Verdi und der Streik an der Berliner Charité

"Mit großer Mehrheit" habe die Tarifkommission am Mittwoch vergangener Woche das Ergebnis der Verhandlungen mit der Berliner Charité angenommen, berichtet die Website der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Insbesondere die Wiederherstellung der Tarifbindung sei ein großer Erfolg. Die Arbeitszeit sei auf einheitlich 39 Stunden festgelegt und betriebsbedingte Kündigungen seien bis Ende 2012 ausgeschlossen worden. Das Eckpunktepapier müsse nun lediglich noch in Vertragsform gebracht werden.

Damit ist offenbar einer der in der Öffentlichkeit am wenigsten wahrnehmbaren Arbeitskämpfe in Berlin Geschichte geworden.

Seit 2003 befanden sich die etwa 14.000 nichtärztlichen Beschäftigten der Berliner Charité -des größten europäischen Klinikums - im tariflosen Zustand, weil der SPD/PDS-Senat zuvor aus der Tarifgemeinschaft der Länder ausgestiegen war. Ein neuer Vertrag, der den Jahrzehnte alten Bundesangestelltentarif (BAT) ersetzen sollte, war systematisch verzögert worden. Für die Beschäftigten gab es deshalb während der gesamten Zeit keine Gehaltserhöhungen, und neu Eingestellte bekamen individuelle und wesentlich schlechtere Verträge.

Die Arbeitszeiten betrugen für sie üblicherweise 40 Stunden, und Weihnachts- und Urlaubsgeld gab es nicht. Dem Unternehmen Charité ersparte dies und der tarifliche Schwebezustand für die Altverträge jährlich etwa 20 Millionen Euro Personalkosten. Dass Verdi diese Verzögerungstaktik akzeptierte und 26 erfolglose Verhandlungsrunden hinnahm, bevor sie im vergangenen September den Streik aufs Tableau brachte, war für das Klinikmanagement natürlich sehr hilfreich.

Um weitere Einsparungen durchzusetzen, versuchte die Leitung des Klinikums in der Vergangenheit mit den Gewerkschaften einen Haustarifvertrag auszuhandeln, der einen Gehaltsverzicht von zehn Prozent festschreiben sollte. Als Begründung wurde vom Management die finanzielle "Notlage" der Charité angeführt. Brachte der tarifliche Schwebezustand 20 Millionen Euro jährliche Einsparungen, so strebte man mit dem Haustarifvertrag weitere 40 Millionen an und wollte dazu auch Entlassungen durchsetzen. Im Gespräch war auch die Schließung eines Charité-Standortes.

Das Klinikum gab, um die Argumente für den Haustarifvertrag zu untermauern, ein Gutachten beim Berliner Zentrum für angewandte Gesundheitsförderung und Gesundheitswissenschaften (Zagg) in Auftrag. Das im Frühjahr 2005 veröffentlichte Gutachten bescheinigte dem Klinikum jedoch, es verfüge "gegenwärtig und für die nahe Zukunft über ausreichend Eigenkapital und Liquidität". Allerdings, so die Gutachter, gerate die Charité ab 2007 in eine finanzielle Misere, wenn nicht gegengesteuert werde. Die Gutachter rechnen für 2010 mit knapp 100 Millionen Euro Defizit - die Charité bezifferte es auf 212 Millionen.

Die Ursachen dieses vorausberechneten Defizits liegen nicht im Klinikum selbst. Die Streichung von 98 Millionen Euro Senatsmitteln durch den SPD/Linkspartei.PDS-Senat im Zeitraum von 2006 bis 2010, die Umstellung der Leistungsabrechnung des Klinikums auf das neue Abrechnungssystem nach Fallpauschalen und die ab Januar 2007 wirksame, kostenerhöhende Mehrwertsteuer stehen dahinter.

Die Gewerkschaften wiesen nicht etwa kategorisch den Versuch der Charité-Leitung zurück, die Kürzungen des Senates auf die Gehälter und Rahmenbedingungen der Beschäftigten umzulegen, sondern argumentierten angelehnt an das Zagg-Gutachten. "Die Charité befindet sich nicht in einer so kritischen Lage, die einen Notlagentarifvertrag rechtfertigt", resümierte im Mai vergangenen Jahres der Verdi Gewerkschaftssekretär Georg Güttner-Mayer das Gutachten - was den möglichen Umkehrschluss schon andeutet.

"Wir sehen keine Basis mehr für Verhandlungen über das Sanierungskonzept", erklärte zeitgleich Carsten Becker, der Vorsitzende der Verdi-Betriebsgruppe. Die Gewerkschaft räumte jedoch ein, dass sich das Klinikum auf die "geänderten Rahmenbedingungen der Krankenhausfinanzierung einstellen" und dazu auch Personal abbauen müsse.

