Washington diskutiert über Ausweitung der Gewalt im Irak

Nachdem vergangene Woche bei der Zwischenwahl der Irakkrieg von einer breiten Mehrheit der amerikanische Bevölkerung abgelehnt wurde, arbeiten republikanische wie demokratische Vertreter des politischen Establishments der USA fieberhaft an der Ausarbeitung einer neuen Politik, die eine vollständige Niederlage abwenden und die amerikanische Vorherrschaft in dem ölreichen Land sichern soll.

Es gibt wichtige taktische Differenzen innerhalb und zwischen den beiden Parteien. Sie sind Ausdruck der strategischen Niederlage, vor der der amerikanische Imperialismus im Irak steht, sowie ein Ausdruck des scharfen Widerspruchs, der zwischen der allgemeinen Stimmung in der amerikanischen Bevölkerung - die den Krieg als unrechtmäßig betrachtet - und sämtlichen Fraktionen des politischen Establishments besteht. Letztere sind sich einig, dass eine Niederlage wie in Vietnam katastrophale Folgen für die Weltposition des amerikanischen Imperialismus hätte.

Die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der politischen Elite wurden man am Sonntag in Fernseh-Talkshows deutlich. Senator John McCain, der inbrünstigste republikanische Kriegsbefürworter, forderte eine Eskalation der Gewalt, wofür die Entsendung zusätzlicher Truppen erforderlich wäre. Senator Carl Levin, ab Januar Vorsitzender des Streitkräfteausschusses im neu gewählten, demokratisch dominierten Kongress, argumentierte für einen begrenzten Abzug der Truppen, der in den nächsten "vier bis sechs Monaten" beginnen sollte.

McCain und Senator Joseph Lieberman aus Connecticut, der führende Kriegsfalke der Demokraten, traten in der Sendung "Meet the Press" von NBC auf. McCain, der vergangene Woche ein provisorisches Komitee gebildet hat, um seine Präsidentschaftskandidatur für 2008 vorzubereiten, hat sich schon mehrfach mit der Forderung zu Wort gemeldet, die Militäroperationen im Irak, und besonders in Bagdad, auszuweiten. Er tritt dafür ein, Moktada al-Sadr, den Führer der schiitischen Mahdi-Miliz, "zu entfernen".

In seinen Bemerkungen am Sonntag erläuterte McCain die Folgen einer Niederlage im Irak für das amerikanische Militär. Er sagte, das wäre viel schlimmer als in Vietnam. "Ich habe kein Interesse an einer Kulisse... wie auf dem Dach der amerikanischen Botschaft in Saigon, nur tausendmal schlimmer."

Er fuhr fort: "Ich glaube, ein Rückzug oder ein Rückzugsdatum würden zu Chaos in der Region führen, und die meisten Militärexperten sind der gleichen Meinung. Ich glaube, wir können noch eine Menge tun, um die Lage zu retten, aber das erfordert auf jeden Fall zusätzliche Truppen."

Sein Interviewer Tim Russert von NBC zitierte Umfragen, die zeigen, dass 82 Prozent aller Amerikaner gegen eine militärische Eskalation im Irak sind. Er fragte: "Wie können Sie nach diesen Wahlen dem Land vorschlagen: ‚Schickt mehr Truppen in den Irak’?" McCain antwortete: "Ich kann nur tun, was ich für das Beste für diese jungen Leute in der Armee halte. Alles andere wäre unmoralisch und unehrenhaft."

Mit anderen Worten, Moral und Ehre verlangen, den demokratischen Willen der amerikanischen Bevölkerung zu missachten und die wirklichen Interessen sowohl der amerikanischen Soldaten, von denen jeden Monat etwa hundert sterben, wie auch die Interessen des irakischen Volkes, von dem jeden Monat Tausende abgeschlachtet werden, zu ignorieren.

McCain empfahl eine taktische Änderung, nämlich die Aktivitäten des US-Militärs in der Provinz Anbar und in anderen Gebieten, wo sunnitische Aufständische aktiv sind, neu zu konzentrieren, und gleichzeitig Druck auf das amerikanische Marionettenregime von Nuri al-Maliki auszuüben, damit diese hart gegen die schiitischen Milizen in Bagdad durchgreift.

