22.000 Klinikärzte beginnen unbefristeten Streik

Am Donnerstagmorgen legten unter Führung der Ärztegewerkschaft Marburger Bund Mediziner an zehn verschiedenen Standorten für einen Tag ihre Arbeit nieder. Betroffen waren unter anderem die Universitäts-Kliniken der Städte Freiburg, Heidelberg, München, Würzburg, Bonn, Essen, Halle und Mainz, wo die zentrale Auftaktkundgebung stattfand.

"Am Freitag werden alle Ärztinnen und Ärzte demonstrativ ihre Arbeit wieder aufnehmen, um den Arbeitgebern den guten Willen der Mediziner zu verdeutlichen", erklärte der Hauptgeschäftsführer des Marburger Bundes, Armin Ehl. Am kommenden Montag soll der bundesweit geplante unbefristete Streik dann weitergeführt und ausgeweitet werden. Dafür hatten sich Anfang dieser Woche 98,4 Prozent der 22.000 in den ländereigenen Krankenhäusern und Uni-Kliniken angestellten Mediziner in einer Urabstimmung ausgesprochen.

In allen bestreikten Kliniken war am Donnerstag eine Notfallversorgung von Patienten organisiert worden, um sicher zu stellen, dass Schwerkranke und Verletzte durch den Arbeitskampf keinen Schaden nehmen. Vertreter des Marburger Bundes betonten, dass sich der Streik natürlich nicht gegen die Patienten, sondern gegen die öffentlichen Arbeitgeber richtet.

Unmittelbarer Hintergrund des Arbeitskampfes sind die seit letztem Jahr laufenden Tarifverhandlungen zwischen dem Marburger Bund und der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL), in der die Länder als Arbeitgeber für die landeseigenen Krankenhäuser und Uni-Kliniken zusammengeschlossen sind. Der Marburger Bund, an dessen Spitze Frank Ulrich Montgomery steht, wirft der Tarifgemeinschaft vor allem in der Vergütungsfrage "dogmatische Unflexibilität" vor und brach als Konsequenz die Gespräche ab.

Von den im Jahr 2004 etwa 146.000 im öffentlichen Dienst (Länder und Kommunen) angestellten Ärzten sind rund 100.000 in der Ärztegewerkschaft organisiert. Diese hat im September vergangenen Jahres die Verhandlungsgemeinschaft mit der Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes Verdi und der Deutschen Angestelltengewerkschaft (DAG) aufgekündigt und vertritt seither die Anliegen der angestellten Mediziner allein. Mit seinem Streikaufruf will der Marburger Bund vor allem die Forderung nach Erhöhung des Grundgehalts für die Krankenhausärzte um 30 Prozent bekräftigen sowie bessere Arbeitsbedingungen und einen "arztspezifischen Tarifvertrag" durchsetzen. Außerdem sollen die Forschungs- und Lehrtätigkeit tariflich abgesichert werden.

Katastrophale Arbeits- und Einkommensbedingungen

Schon die Warnstreiks im Dezember letzten Jahres in Berlin und anderen Städten, an denen sich mehr als zehntausend Klinikärzte beteiligten, brachten die seit Jahren bestehenden katastrophalen Arbeitsbedingungen der Klinikärzte in die öffentliche Diskussion.

Neue Arbeitsverträge, vor allem für Jungmediziner, sind meist nur noch Zeitverträge, wobei eine Laufzeit von nur vier Wochen keine Seltenheit ist. Den Nachtschichten folgen Tagesschichten, ohne dass die Ärzte zwischendurch frei haben. Regelmäßige Überstunden von oft bis zu 70 Wochenstunden werden vielfach weder durch Freizeit noch durch Bezahlung ausgeglichen.

Der Marburger Bund spricht von jährlich rund 50 Millionen Überstunden bundesweit im "Marktwert" von einer Milliarde Euro. Für die Betreuung und weitere Ausbildung der Assistenzärzte bleibt keine Zeit aufgrund des hohen Leistungsdrucks.

Vor allem das seit 1. Januar 2006 in Kraft getretene Fallpauschalengesetz mit seiner marktwirtschaftlich orientierten Leistungsabrechnung sorgt für massive Ausbeutung der Ärzte, da in kürzester Zeit möglichst viele Patienten durch die Betten zu schleusen sind. Zudem wuchs für die Berichterstattung gegenüber den Krankenkassen der bürokratische Zeitaufwand erheblich. Forschungsarbeit wird von den Medizinern überwiegend in ihrer Freizeit geleistet. Hinzu kommen Kürzungen bzw. Wegfall des Weihnachts- und Urlaubsgelds. Mittlerweile liegt nach Angaben des Deutschen Ärzteblatts der durchschnittliche Stundenlohn eines Assistenzarztes bei 14 Euro brutto. Im Vergleich hierzu verdient ein Facharbeiter nahezu das Doppelte.

Die Folgen dieser miserablen Bedingungen sind eine wachsende Abwanderung der Ärzte ins Ausland sowie schlechtere Patientenversorgung durch übermüdetes Personal.

