"Stalins Kriegskommunismus"

Ein neuer Band aus Wadim Rogowins siebenbändiger Geschichte der Opposition gegen den Stalinismus

Zur Leipziger Buchmesse erscheint im Arbeiterpresse Verlag "Stalins Kriegskommunismus", der zweite Band aus Wadim Rogowins siebenbändiger Geschichte der Opposition gegen den Stalinismus.

Wadim S. Rogowin (1937 - 1998) war Doktor der Philosophie und Professor am Soziologischen Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Anlass zu bisweilen heftigen Kontroversen boten in der Sowjetunion seine umfangreichen Veröffentlichungen zu Problemen der Sozialpolitik, zur Entwicklungsgeschichte des gesellschaftlichen Bewusstseins und zur Geschichte politischer Bewegungen in der UdSSR. Der Linken Opposition gegen den Stalinismus galt von jeher sein besonderes Interesse. Die Öffnung zuvor geheimer Archive infolge der Auflösung der Sowjetunion ermöglichte ihm die Vervollständigung seiner Forschungen durch eine Fülle neuer Erkenntnisse.

In deutscher Sprache liegen aus Rogowins siebenbändiger Geschichte der Opposition gegen den Stalinismus jetzt die Bände 2 bis 6 vor, die die Periode von 1928 bis 1940 behandeln.

Wadim Rogowin zeigt im jetzt vorliegenden zweiten Band, dass die Opposition gegen das stalinsche bürokratische Regime in den Jahren 1928-1932 trotz Isolation und Illegalität weiter anwächst. Der Bürgerkrieg, den Stalin mit der Zwangskollektivierung gegen die Bauernschaft entfesselt, führt bei Vielen zur Einsicht, dass Trotzki und die linke Opposition mit ihrer Einschätzung Stalins und der herrschenden Bürokratie die einzige Alternative bieten.

Wir veröffentlichen hier die Einleitung Wadim Rogowins zu diesem Band, der über die Web Site des Verlags bestellt werden kann.

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Schon ein halbes Jahrhundert lang versuchen Historiker, Politikwissenschaftler und Soziologen in der ganzen Welt immer wieder eines der kompliziertesten Rätsel in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts zu lösen: Warum kam es in der Folge der Oktoberrevolution zu einer Erscheinung wie dem Stalinismus, der naturgemäß zu Stagnation führte und anschließend in der auseinander gebrochenen Sowjetunion und den anderen Ländern der ehemaligen "sozialistischen Staatengemeinschaft" zur derzeitigen allumfassenden sozialökonomischen und sozialpolitischen Krise?

In der sowjetischen und der ausländischen geschichts- und politikwissenschaftlichen Literatur findet man zwei prinzipiell unterschiedliche Antworten auf diese Frage. Die eine geht davon aus, dass Stalinismus und Poststalinismus gesetzmäßig und unausweichlich aus der Umsetzung der marxschen Lehre und der revolutionären Praxis des Bolschewismus resultierten. Die zweite basiert auf der Ansicht, dass der Stalinismus das Produkt einer machtvollen Reaktion der Bürokratie auf die Oktoberrevolution sei und keine Fortsetzung, sondern, im Gegenteil, eine Negierung und Zerstörung der bolschewistischen Prinzipien darstelle. Dabei bestehe die Spezifik des von Stalin und seinen Handlangern vollzogenen konterrevolutionären Umsturzes darin, dass dieser Umsturz unter dem ideologischen Deckmantel des marxistischen Vokabulars und der stetigen Versicherungen der Treue zur Sache der Oktoberrevolution erfolgte.

Ein Umsturz dieser Art verlangte natürlich eine bisher einmalige Konzentration von Lüge und Fälschung sowie immer neue Mythen. Eine nicht minder raffinierte Mythologie ist allerdings auch heute nötig, um die Ideen derjenigen zu untermauern, die die sozialistische Wahl unseres Volkes 1917 für falsch halten und den Stalinismus als System gesellschaftlicher Beziehungen mit dem Sozialismus sowie als politische und ideologische Kraft mit dem Bolschewismus gleichsetzen. Solcherart Ansichten werden umso aktiver propagiert, je offensichtlicher die Sowjet-Gesellschaft von den noch verbliebenen Errungenschaften der Oktoberrevolution abrückte und in einen rückständigen halbkolonialen Kapitalismus verfiel und je stärker und schmerzlicher die zerstörerischen Folgen dieses Prozesses zutage treten.

