstoff verurteilt. Im Mai 2003 wurden die Urteile vom Berufungsgericht aufgehoben, weil nicht ausreichend berücksichtigt worden sei, ob die Entführer sich in einer Notlage befanden.

Im Juli 2004 befand ein unabhängiges Gremium, dass eine Abschiebung der Neun ihre Menschenrechte verletzen würde, weil ihr Leben immer noch in Gefahr sein könnte, obwohl zu der Zeit in Afghanistan nicht mehr die Taliban an der Macht waren.

Im November 2005 gewährte Straws Nachfolger im Amt des Innenministers, Charles Clarke, den Afghanen eine befristete Duldung in Großbritannien mit der Einschränkung, dass sie nicht arbeiten und nicht ins Ausland reisen dürften und sich regelmäßig bei den Behörden melden müssten. Der High Court unter Richter Sullivan hat nun am 10. Mai Clarks Entscheidung als ungesetzlich kassiert und die andauernden Bemühungen des Innenministeriums, die Neun trotz gegenteiliger Gerichtsentscheidungen abzuschieben, als "unentschuldbar" verurteilt.

In einer scharf formulierten Kritik, in der er noch einmal darlegte, wie die Regierung versucht habe, den Asylsuchenden ihre grundlegenden Menschenrechte vorzuenthalten, und dabei britisches und internationales Recht missachtete, sagte Richter Sullivan: "Es ist von Seiten staatlicher Behörden kaum ein deutlicherer Fall von ‚offensichtlicher, schon an Machtmissbrauch grenzender Unfairness’ vorstellbar."

Er fügte hinzu, das Vorgehen des Innenministeriums verdiene "die schärfste Missbilligung des Gerichts", und entschied, dass die Neun im Lande bleiben dürfen. Ihr Status solle alle sechs Monate überprüft werden.

Premierminister Tony Blair bezeichnete die Entscheidung Richter Sullivans als eine "Beleidigung für den gesunden Menschenverstand". Der neue Innenminister John Reid behauptete: "Wenn Urteile gefällt werden, die der Öffentlichkeit unerklärlich und bizarr erscheinen, dann verstärkt das nur den Eindruck, dass das System nicht im Interesse und zum Schutz der großen Mehrheit der normalen, anständigen, hart arbeitenden Bürger funktioniert. Das ist ein Eindruck, der uns allen Sorge bereiten sollte, und es ist ein Eindruck, den wir uns alle zu korrigieren bemühen sollten."

Innenstaatssekretär Tony McNulty erklärte: "Es ist weiterhin unsere Absicht, sie sobald wie möglich loszuwerden."

Missachtung von Parlament und geltendem Recht

Die Pose der Regierung, die sich als Verteidigerin der demokratischen Rechte der "Öffentlichkeit" gegen willkürliche und "unerklärliche" Verletzungen durch die Justiz ausgibt, stellt die Wirklichkeit auf den Kopf. In der Begründung seiner Entscheidung machte Richter Sullivan klar, dass es in diesem Fall nicht um die Bewertung des Handelns der Flugzeugentführer geht, sondern um die systematische Missachtung von Gerichtsurteilen durch die Regierung.

Er sagte: "Damit keine Missverständnisse entstehen: In diesem Fall geht es nicht darum, ob die Regierung Maßnahmen ergreifen sollte, um Flugzeugentführer abzuschrecken, sondern ob die Regierung solche Maßnahmen im Rahmen der vom Parlament erlassenen und von den Gerichten definierten Gesetzen ergreifen muss."

Mehrere Innenminister hätten sich geweigert, den Afghanen einen gesicherten Aufenthalt in Großbritannien zu gewähren, ihnen stattdessen immer nur befristete Aufenthaltstitel verbunden mit einem Arbeitsverbot gewährt und sie so ständig juristisch in der Schwebe gehalten. Damit habe sich die Regierung über Richter und über juristische Prozeduren hinweggesetzt, sagte Richter Sullivan. Fast siebzehn Monate lang habe der Innenminister "absichtlich" die Umsetzung der Entscheidung des Berufungsgerichts vom Juni 2004, dass die Männer nicht zurückgeschickt werden könnten, "verschleppt, um Zeit für neue Begründungen für seine Politik zu gewinnen," mit denen er sein Vorgehen rechtfertigen könne, erklärte Sullivan.