Lieberman war gleichermaßen entschlossen, die militärischen Operationen im Irak fortzusetzen - ohne Rücksicht auf die Stimmung in der Bevölkerung. Seine taktischen Rezepte unterschieden sich leicht von denen McCains: Er forderte, Druck auf die Maliki-Regierung auszuüben, um sie zu veranlassen, "diese Milizen zu entwaffnen und mehr Sunniten in eine Regierung der nationalen Einheit aufzunehmen". Eine Verschärfung der amerikanischen Angriffe in den sunnitischen Provinzen würde dies schwieriger, wenn nicht unmöglich machen.

Lieberman stimmte ausdrücklich mit dem Prinzip überein, das Bush schon früher geäußert hatte und das McCain jetzt wiederholte: "Wir als gewählte Führer können die Verteidigungs- und die Außenpolitik, unsere nationale Sicherheitspolitik, nicht von öffentlichen Meinungsumfragen diktieren lassen."

Russert fragte: "Kann man mit einem Land weiter Krieg führen, das diesen Krieg nicht will?" Liebermans Antwort war entlarvend. "Das kann man nicht", sagte er. "Deshalb müsssen wir einen überparteilichen Konsens für den Sieg im Irak, der immer noch erreichbar ist, schaffen ... Das ist das große Problem, die Terroristen können uns auf dem Schlachtfeld im Irak nicht besiegen, aber wir können den Krieg hier zu Hause verlieren, wenn wir nicht anfangen, überparteilich zu arbeiten und das Vertrauen und die Hoffnung des amerikanischen Volkes zurückzugewinnen."

In verständliches Deutsch übersetzt, sagt Lieberman in der Tat: Wir wissen, dass das amerikanische Volk gegen den Krieg ist und am 7. November entsprechend gewählt hat. Wir, das politische Establishment, müssen eine überparteiliche Kriegspolitik entwickeln, die verhindert, dass diese Antikriegsmehrheit in der politischen Debatte in Washington etwas mitzureden hat. Wir müssen das Zwei-Parteien-System nutzen, um der Antikriegsmehrheit das Wahlrecht zu entziehen.

Die Rolle der Führung der Demokraten im Kongress besteht darin, zur Beschwichtigung der öffentlichen Meinung als Kriegsgegner aufzutreten, während sie sich gleichzeitig die Hände freihält für Manöver und eine Absprache mit der Bush-Regierung, das die Fortsetzung des Kriegs ermöglicht.

Senator Levin sagte in der ABC-Sendung "This Week": "Das Volk hat auf eine sehr, sehr starke Weise klar gemacht, dass es die Regierungspolitik nicht will." Er fügte hinzu: "Wir müssen in vier bis sechs Monaten eine stufenweise Umschichtung unserer Truppen aus dem Irak einleiten." Diese Erklärung wurde in den US-Medien prominent verbreitet, als ob das ein schnelles Ende des Krieges bedeuten würde. Levin stellte seinen Vorschlag jedoch nicht als wirklichen Rückzugsplan vor, sondern als Mittel, die Maliki-Regierung unter Druck zu setzen, Washingtons Befehle auszuführen und gegen die Schiitenmilizen vorzugehen.

Levins Formulierung wurde von Senator Joseph Biden unterstützt, der an der Spitze des Auswärtigen Ausschusses des Senats stehen wird, und ebenso vom zukünftigen Führer der Senatsmehrheit, Harry Reid. Letzterer wandte jedoch ein, es solle kein genaues Datum gesetzt werden, und die tatsächlichen Entscheidungen über Truppenabzüge sollten den Offizieren vor Ort überlassen werden. Mit dieser Formulierung stellt er gleichzeitig das Prinzip der zivilen Kontrolle über das Militär in Frage.