Ähnlich den Stalinisten gebrauchen die heutigen Antikommunisten zwei Arten von Mythen: ideologische und historische. Mit ersteren sind falsche, in die Zukunft gerichtete Ideen gemeint, d. h. illusorische Prognosen und Versprechungen. Diese Produkte eines falschen Bewusstseins erweisen sich erst mit fortschreitender Realisierung als Mythos. Anders die Mythen, die nicht in die Zukunft weisen, sondern in die Vergangenheit. Diese lassen sich im Prinzip leichter aufdecken als die antiwissenschaftlichen Prognosen und reaktionären Projekte. Ideologische wie historische Mythen sind das Produkt direkter Klasseninteressen. Doch im Unterschied zu Ersteren sind Letztere das Produkt nicht einer politischen Verirrung oder eines bewussten Betrugs der Massen, sondern resultieren entweder aus historischer Unkenntnis oder vorsätzlicher Fälschung, d. h. aus dem Verschweigen bzw. der tendenziösen Hervorhebung und verzerrten Interpretation bestimmter historischer Fakten. Widerlegen lassen sich diese Mythen durch die Wiederherstellung der historischen Wahrheit, der wahrheitsgetreuen Darstellung der Fakten und Tendenzen der Vergangenheit.

Leider haben die Vertreter der den Sozialismus bejahenden ideologischen Strömungen in den letzten Jahren nicht alle historischen Fakten genutzt, mit denen die neueste historische Mythologie aufgedeckt werden könnte. In der Regel haben sie ihre Analyse über das Schicksal der sozialistischen Idee und ihrer praktischen Umsetzung in der UdSSR mit dem Verweis auf die letzten Arbeiten Lenins abgeschlossen. Lenins politische Tätigkeit brach jedoch genau in dem Moment ab, als die Sowjetunion gerade die erste Extremphase ihrer Entwicklung - den Bürgerkrieg und die ungeheuerlichen Nachkriegszerstörungen - hinter sich gebracht hatte, als sich die Möglichkeiten für einen friedlichen sozialistischen Aufbau auftaten und sich gerade erst die Konturen einer neuen Gefahr für den Aufbau des Sozialismus in einem isolierten und zurückgebliebenen Land abzeichneten: die Gefahr einer thermidorianischen Degeneration der Oktoberrevolution.

Nach Lenins Tod teilte sich der Bolschewismus in zwei unversöhnliche politische Strömungen: den Stalinismus und die Opposition (die "Bolschewiki-Leninisten", wie sie sich selbst bezeichneten, bzw. "Trotzkisten", wie sie von den Stalinisten genannt wurden). In den zwanziger Jahren war die Opposition die einzige Strömung, die dem Stalinismus ein eigenes ideologisches Programm zu allen Grundfragen der kommunistischen Weltbewegung und des sozialistischen Aufbaus in der UdSSR entgegenstellte. Unter Berücksichtigung der neuen historischen Erfahrungen entwickelte und bereicherte sie die Ideen über die Wege des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, über die Neue Ökonomische Politik (NÖP) und über die Lösung der Nationalitätenfrage in der UdSSR, die in den Arbeiten Lenins nur ansatzweise ausgearbeitet worden waren.

Da also der Stalinismus nicht die Fortsetzung, sondern die Negierung des Bolschewismus war, bahnte er sich seinen Weg in einem erbitterten Kampf gegen diese Massenbewegung in der Partei, die eine wahrhaft sozialistische Alternative für die Entwicklung der Sowjetgesellschaft hervorbrachte und begründete sowie die politischen, ideologischen und moralischen Prinzipien der Oktoberrevolution verteidigte, die von den Apparatschiks, der sozialen Hauptstütze des stalinschen Regimes, zerstört wurden.

