80 Tote bei Raketenangriff auf Koranschule in Pakistan

Ein verheerender Raketenangriff am frühen Montagmorgen auf eine Koranschule in Chingai in der abgelegenen pakistanischen Provinz Bajaur hat mindestes 80 Schüler und Lehrer das Leben gekostet. Der Angriff zerstörte einen Gebäudekomplex, aus dem nur wenige Überlebende gerettet werden konnten. Er löste wütende Proteste im ganzen Land aus.

Der pakistanische Präsident Pervez Muscharraf übernahm die Verantwortung für den Gewaltstreich. Er behauptete, alle Tote seien "militante" Islamisten gewesen, die dort für Angriffe auf amerikanische Truppen jenseits der nahen afghanischen Grenze ausgebildet worden seien. "Wer behauptet, dass diese Leute unschuldig waren, der lügt", sagte er.

Bewohner der betroffenen Ortschaft betonten dagegen, dass sich sogar fünfjährige Kinder unter den Opfern befanden. Der 22-jährige Abu Bakar, einer der Überlebenden, sprach von seinem Bett im Krankenhaus von Peschawar mit der Presse und sagte, dass nur zwei weitere Schüler im Alter von 15 und 16 Jahren überlebt hätten. "In der Madrasse wurden keine Kämpfer ausgebildet", sagte er. "Wir waren dort, um Gottes Religion zu studieren."

Die Schule wurde von dem Kleriker Maulana Liakuat geleitet, der bei dem Angriff ums Leben kam. Er war ein Führer der islamistischen Organisation Tanzim Nifaz Shariat Mohammadi (TNSM) und machte kein Geheimnis aus seiner Unterstützung für die US-feindlichen Aufständischen in Afghanistan. Unterschiedlichen Presseberichten zufolge hatte Liakuat Verbindung zu Aiman al Sawahiri und anderen hohen Al Qaida-Führern, die möglicherweise das eigentliche Ziel des Angriffs waren.

Aber nicht einer der Vorwürfe gegen Liakuat und seine Schüler ist bewiesen. Selbst wenn die Behauptungen stimmen sollten, wäre dieses keine Rechtfertigung für das unterschiedslose Massaker, das in der Koranschule verübt wurde. Dennoch findet sich in der gesamten internationalen Presseberichterstattung keinerlei Kritik an der Aktion. Im Namen des amerikanischen "Kriegs gegen den Terror" kann das Militär jetzt unangefochten als Richter, Jury und Henker in einer Person aufzutreten.

Mehr als 15.000 Menschen protestierten am Dienstag in Khar, der größten Stadt in der Provinz Bajaur, gegen das Massaker. Die zornigen Demonstranten riefen: "Tötet Bush! Tötet Muscharraf!" und "Jeder Freund Amerikas ist ein Verräter!" Auf der Kundgebung wurde eine Resolution angenommen, nach der jeder zu steinigen ist, der Spitzeldienste für die pakistanische Armee oder die US-Regierung leistet. Kleinere Kundgebungen fanden in Karatschi, Peschawar, Lahore, Quetta und Islamabad statt, wo Teilnehmer amerikanische Flaggen verbrannten und Musharrafs Sturz forderten.

Muscharraf und die pakistanische Armee dementierten heftig die Behauptung, US-Truppen hätten den Angriff ausgeführt. Ortsansässige informierten die Medien, dass unbemannte amerikanische Flugzeuge vom Typ Predator, die auch Raketen abfeuern können, vor dem Angriff über das Dorf geflogen seien. "Wir hörten ungefähr um 4.50 Uhr zwei Explosionen. Die pakistanischen Hubschrauber tauchten erst etwa zehn Minuten später auf", sagte ein Augenzeuge der BBC.

Der pakistanische Armeesprecher Generalmajor Schaukat Sultan verweigerte eine Aussage zu der Frage, wie viel amerikanische Unterstützung in Anspruch genommen wurde. "Geheimdienstliche Erkenntnisse wurden sicherlich gemeinsam genutzt, aber zu sagen, sie [die US-Truppen] hätten die Operation ausgeführt, ist vollkommen falsch." Die Sprecherin des Außenministeriums Tasnim Aslam ging noch einen Schritt weiter und wies jede Vermutung zurück, dass Pakistan auf ausländischen Druck reagiert haben könnte. "Es gab definitiv keine Einflussnahme oder Druck von Außen", sagte sie. "Das haben wir selbst gemacht."