Angesichts des Zagg-Gutachtens wäre das sofortige Einschwenken der Gewerkschaft auf die Forderung des Arbeitgebers jedoch mit einem zu hohen und offensichtlichen Gesichtsverlust verbunden gewesen.

Der unbefristete Streik

Vor diesem Hintergrund kam es im vergangenen Monat zur Urabstimmung über den Streik, der dann am 12. September begann. Thomas Flierl, Aufsichtsratsvorsitzender der Charité und Berlins Kultur- und Wissenschaftssenator sowie Führungsmitglied der Linkspartei.PDS, versuchte, den Streik mit einem Angebot zur gestaffelten Gehaltserhöhung um 4,4 Prozent und dem Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen noch in letzter Minute zu verhindern. Sein Vorschlag wurde von Gewerkschaftssekretär Werner Koop mit den Worten zurückgewiesen: "Erst wenn konkrete und verbindliche Angebote vorliegen, wird Verdi über eine Aussetzung nachdenken."

Damit begann der "unbefristete" Streik. Am ersten Tag wurden die Operationssäle von zwei der drei Charité-Standorte bestreikt. Am 13. September - dem zweiten Streiktag - wurde in den Operationssälen aller drei Standorte die Arbeit eingestellt. Etwa 250 von 14.000 Mitarbeitern standen nun im Streik.

Das Bestreiken der Operationssäle führte allerdings zu dem kuriosen Resultat, dass die Pflegekräfte mehr als das übliche Arbeitsaufkommen zu bewältigen hatten. Mit Streikbeginn trat eine vom Grundsatz her sinnvolle Notfallvereinbarung in Kraft, die sicherstellen sollte, dass Patienten, deren Gesundheitszustand keinen Aufschub der Operation erlaubt, keine Nachteile aus dem Arbeitskampf haben. Diese Regelung wurde von Seiten des Klinikums missbraucht. "Auf meiner Station sind plötzlich fast nur noch Notfälle", stellte eine Schwester ironisch gegenüber der Presse fest.

In der zweiten Woche streikten insgesamt - nicht etwa zeitgleich - rund 1.200 Mitarbeiter, d.h. knapp zehn Prozent der Beschäftigten. Dies wurde auf der Streikwebsite Verdis als großartiger Erfolg gefeiert.

Am 18. September machte die Arbeitgeberseite eine kleine Geste auf neue Verhandlungen, woraufhin Verdi am 22. September, nach acht Werktagen, ihren unbefristeten Streik aussetzte. Angeboten wurde vom Management allerdings lediglich nochmals, die bereits von Flierl ins Spiel gebrachte gestaffelte Gehaltserhöhung um insgesamt 4,4 Prozent. Zu Beginn nächsten Jahres, so das inzwischen akzeptierte Angebot, werden 2,4 Prozent und am 1. Oktober 2007 und 2008 jeweils nochmals ein Prozent Gehaltserhöhung gewährt. Nach insgesamt sechs Jahren, seit 2002, wären dann 4,4 Prozent Zuwachs erreicht, womit nicht einmal der Kaufkraftverlust infolge der Geldentwertung ausgeglichen wird.

Dieser angebotene Gehaltszuwachs wurde von der Arbeitgeberseite jedoch sofort mit der Forderung nach einer "Kompensation" verknüpft, der Kürzung beim Weihnachts- und Urlaubsgeld. Sollte diese geforderte Kürzung "zu hoch" sein, werde jedoch weiter gestreikt, hieß es auf der Verdi-Website. Grundsätzlich war damit schon akzeptiert, was jetzt zum Verhandlungsergebnis wurde: Den kargen 4,4 Prozent Plus wird ein Minus entgegensetzt.

Eine ursprünglich aufgestellte Forderung von Verdi war der Verzicht auf Privatisierungen im Klinikum. Während in der Verdi-Online-Streikzeitung vom 20. September diese Forderung noch zu finden war, fehlte sie - ohne Kommentar - bereits in den Forderungen der ersten Verhandlungsrunde nach Aussetzung des Streikes. Die Privatisierung hat jedoch schicksalhafte Bedeutung für die Charité, die Beschäftigten und für die Gesundheitsversorgung insgesamt.

Mit der Charité-Facility-Management (CFM), einem Unternehmen unter Beteiligung des Dussmann-Konzerns, wurde bereits die Privatisierung eingeleitet - ohne dass Verdi tatsächlich etwas dagegen unternahm. Ein Pfleger berichtet über die Bedingungen in der CFM: "Die Arbeitsbedingungen in dem neuen Unternehmen sind schlecht. Überstunden gelten laut Vertrag als bezahlt, die Arbeit wurde ungeheuer verdichtet. Selbst in Zimmern mit immungeschwächten Patienten wird jetzt weniger gereinigt. Diese Kollegen sind allerdings so eingeschüchtert, dass es schwierig ist, Genaueres über ihre Situation herauszubekommen." Auch die Bezahlung neu eingestellter Mitarbeiter der CFM liegt weit unter dem Gehaltsniveau der Kollegen, die aus der Charité in die CFM kamen.