Nachdem 1927 die linke Opposition aus der Partei vertrieben worden war, konnte der innerparteiliche politische Kampf nicht mehr legal geführt werden. Der letzte Versuch, der Etablierung des Stalinismus offen Widerstand entgegenzusetzen, war die Tätigkeit der Gruppe um Bucharin im Politbüro und ZK, die 1929 mit der totalen Kapitulation vor Stalin zu Ende ging. Der Kampf der innerparteilichen Oppositionen gegen den Stalinismus hielt jedoch noch mehrere Jahre an. Natürlich hatte dieser Kampf nunmehr andere Formen als im Jahrzehnt zuvor. Offene Diskussionen zu Fragen der sowjetischen Außenpolitik und der internationalen Politik gab es nicht mehr. Die neuen Oppositionsströmungen innerhalb der Partei agierten illegal, und den Beteiligten wurden nicht nur Parteistrafen auferlegt, sondern sie wurden auch polizeilich verfolgt.

In der ersten Hälfte der dreißiger Jahre waren die aktivsten oppositionellen Kräfte in der kommunistischen Bewegung nach wie vor der im Exil lebende Trotzki und seine Gleichgesinnten in der Sowjetunion, die entweder im Untergrund oder in Stalins Gefängnissen und Lagern bzw. in der Verbannung tätig wurden.

Die linke Opposition leistete in den dreißiger Jahren einen bedeutsamen Beitrag zur marxistischen Theorie, da ihre Arbeiten eine wissenschaftliche Analyse der ersten Erfahrungen beim Aufbau des Sozialismus enthielten, wenngleich dieser Aufbau auch mit den entstellten Methoden der bürokratischen Kommandoführung erfolgte. Indem Trotzki und seine Gleichgesinnten aufzeigten, welch riesige Kosten diese Methoden verursachten (was für die damalige und auch für alle weiteren Entwicklungsphasen der UdSSR charakteristisch war), bewiesen sie, dass man mit einer Demokratisierung des politischen Lebens und einer Sozialpolitik im Interesse breitester Volksmassen und nicht kleiner privilegierter Gruppen nicht nur die enormen menschlichen Opfer und ein Absinken des Lebensniveaus hätte vermeiden, sondern auch weitaus effektivere Wirtschaftsergebnisse hätte erzielen können.

Die im vorliegenden Buch betrachtete historische Periode war eine Zeit, in der sich neue Oppositionsströmungen - ehemalige Bucharin-Anhänger und Stalinisten - den "trotzkistischen" Ideen anschlossen. Dieser Prozess endete 1932 mit dem Versuch, die alten und die neuen Oppositionsgruppen innerhalb der Partei zu vereinigen.

Dieses Buch stellt die Geschichte des innerparteilichen Kampfes in den Jahren 1928-1933 dar und stützt sich dabei auf folgende Quellen: offizielle "Parteidokumente" (Beschlüsse von Parteitagen und ZK-Plenartagungen, Reden und Aufsätze Stalins sowie seiner Handlanger, die stalinistische Propaganda); Memoiren von Beteiligten am politischen Leben jener Jahre; Materialien aus sowjetischen Archiven, die wichtige, den Zeitgenossen verborgen gebliebene Aspekte der historischen Ereignisse aufzeigen, sowie Dokumente der Opposition, die dem sowjetischen Leser größtenteils unbekannt waren.

Die Analyse dieser Quellen macht deutlich: Alles, was heute mit Recht am Stalinismus kritisiert wird, hatten die bolschewistischen Oppositionsgruppen schon Ende der zwanziger bis Anfang der dreißiger Jahre zur Sprache gebracht. In den Dokumenten dieser Strömungen stößt man jedoch auch auf viele Schlussfolgerungen und Verallgemeinerungen, die in den heutigen Arbeiten zur Geschichte fehlen und in ihrer Gesamtheit eine Alternative zum Stalinismus im ökonomischen, sozialen, politischen und geistigen Leben beschreiben.