Richter Sullivan sagte, es sei besonders beunruhigend, dass diese offenkundige Umgehung des Gesetzes nicht von niederen Chargen zu verantworten, sondern "von höchster Ebene" autorisiert sei. Nach der Europäischen Menschenrechtskonvention haben Asylbewerber das Recht auf Schutz, bis sie sicher und ohne Gefahr für Leib und Leben nach Hause zurückkehren können.

Die verunglimpfenden Erklärungen, die Blair und andere führende Labour-Politiker zu dem Fall abgaben, zeigen, dass die Regierung nicht die Absicht hat, sich an das Urteil zu halten, und den Fall für eine populistische Kampagne zur weiteren Einschränkung von Bürgerrechten nutzen will.

Die Schritte der Blair-Regierung in diese Richtung sind außerordentlich unbesonnen. Sie biedert sich nicht nur an die rückständigsten und reaktionärsten Vorurteile gegenüber Einwanderern an, sondern riskiert auch, wichtige Säulen der bürgerlichen Herrschaft zu unterhöhlen, indem sie Gerichtsurteilen "den gesunden Menschenverstand" und die öffentliche Meinung entgegenstellt.

Dieses Vorgehen ist umso gefährlicher, als es nicht von einer starken, stabilen Regierung kommt, wie Blair behauptet, sondern von einer schwachen, isolierten.

Blair ist jetzt erwiesenermaßen der unbeliebteste Premierminister der jüngeren Geschichte. Auch wenn er neuerdings beteuert, auf die "Öffentlichkeit" zu hören, hat er doch längst seine Verachtung für die öffentliche Meinung bewiesen - vor allem bei seiner Entscheidung, sich im Krieg gegen den Irak trotz massiver öffentlicher Ablehnung den USA anzuschließen.

In Wirklichkeit "hört" Blair auf eine ganz andere Gruppe, nämlich auf die Wirtschaftselite und die Superreichen, die ihn an die Macht gebracht und ihn da gehalten haben, damit er ihre Geschäfte besorgt. Diese Schicht verfolgt ihre eigenen politischen Ziele, und es ist ihr gleichgültig, wie sie erreicht werden und was das kostet.

Besonders Rupert Murdochs News International Corporation hat lange dagegen gekämpft, die Europäische Menschenrechtskonvention in das britische Recht zu integrieren. Dies geschah 1997 mit einem Gesetz, das Labour nach seiner Regierungsübernahme eingebracht hatte. Die Finanzoligarchie ist gegen jedes Gesetz, das ihre Kontrolle über die breite Mehrheit der arbeitenden Menschen beeinträchtigt. Darüber hinaus sieht Murdoch Angriffe auf das Menschenrechtsgesetz als eine Möglichkeit, seine Opposition gegen die Europäische Union zu verstärken und die Regierung noch weiter nach rechts zu treiben.

Die Sun beschrieb Richter Sullivans Entscheidung als einen "Triumph für den Terrorismus" und brüstete sich: "Wir sind stolz, eine Kampagne für ein Ende der verrückten Menschenrechtsduselei zu führen, vor der diesem Land graust. Wir applaudieren David Cameron [dem Chef der oppositionellen Tories] für sein Versprechen, verrückte Menschenrechtsgesetze zu kippen, und wir fordern Tony Blair auf, aktiv zu werden und es zu tun, solange er noch an der Regierung ist. Das ganze Konzept der ‚Menschenrechte’ in Großbritannien ist zu einem Trauerspiel verkommen, in dem die Interessen von Mördern, Vergewaltigern und Pädophilen höher gestellt werden, als die ihrer Opfer."

"Gebt Großbritanniens Gerichten wieder den Auftrag, britische Interessen zu vertreten", schloss die Sun.