Während der Marburger Bund auf seiner Forderung nach 30-prozentiger Lohnerhöhung besteht, signalisierte er sein Entgegenkommen bei der von der Tarifgemeinschaft der Länder geforderten Erhöhung der Wochenarbeitszeit von 38,5 auf 42 Stunden. Eine reale 42-Stunden-Woche wäre für nahezu alle Krankenhausärzte eine deutliche Senkung der gegenwärtigen Arbeitszeit. Dagegen bedeutet die von den Ländern angebotene Vergütung eine effektive Gehaltssenkung, so der Gewerkschaftssprecher Athanasios Drougias gegenüber tagesschau.de.

Der Verhandlungsführer der TdL, der niedersächsische Finanzminister Hartmut Möllring (CDU), der sich schon durch seinen unnachgiebigen Verhandlungsstil im seit sechs Wochen anhaltenden Streik der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst einen Namen machte, attackierte die Streikenden und erklärte, er hab nicht das geringste Verständnis für die Arbeitskampfmaßnahme der Ärzte.

Auch andere Politiker und Teile der Medien verurteilten die Forderungen der Ärztegewerkschaft als stark überzogen, unrealistisch und unsolidarisch. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach verunglimpfte den Streik als "die brutalste Mitgliederwerbung einer Gewerkschaft, die ich je gesehen habe". Der Gewinner des Streiks stehe schon fest, es sei der Marburger Bund.

Selbst wenn der Marburger Bund nur einen Teilerfolg mit seiner Lohnforderung haben würde, drohten zusätzliche Kosten in dreistelliger Millionenhöhe. Dieses Geld sei in den Kliniken schlich und einfach nicht vorhanden, heißt es in einigen Medienberichten und Kommentaren. Dieselben Kommentatoren haben in der Vergangenheit alle Kürzungen im Gesundheitssystem befürwortet.

Mit verblüffender Deutlichkeit fordern Politiker nahezu aller Parteien und einige Medienvertreter, dass die Krise des Gesundheitssystems, die durch die Maßnahmen der Bundesregierung zur Entlastung der Unternehmer drastisch verschärft wurde, auf die Beschäftigten in den Krankenhäusern und die Patienten abgewälzt werden sollen. So ist die Forderung zu verstehen, auch die Ärzte müssten "zur Finanzierung des Gesundheitssystems ihren Beitrag leisten", ebenso, wie sich jeder einzelne Bürger für eine qualitative und optimale gesundheitliche Versorgung mit seinem höheren Eigenanteil daran beteiligen müsse.

Verdi-Chef Bsirske kritisiert Streikforderung

Dass sich auch der Vorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, Frank Bsirske, gegen die Lohnforderung der streikenden Ärzte ausgesprochen hat, ist besonders abstoßend. Anstatt den Streik der vorwiegend jungen Mediziner in den Krankenhäusern zu begrüßen, der sich gegen dieselbe Tarifgemeinschaft der Länder und deren Verhandlungsführer Möllring richtet, gegen die Verdi seit sechs Wochen im Arbeitskampf steht, warnte Bsirske vor einer Lohnforderung, die "völlig überzogen und unrealistisch" sei.

Auf einer Verdi-Protestkundgebung an der Uniklinik Bonn sagte Bsirske am Donnerstag, 60-Stunden-Schichten inklusive Bereitschaft für Ärzte würden in der Bevölkerung zwar zu Recht als unerträglich empfunden: "Aber ich frage: Sind die Ärzte nach 60 Stunden Dienst weniger müde, wenn sie dafür 30 Prozent mehr Geld erhalten?"

Es ist nicht zum ersten Mal, dass Verdi sich gegen die 30-Prozent-Forderungen der Ärzte ausspricht. Im vergangenen Sommer kritisierte die Gesundheitsexpertin von Verdi, Heike Spieß, die Lohnforderung als "utopisch und unsolidarisch", weil ihre Erfüllung angeblich "zu Lasten der anderen Berufsgruppen" gehen würde.

Damals waren Verdi und der Marburger Bund noch in gemeinsamen Tarifverhandlungen verbunden. Als die Verdi-Spitze aber hinter dem Rücken der Ärzte einen Alleinvertretungsanspruch für sich durchzusetzen wollte, indem sie von einzelnen Arbeitgebern eine Vertragsklausel forderte, die Verhandlungen mit dem Marburger Bund verbietet, kündigte dieser die Tarifgemeinschaft auf und trat den öffentlichen Arbeitgebern als eigenständiger Verhandlungspartner gegenüber.

Damals schrieben wir auf dieser Web Site: "Deutlicher als in vielen früheren sozialen Konflikten zeigte Verdi gegenüber den Klinikärzten ihr wahres Gesicht. Die Versuche der Gewerkschaft, die streikenden Ärzte als privilegierte Schicht darzustellen und zu isolieren, müssen zurückgewiesen werden. Ihre Protestaktionen sind der Auftakt eines wachsenden Widerstands von Akademikern und teils hoch ausgebildeten Technikern, deren Arbeits- und Lebensbedingungen sich kaum mehr von denen anderer Arbeiter - und Arbeitslosen - unterscheiden. Sie verdienen volle Solidarität."

Siehe auch:
Universitätskliniken befürchten Privatisierung
(16. Februar 2006)
Berliner Ärzte streiken für bessere Arbeitsbedingungen
( 9. Dezember 2005)
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