Die Entwicklung des innerparteilichen Kampfes jener Jahre muss im Zusammenhang mit dem Weltkapitalismus betrachtet werden, dessen 1914 zum Ausbruch gekommene tiefe und allumfassende Krise in den Jahren 1929-1933 besonders akute Formen angenommen hatte. Die Ablösung der instabilen Nachkriegs-"Prosperität" durch die "Große Depression", von der die gesamte kapitalistische Welt erschüttert wurde, widerlegte sehr überzeugend die Ansicht, dass die Bolschewiki, die die Oktoberrevolution als Prolog zu proletarischen und nationalen Befreiungsrevolutionen in anderen Ländern sahen, die Tiefe der globalen Widersprüche des Kapitalismus überbewertet hätten. Die Strukturkrise des gesamten kapitalistischen Systems, die ungeahnte Ausmaße angenommen hatte, endete jedoch nicht mit einem Sieg sozialistischer Revolutionen, da die revolutionäre Bewegung verraten und unterhöhlt war. Die Theorie des "Sieges des Sozialismus in einem einzelnen Land" hatte dazu beigetragen, dass sich die Komintern und die zu ihr gehörigen kommunistischen Parteien der kapitalistischen Länder aus einer revolutionären Kraft in ein Instrument verwandelt hatten, das der UdSSR günstige außenpolitische Bedingungen gewährleisten sollte. Dass die unter Stalins Einfluss stehende Komintern die revolutionären Möglichkeiten Anfang der dreißiger Jahre ungenutzt verstreichen ließ, wird deutlich in der Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung. Sektiererische Fehler der KPD, die damit die Bildung einer einheitlichen antifaschistischen Arbeiterfront in Deutschland blockierte, machten Hitler den Weg zur Macht frei, und dieser nutzte geschickt die unerträgliche Situation, in der sich das deutsche Volk infolge des räuberischen Versailler Vertrags - einer der schlimmsten Ausgeburten des Imperialismus - befand.

Keine geringe Rolle bei der Niederlage der revolutionären Kräfte in Westeuropa spielte auch die Tatsache, dass die Sowjetunion - statt für andere Völker als Beispiel im Kampf für den Sozialismus in Erscheinung zu treten - immer stärker negativ wirkte und breite Schichten der Werktätigen in den kapitalistischen Länder von der kommunistischen Bewegung abschreckte. Andererseits war die Schwächung des Kapitalismus in den dreißiger Jahren jener Faktor, der es Stalin ermöglichte, seine Positionen in der Weltarena nicht nur zu erhalten, sondern auch zu festigen. Die weltweite Krise des Kapitalismus, die die Richtigkeit der marxistischen Theorie und der bolschewistischen Strategie bestätigte, trug also objektiv zur Festigung des Stalinismus bei.

Die kritische Zuspitzung der Widersprüche des Weltkapitalismus fiel zeitlich mit einer extremen Verschärfung der sozialen Spannungen in der UdSSR infolge der Zwangskollektivierung zusammen.

In den Jahren 1923-1927 hatte man es versäumt, planmäßige, wahrhaft sozialistische Reformen durchzuführen, weil die Partei ständig mit dem "Kampf gegen den Trotzkismus" beschäftigt war, den ihr die prinzipienlosen Blöcke der Parteispitzen aufgezwungen hatten. Damals trugen alle öffentlichen Auftritte Stalins und seine Aktionen im Bereich der sozialökonomischen Politik einen äußerlich "gemäßigten" Charakter. Dies sollte vor allem seine ideologischen Gegner als Aufwiegler zu einem neuen Bürgerkrieg darstellen und sie auf der Welle der durch diese falschen Vorstellungen ausgelösten Stimmungen in der Gesellschaft von der Führung zurückdrängen und aus der Partei ausschließen. An dieses Ziel gelangt, hatte Stalin die Hände frei für seinen abenteuerlichen Zickzackkurs in der Innen- und Außenpolitik sowie für die Massenrepressalien, die von Jahr zu Jahr größere Ausmaße annahmen und immer erbarmungsloser wurden.

Bei der ultralinken Wendung in der Innenpolitik Ende der zwanziger Jahre verfolgte Stalin keine durchdachte politische Strategie, die mit einer realistischen Einschätzung der Situation im Land einhergegangen wäre und das Ausmaß des Widerstands der Bauernschaft gegen die Zwangskollektivierung berücksichtigt hätte. A. Awtorchanow stellt mit Recht fest, dass sich Stalin 1928 bei seiner Rede "An der Getreidefront", in der er die Kollektivierung als einzigen Weg darstellte, dem Staat Getreide für den Handel zu verschaffen, "wohl kaum selbst vorstellen konnte..., wohin das alles führen und was dieser komplizierte Prozess kosten würde".