Sowohl die Demokraten im Kongress als auch die Bush-Regierung setzen ihre Hoffnung auf die Iraq Study Group, ein überparteiliches Gremium, das vom ehemaligen Außenminister James Baker geleitet wird, einem langjährigen Vertrauten der Bush-Familie. Die Iraq Study Group soll als Vehikel dienen, um ein Übereinkommen in der Irakpolitik zu erzielen.

Mehrere republikanische Komiteemitglieder, unter ihnen auch Baker selbst und Robert Gates, Bushs Kandidat für die Nachfolge von Donald Rumsfeld im Pentagon, haben sich in der Öffentlichkeit kritisch zur Weigerung der Bush-Regierung geäußert, mit regionalen Mächten wie Syrien und dem Iran zu verhandeln, die im Irak Einfluss haben. Baker führte schon direkte Gespräche mit iranischen und syrischen Regierungsvertretern, um abzuklopfen, wie viel eine Zusammenarbeit dieser Länder kosten würde. Das Gremium wird vermutlich vor allem eine solch erweiterte Diplomatie empfehlen. Die Gruppe traf am Montag mit Bush und Cheney und am Dienstag mit der Kongressführung der Demokraten zusammen.

Ein demokratisches Mitglied der Iraq Study Group, der frühere Stabschef des Weißen Hauses unter Clinton, Leon Panetta, wurde in der Sonntagsausgabe der San Jose Mercury-News mit der Aussage zitiert, die Regierungsbeamten hätten in nicht-öffentlichen Äußerungen dem Gremium die Lage sehr viel ernster geschildert als gegenüber der Öffentlichkeit. "Wir konnten nach manchen dieser Sitzungen nur den Kopf schütteln angesichts der katastrophalen Lage im Irak", sagte er.

Es wird erwartet, dass der Bericht der Iraq Study Group noch vor Ende des Jahres vorgelegt wird. Was auch immer die Vereinbarung sein wird, die daraus hervorgeht, es wird bestimmt eine Kombination von militärischer Gewalt und diplomatischen Manövern sein, um die Position der USA im Irak und im umliegenden Nahen Osten zu behaupten. Das Ergebnis wird zweifellos eine Fortsetzung und sehr wahrscheinlich Intensivierung des Blutbades im Irak sein.

In diese Richtung argumentierte ein Leitartikel der Sonntagsausgabe der New York Times. Anfänglich hat die Times die Invasion im Irak unterstützt und der Bush-Regierung bei ihren Bemühungen geholfen, die Öffentlichkeit einzuschüchtern, indem sie reißerische und unbegründete Berichte über angebliche Massenvernichtungswaffen im Irak publizierte. Als die US-Besatzung ins Strudeln geriet und auf eine Katastrophe zusteuerte, nahm die Times eine kritischere Haltung an, während sie nach wie vor die Hoffnung aufrecht erhielt, man könne immer noch etwas an der Intervention retten.

In ihrem jüngsten Leitartikel, der die Forderungen nach einem schnellen Rückzug aus dem Irak zurückweist, erklärt die Times :

"Wenn Amerikas Rückzugspläne nicht mit einer entschlosseneren Anstrengung gekoppelt werden, die Sicherheitskräfte des Iraks aufzubauen und seine sektiererischen Konflikte zu schlichten, dann wird ein stufenweiser Rückzug das Abgleiten des Iraks in den Bürgerkrieg nur beschleunigen. Die im Irak zurückbleibenden amerikanischen Soldaten werden dann einer noch größeren Gefahr ausgesetzt werden. Wir fürchten außerdem, dass die Iraker nur an Vergeltung denken werden, solange sie nicht sehen, dass Sicherheit und Wiederaufbau möglich sind. Aus diesem Grund haben wir einen letzten Vorstoß zur Stabilisierung Bagdads vorgeschlagen. Das würde eine zumindest vorübergehende Vergrößerung der amerikanischen und irakischen Truppenpräsenz auf Bagdads Straßen erfordern."

Die Times, die im Allgemeinen die Position der Führungsschicht der Demokraten artikuliert, schlägt vor, die Politik von McCain mit der von Levin - oder vielmehr den Inhalt der ersteren mit der Rhetorik der letzteren - zu kombinieren, um der militärischen Eskalation eine "Antikriegs"-Fassade zu verschaffen.