Aslams Bemerkungen sind einfach absurd. Seit Monaten fordern amerikanische Vertreter, angefangen bei Bush selbst, von Muscharraf ein härteres Vorgehen gegen US-feindliche Aufständische, die von Pakistan aus operieren. Seit die Angriffe auf Nato-Kräfte in Afghanistan zugenommen haben, sieht sich Pakistan mit immer dringenderen Forderungen konfrontiert, etwas zu unternehmen. Amerikanische Generäle stehen besonders dem Waffenstillstand kritisch gegenüber, den die pakistanische Regierung in der Grenzregion Nordwasiristan mit Stammesführern geschlossen hat. Es heißt von US-Seite, dies habe den Aufstand in Afghanistan gestärkt.

Muscharraf, der die amerikanische Besetzung Afghanistans 2001 unterstützt hatte, vollführt einen Balanceakt. Seine Rückendeckung für den amerikanischen "Krieg gegen den Terror" hat breite Opposition gegen seine Regierung hervorgerufen, besonders in den Grenzregionen, wo die Paschtunenstämme enge Beziehungen zu ihren Stammesbrüdern in Afghanistan unterhalten. Er schickte 70.000 pakistanische Soldaten in die bis dahin autonomen Stammesgebiete und unterzeichnete erst einen Waffenstillstand, als seine Truppen bei Zusammenstößen mit örtlichen Milizen beträchtliche Verluste erlitten hatten.

Angesichts der zu erwartenden Oppositionswelle ist keineswegs klar, warum Muscharraf diesen jüngsten Angriff ausführen ließ - falls er ihn überhaupt angeordnet hat. Die Regierung befand sich mitten in Verhandlungen mit Stammesführern in Bajaur, um mit ihnen ein ähnliches Abkommen auszuhandeln wie das, was Anfang September in Nordwasiristan getroffen wurde. Anwohner sagten, dass einige der bei dem Angriff Getöteten an den Verhandlungen beteiligt waren. Ein Journalist von NBC News sagte, die Unterzeichnung des Abkommens sei für Montag, den Tag des Angriffs auf die Koranschule erwartet worden.

Der amerikanische Thinktank Stratfor hält es für wahrscheinlich, dass der Angriff vom amerikanischen Militär oder als gemeinsame amerikanisch-pakistanische Aktion geführt wurde. "Die Vorstellung, dass pakistanische Kräfte den Schlag selbst ausgeführt haben sollen, löst Verwunderung aus. Erstens hat die pakistanische Armee in der Vergangenheit noch nie versucht, gezielte Schläge gegen militante Islamisten zu führen. Zweitens wäre es höchst ungewöhnlich, dass das pakistanische Militär einen solchen Angriff führt, während die Regierung hochrangig besetzte Verhandlungen mit Stammesführern führt, um zu verhindern, dass die Gegend von militanten Islamisten als Rückzugs- und Aufmarschgebiet für Angriffe besonders in Afghanistan genutzt wird."

Das amerikanische Militär hat schon früher solche Überfälle verübt. Im Januar setzten US-Einheiten Raketen gegen das nahe gelegene Dorf Damadola ein und töteten dreizehn Menschen, darunter Frauen und Kinder. Der Angriff löste wütende Proteste in der ganzen Region aus. Muscharraf sah sich damals zu der Aussage gezwungen, die USA hätten kein Recht, Operationen auf pakistanischem Territorium durchzuführen. Was das US-Militär angeht, so hat die letzte Gräueltat den zusätzlichen Vorteil, Muscharrafs Bemühungen um ein Friedensabkommen in Bajaur und anderen Grenzregionen zu torpedieren.

Es ist durchaus möglich, dass Muscharraf lieber die Verantwortung für den Angriff auf sich nimmt, als zuzugeben, dass er den USA die Ausführung solcher Operationen in Pakistan erlaubt hat. Stratfor kommentiert: "Für Muscharraf ist die Vorstellung, dass die pakistanische Armee einen Schlag gegen die eigenen Bürger geführt hat, durchaus weniger schädlich als die Auffassung, dass er eine Verletzung der nationalen Souveränität zugelassen hat. Das Problem ist natürlich, dass in der Bevölkerung schon beide Versionen mehr oder weniger in Umlauf sind. Und Muscharraf kann lediglich das kleinere Übel wählen."

In jedem Fall trägt die Bush-Regierung die Hauptverantwortung für die jüngste Gräueltat. Erst hat sie die Katastrophe in Afghanistan angerichtet, und jetzt trägt sie, direkt oder indirekt, den Krieg nach Pakistan, mit unkalkulierbaren und potentiell explosiven Folgen für ihren Verbündeten, das Regime von Muscharraf.

Siehe auch:
Washington beunruhigt über zunehmendes Desaster in Afghanistan
(1. September 2006)
Struck will Bundeswehreinsatz in Afghanistan ausweiten
( 2. September 2005)
Afghanistan: "Demokratie" nach dem Diktat der USA
( 9. Januar 2004)
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