Stalins Politik der Jahre 1928-33 war eine Kette ständiger empirischer Hin- und Herbewegungen: Nach abenteuerlichem "Vorwärtsstürmen" kam es zu einem panischen Rückzug, administrativem Druck folgten wirtschaftliche Zugeständnisse an das Volk, und danach wurden im Land wiederum überspitzte Maßnahmen angewendet. Im Ergebnis dieses Vor und Zurück stand Stalin nicht selten am Rande einer politischen Katastrophe. In einem der wenigen Augenblicke, in denen er sich Offenheit gestattete, bekannte er, dass der Kampf gegen die Bauern für ihn sogar ein härterer Prüfstein war als der Zweite Weltkrieg. Churchill berichtet in seinen Memoiren von einem Gespräch mit Stalin am 15. August 1942: "Sagen Sie mir", fragte Churchill Stalin, "bereitet der Krieg Ihnen persönlich ebenso große Schwierigkeiten, wie Sie sie bei der Einführung der Kollektiv-Landwirtschaft überwinden mussten?"... "Nein, nein", erwiderte er, "die Kollektivierung der Landwirtschaft hat einen furchtbaren Kampf gekostet." "Ich habe immer angenommen, sie müsse Ihnen große Sorgen bereiten, denn in diesem Fall hatten Sie es nicht mit einigen zehntausend Aristokraten und Großgrundbesitzern, sondern mit Millionen kleiner Leute zu tun." "Zehn Millionen", sagte er die Hände hochhebend. "Es war furchtbar. Vier Jahre habe ich kämpfen müssen."

Um die Wechselfälle der Zwangskollektivierung richtig zu verstehen, muss man vor allem eine wissenschaftliche Vorstellung vom sozialpolitischen Wesen des Stalinismus haben. Dieses Wesen lässt sich am besten mit dem Begriff "bürokratischer Zentrismus" erfassen, der nicht nur Stalins Politik charakterisiert, sondern auch die aller Parteiführer nach ihm. Obwohl die offizielle Sowjetpropaganda ständig behauptete, die Partei sei "mit der fortschrittlichsten wissenschaftlichen Theorie ausgerüstet", diente das marxistische Vokabular der herrschenden Clique seit Ende der zwanziger Jahre lediglich als ideologische Tarnung für den rein empirisch gesteuerten politischen Kurs.

Trotzki nannte Stalin einen Empiriker und betonte mehrfach, dass dieser niemals einen theoretisch fundierten strategischen Plan oder die Fähigkeit besessen habe, die nächstfolgenden oder gar die weiter entfernt liegenden Folgen seiner Politik vorherzusehen. Er sei bei der Ausarbeitung seiner Taktik nie von der Theorie und Strategie ausgegangen, sondern habe im Gegenteil Theorie und Strategie den taktischen Aufgaben untergeordnet, die sich aus den unmittelbaren und unvorhergesehenen Schwierigkeiten ergaben, zu denen seine systemlose und jeglicher wissenschaftlichen Grundlage entbehrende Politik führte.

Die durch ein abstraktes sozialistisches Vokabular maskierte pragmatische Politik Stalins erfuhr drastische Schwankungen. Während der bürokratische Zentrismus in Zeiten einer relativ stabilen inneren und äußeren Situation des Landes von der opportunistischen Bestrebung ausging, den Status quo in der internationalen Arena beizubehalten und die bestehenden gesellschaftlichen Beziehungen innerhalb des Landes zu konservieren, wechselte er in Krisenzeiten zu einer eklektischen Politik des Pendelns zwischen politischen Extremen.

Eine Art Parallele zu Stalins Politik des "großen Umschwungs" war Gorbatschows "Perestroika", die man mit voller Berechtigung als "umgekehrte Kollektivierung" bezeichnen kann. Ähnlich wie die "durchgängige Kollektivierung" ohne genauen strategischen Plan, wissenschaftliche Konzeption und klare Vorstellung über die Ziele und Folgen der beabsichtigten Umgestaltungen durchgeführt, erbrachte die "Perestroika" nicht weniger verhängnisvolle Folgen für das Sowjetvolk und die gesamte Menschheit als Stalins "Vormarsch des Sozialismus an der ganzen Front".