Die gleiche Ausgabe der Times bringt einen längeren Artikel ihres Chefkorrespondenten im Irak, John F. Burns. Er erläutert - unter wohlwollender Zustimmung - ausführlich die politischen Maßnahmen für den Irak, die von den politischen Entscheidungsträgern beider Parteien mit immer größerer Schärfe gefordert werden. Unter dem Titel "Stabilität oder Demokratie: Könnte ein neuer starker Mann helfen?" führt der Artikel Gründe dafür an, den "demokratischen" Anspruch der US-Besatzung aufzugeben und einen starken Mann aus dem Militär einzusetzen, der die Eskalation der Gewalt durch das amerikanische Militär zu sanktionieren und dabei mit ihr zusammenzuarbeiten hätte.

Burns, ein besonders unehrliches und zynisches Exemplar unter den verrufenen Medienpropagandisten des US-Imperialismus, stellt das Komplott von amerikanischem Geheimdienst und Militär als Reaktion auf den Volkswillen der irakischen Massen hin. Wie er versichert, rufen sie lautstark nach einer Militärdiktatur:

"Es wird ein starker Mann gebraucht, sagen sie [die einfachen Iraker]... Soll er die Feinheiten rechtmäßiger Prozesse und der Menschenrechte, ja selbst die leuchtenden demokratischen Institutionen, die Amerika hier einführen wollte, mit Füßen treten, wenn er nur Frieden bringt."

Burns ignoriert natürlich solche "demokratischen Institutionen" amerikanischer Herkunft wie Abu Ghraib, Falludscha, Massenverhaftungen, Gefangenenlager, den täglichen Terror und das Töten, dem schon Hunderttausende Iraker zum Opfer gefallen sind. Er bezieht sich auch nicht auf die jüngsten Meinungsumfragen, die zeigen, dass eine überwältigende Mehrheit der Iraker den unverzüglichen Abzug amerikanischer Truppen fordern.

Der Times -Korrespondent schlägt vor, die Operation eleganter durchzuführen als den Putsch von 1963 in Südvietnam, als das US-Marionettenregime von Ngo Dinh Diem mit Unterstützung Amerikas beseitigt wurde. "Am Ende lag er tot, eine Kugel im Kopf, im hinteren Teil eines in Amerika fabrizierten Schützenpanzerwagens vor dem Saigoner Präsidentenpalast", schreibt er.

Burns fügt hinzu: "Der beste Anwärter auf den Posten des starken Manns unter den säkularen Irakern wäre auf jeden Fall Ayad Allawi, den die Amerikaner 2004 zum Premierminister der ersten Regierung nach Hussein ernannt haben. Mr. Alawi ist zwar Schiite, hat aber starke Verbindungen zu Sunniten und einen Ruf als jemand, der hart durchgreift, der bis in seine Zeit als junger Vollstrecker des Baath-Regimes zurückreicht."

Der Vorschlag, diesen langjährigen "Aktivposten" der CIA und notorischen Killer für den Posten des starken Manns der USA im Irak zu benennen, unterstreicht den kriminellen Charakter der gesamten US-Intervention im Irak und die Komplizenschaft aller Flügel des amerikanischen politischen Establishments. Liberale wie Konservative, Demokraten wie Republikaner arbeiten bei diesem illegalen kolonialistischen Abenteuer zusammen, das sie um jeden Preis fortsetzen wollen, egal wie viele irakische oder amerikanische Opfer es noch kosten wird.

Siehe auch:
Todesurteil gegen Saddam Hussein - Ein Hohn auf die Gerechtigkeit
(7. November 2006)
In Washington wird die Forderung nach einem "Kurswechsel" in der Irakpolitik immer lauter
( 24. Oktober 2006)
Für die sofortige Beendigung der Besetzung des Irak und den Rückzug der Truppen!
( 26. Oktober 2006)
Rumsfelds Entlassung: Das erste Bauernopfer nach den Wahlen in den USA
( 11. November 2006)
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