Murdochs Times stellt ähnliche Forderungen auf, und ihr Kolumnist Simon Jenkins verurteilte den "Menschenrechtszirkus". Er forderte: "Liberale mögen den größeren Respekt vor der Menschenwürde und der individuellen Freiheit vorziehen, von dem viele moderne Gesetze geprägt sind. Aber das sind Werte, Leitprinzipien, und nicht einklagbare Rechte."

Die Europäische Menschenrechtskonvention

Die Sun nannte das (britische) Menschenrechtsgesetz eine "EU"-Charta. In Wirklichkeit hat es seinen Ursprung aber in der Europäischen Menschenrechtskonvention, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Reaktion auf die Verbrechen der Nazis ausgearbeitet worden war.

Politisch trug sie dazu bei, den Glauben wieder herzustellen, dass der Kapitalismus mit demokratischen Regierungsformen und der Wahrung von Menschenrechten vereinbar sei, angesichts von Hitlers Verbrechen insbesondere der Menschenrechte von Flüchtlingen.

Aber trotz der Tatsache, dass die Europäische Menschenrechtskonvention hauptsächlich von britischen Rechtsgelehrten entworfen worden war und Großbritannien einer der ersten Staaten war, der sie ratifizierte, dauerte es Jahrzehnte, bis die Konvention in britisches Recht umgesetzt wurde. Und selbst dann wurde die Labour Party regelrecht dazu gezwungen, weil in der Zeit der konservativen Thatcher-Regierung mehrere Angeklagte äußerst öffentlichkeitswirksame Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gewonnen hatten, die deutlich machten, dass sie vor britischen Gerichten nicht zu ihrem Recht gekommen waren.

Als Bestandteil ihres Versprechens, Ungerechtigkeiten aus den achtzehn Jahren konservativer Regierung zu beseitigen (unter Beibehaltung der gleichen Wirtschaftspolitik), verabschiedete die Labour-Regierung 1998 das Menschenrechtsgesetz, mit dem die Europäische Konvention in britisches Recht übertragen wurde. Es trat 2000 in Kraft. Alle 46 Mitgliedsländer des Europarats haben die Bestimmungen der Konvention in ihr Verfassungsrecht und ihr materielles Recht übernommen.

Dem Menschenrechtsgesetz ist jetzt das gleiche Schicksal beschieden wie anderen Elementen des Völkerrechts, mit dem die Regierung nach Gutdünken umspringt. Neben dem illegalen Krieg gegen den Irak, den sie gemeinsam mit den USA führte, hat sie eine ganze Latte antidemokratischer Gesetze eingeführt, die im Widerspruch zur Menschenrechtsgesetzgebung stehen, so Angriffe auf das Aussageverweigerungsrecht, auf den Geschworenenprozess und das Versammlungsrecht. Im Namen des Kampfs gegen den Terror hat sie das Terrorismusverhinderungsgesetz (Prevention of Terrorism Act) verabschieden lassen. Es hat das Recht auf Meinungsfreiheit, den Habeas Corpus (Schutz vor ungesetzlicher Inhaftierung) und die Unschuldsvermutung abgeschafft, auf denen bisher sämtliche juristischen und demokratischen Prinzipien beruhten.

Von der Murdoch-Presse gedrängt, hat Blair jetzt eine "radikale Revision von Großbritanniens umstrittener Menschenrechtsgesetzgebung" versprochen. Der Observer meldete unter Berufung auf eine Quelle aus der Regierung, diese ziehe als Option in Betracht, das Menschenrechtsgesetz von 1998 zu novellieren, um eine "Balance zwischen den Rechten des Individuums und dem Recht der Gemeinschaft auf grundlegende Sicherheit" herzustellen.

Auch in dem Streit über die nach ihrer Haftentlassung nicht abgeschobenen ausländischen Häftlinge hat Blair angekündigt, die Gesetze so zu ändern, dass Straftäter aus fast allen anderen Staaten nach ihrer Entlassung automatisch abgeschoben werden. Das würde die Beseitigung der Vorschrift bedeuten, dass kein Ausländer in sein Heimatland abgeschoben werden darf, wenn ihm dort Gefahr für sein Leben droht.

Siehe auch:
Nein zu Blairs Polizeistaatsmaßnahmen!
(23. Februar 2006)

( 22. Oktober 2005)
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