Von 1928 bis 1933 führte der grobe Empirismus in der Politik dazu, dass die Wirtschaft von einer Krise in die nächste fiel. Diese Krisen, die infolge der fehlerhaften politischen Linie entstanden, wurden von Stalin ständig mit einem wachsenden Widerstand der Klassenfeinde begründet. Als Ausweg wählte man eine "Politik der Überspitzungen", eine Politik administrativen Drucks und harter Repressalien, die immer breitere Bevölkerungsschichten betrafen. In dem Versuch, sich mit dieser Politik vor den ökonomischen Schwierigkeiten zu retten, trat Stalin einen Kampf gegen die Kulaken an, der in einen frontalen Zusammenstoß mit der gesamten Bauernschaft überging und diese de facto zu einem neuen Bürgerkrieg provozierte.

Sowohl in der offiziellen sowjetischen als auch in der antikommunistischen Geschichtsschreibung wurde der Akzent bei der Beschreibung der stalinschen Repressalien - aus unterschiedlichen Gründen - immer darauf gesetzt, dass sie gegen "Kaninchen" (um einen Ausdruck von A. Solschenizyn zu verwenden) gerichtet waren, die nicht dazu tendierten, dem herrschenden System Widerstand entgegenzusetzen. In Wirklichkeit waren jedoch weder die weißgardistischen Verschwörer, die in den zwanziger und dreißiger Jahren mit allen ihnen zugänglichen Methoden ihren aktiven Kampf für eine Restauration des Kapitalismus fortsetzten, noch die Bauern, die auf die Zwangskollektivierung mit Massenaufständen reagierten, oder die oppositionellen Bolschewiki, die für eine Wiederherstellung der sozialistischen Prinzipien gegen Stalin kämpften, "Kaninchen". Alle diese in ihren Absichten und Handlungen sehr unterschiedlichen Kräfte vereinigte Stalin provokatorisch zu einem einheitlichen Amalgam unter der Bezeichnung "Volksfeinde".

Häufig betrachtet die ausländische und die zeitgenössische sowjetische Geschichtsschreibung den von Stalin Ende der zwanziger Jahre entfesselten Staatsterror als gesetzmäßige Fortführung des Kampfes der Bolschewiki gegen die Feinde der Oktoberrevolution in den Jahren des Bürgerkriegs. Diese Gleichsetzung verhüllt bewusst die grundlegenden Unterschiede im Ausmaß, in den Funktionen und den Objekten der politischen Repression zu Zeiten Lenins bzw. Stalins. Die Repressalien während des Bürgerkriegs wurden von den Bolschewiki mit aktiver Unterstützung der Massen durchgeführt, in einer Atmosphäre, als die Partei und ihre Führer mit dem Volk alle Opfer und Entbehrungen teilten. Die Schläge hatten die Kräfte des alten Regimes zum Ziel, denen hervorragend ausgerüstete und organisierte Armeen zur Verfügung standen und die enorme materielle und finanzielle Hilfe aus dem Ausland erhielten. Zu den unmittelbaren Kampfhandlungen gegen die weißen Armeen kam der Kampf gegen Verschwörungen im Hinterland (im Bürgerkrieg ist die Trennlinie zwischen Front und Hinterland sowieso nur ungenau), die das gleiche Ziel hatten, nämlich die Restauration des Kapitalismus, d. h. die Wiederherstellung der Privilegien der ehemals herrschenden Klassen des zaristischen Russland. Im Gegensatz dazu war der Terror der dreißiger Jahre der "Hüter der Ungleichheit. Seinem ganzen Wesen nach war er gegen das Volk gerichtet; und da er sich potenziell oder aktuell gegen die Mehrheit kehrte, war er wahllos." Der seit dem Ende der Kollektivierung in Gang gesetzte riesige repressive Staatsmechanismus "hatte zur Folge, dass einem so großen Teil des sozialen Organismus derart riesige Dosen Furcht eingeflößt wurden, dass der ganze Körper unweigerlich vergiftet werden musste. Als die Terrormaschine, die gewaltiger war als alles, was die Welt bisher gesehen hatte, einmal installiert und in Gang gesetzt worden war, entwickelte sie ihre eigene unberechenbare Triebkraft."

Unmittelbar nach dem Bürgerkrieg waren die politischen Repressalien stark zurückgegangen. Mitte der zwanziger Jahre betrug die Anzahl der Gefangenen in den sowjetischen Gefängnissen und Lagern nicht mehr als 100.000 bis 150.000. Von diesen waren nur wenige Hundert aus politischen Gründen verurteilt. Ab 1928 stieg die Zahl der Lagerinsassen stetig und erreichte 1934 mehr als eine halbe Million. Über ein Viertel davon waren politische Häftlinge.

Stalins Repressionskampagnen waren ein Ergebnis seiner Furcht nicht nur vor der Bauernschaft, sondern auch vor der Arbeiterklasse und in erster Linie vor deren revolutionärer Avantgarde - der linken Opposition. Die immer stärker werdende Welle von Gewalt war nicht gegen die Feinde der Oktoberrevolution gerichtet, sondern gegen die Feinde, die das stalinsche Regime selbst hervorbrachte: die Bauern, die sich der Zwangskollektivierung widersetzten, und die Mitglieder der kommunistischen oppositionellen Gruppen.

Mit seiner abenteuerlichen Wirtschaftspolitik und den Massenrepressalien schuf sich Stalin zu den von Anfang an existierenden Feinden der Sowjetmacht Tausende neue, tatsächliche und potentielle Gegner, die den Sozialismus mit dem Stalin-Regime gleichsetzten.

Zugleich mit der Bauernschaft - der zahlenmäßig stärksten Kraft, die sich dem Stalin-Regime widersetzte - mussten auch die Kommunisten grausame Schläge hinnehmen, "schuldig" gesprochen, zu unentschlossen oder, im Gegenteil, zu konsequent und eifrig bei der Durchsetzung der von Stalin diktierten Politik zu sein. Das Abwälzen der Verantwortung für Misserfolge auf die Vollstrecker des politischen Kurses war für Stalins Regime typisch.

Die Massenrepressalien konnten weitere ökonomische Fehlschläge nicht verhindern, ganz im Gegenteil: Diese wurden vervielfacht. Die abenteuerlichen und willkürlichen Beschlüsse wurden nur zum Teil ausgeführt, und der Preis dafür war ungerechtfertigt hoch. So erschöpfte die Zwangskollektivierung nicht nur die Produktivkräfte im Dorf - de facto hemmte sie auch die Entwicklung der Industrialisierung.

Wenn sich die Staatsmacht Anfang der dreißiger Jahre behaupten konnte, dann nicht dank der stalinschen Führung, sondern trotz ihr. Der Sieg Stalins und der von ihm geführten Bürokratie im Bürgerkrieg gegen die Bauernschaft resultierte daraus, dass sich die Arbeiterklasse einer Restauration des Kapitalismus widersetzte, zu der es bei einem Sieg der "russischen Vendée" unweigerlich gekommen wäre, und deshalb die Bürokratie bei deren konvulsiven Kampf gegen die Bauern unterstützte. Außerdem waren damals in der Stadt die vorwiegend gegen die Dorfbevölkerung gerichteten Repressalien nur schwach zu spüren. Von Bedeutung war schließlich auch, dass Stalin gerade in jener Zeit die soziale Stütze seines Regimes herausbildete: die privilegierten Schichten, zu denen neben der herrschenden Bürokratie auch die Arbeiteraristokratie und die Intelligenzija-Elite gehörten.

Dennoch war Stalins Situation gegen Ende des im vorliegenden Buch betrachteten Zeitabschnitts äußerst instabil. Mit seiner Politik hatte er alle Klassen und sozialen Gruppen der sowjetischen Gesellschaft gegen sich aufgebracht und sogar einen Großteil der herrschenden Bürokratie. Trotz des scheinbaren Triumphes Stalins im Kampf gegen seine politischen Gegner hielten viele Bolschewiki seinen Sieg nicht für endgültig. Davon zeugt der Versuch, 1932 einen Block aus Vertretern aller gegen Stalin gerichteten oppositionellen Strömungen zu bilden.

Das vorliegende Buch will die komplizierten Wege des innerparteilichen Kampfes im Zeitraum 1928 bis 1933 untersuchen.

Siehe auch:
zum Arbeiterpresse Verlag
(11. März 2006)
Arbeiterpresse Verlag auf der Leipziger Buchmesse
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