Von einem Verzicht auf Privatisierungen ist in der Verhandlungsinformation auf der Verdi-Website nichts zu finden. Stattdessen hörte man, nachdem die Klage Berlins auf Teilentschuldung durch den Bund vor dem Verfassungsgericht in Karlsruhe abgewiesen worden war, aus dem Mund der Referentin Thomas Flierls, Brigitte Reich, dass die Linkspartei die Charité zur Zeit nicht privatisieren wolle. Sie sei "derzeit nicht zu verkaufen", weil sie sich zunächst konsolidieren müsse. "Wir" (der Senat) "haben lange vor der Karlsruher Entscheidung mit der Charité einen harten Sanierungskurs vereinbart."

Wenige Worte sagen zuweilen viel aus. Die Privatisierung wird bald wieder zum Thema und die "Konsolidierung", die als eine wichtige Voraussetzung der Privatisierung gilt, wird zuvor auf Kosten der Belegschaft vorangetrieben.

TVÖD im Vergleich zum BAT

Verdi forderte die Tarifbindung der Mitarbeiter durch Übernahme des Tarifvertrags im Öffentlichen Dienst (TVÖD). Allerdings zeigte selbst hier die Website der Gewerkschaft einen merkwürdigen Wechsel zwischen der ersten und dritten Verhandlungsrunde nach Aussetzung des Streiks. Lautete die Forderung in der ersten Runde "Übernahme des TVÖD", veränderte sie sich in der dritten Runde kommentarlos zur Forderung: "TVÖD gilt ab 1. Januar 2007 mit wenigen Ausnahmen." Welche Ausnahmen? Wer legt sie fest und welche Mitarbeiter sollen ausgenommen sein?

Der TVÖD selbst, dessen Übernahme nun als Erfolg verkauft und angestrebt wird, ist alles Andere als ein Segen.

Die Abkehr vom über 40 Jahre gültigen Bundesangestelltentarifvertrag (BAT) zugunsten des TVÖD führt dazu, dass die Lebenseinkommen der Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes um 40.000 bis über 100.000 Euro geringer ausfallen. Vor allem Beschäftigte mit Kindern trifft es hart. Eine der Hauptursachen dafür liegt in der Abschaffung des Senioritätsprinzips, der Steigerung des Gehalts in festgelegten Stufen mit zunehmendem Alter.

Der TVÖD enthält eine Leistungslohnregelung von acht Prozent. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine zusätzliche Zahlung zum Gehalt, sondern um ein Schwanken von Minus vier bis Plus vier Prozent des regulären Gehaltes. "Leistungslöhne schaffen nicht nur Willkür, sie sind ein Instrument gegen unliebsame Kollegen", betonen oppositionelle Gewerkschafter, die sich in einem "Netzwerk-Verdi" zusammengeschlossen haben.

Die "Meistbegünstigungsklausel" des TVÖD ist ein weiteres Instrument, um die Gehälter abzusenken und die Arbeitsbedingungen zu verschlechtern. Schließt Verdi andernorts mit einem Land eine schlechtere tarifliche Regelung ab, so kann diese sofort im Bund und in den Kommunen übernommen werden.

Auch das Gerangel um den eingangs erwähnten Haustarifvertrag könnte sich erledigen, denn der "Tarifvertrag zur Zukunftssicherung" (ZuSi) bietet durch die Hintertür Instrumente, die im Falle einer Notlage die getroffenen Tarifvereinbarungen aushebeln können. Anfang dieses Jahres lobte Verdi diesen Zusatzvertrag der Gewerkschaft mit den Trägern öffentlicher Krankenhäuser als großen Erfolg. "Gerade Krankenhäuser in öffentlicher Trägerschaft können nicht mehr damit rechnen, dass sie zusätzliche Mittel von ihrem Träger erhalten." Deshalb müssten "im Einzelfall abweichende Regelungen vom TVÖD" möglich sein, heißt es in einer Pressemitteilung.

Wer sich damit tröstet, dass dieser Zukunftssicherungsvertrag in den gerade abgeschlossenen Verhandlungen mit der Leitung der Charité nicht behandelt wurde, sollte einen Blick über die Berliner Landesgrenzen werfen. Im Klinikum Kassel wurde deutlich, wie bereitwillig Verdi für Gespräche zur Verfügung steht, um mit dem "ZuSi" Lasten auf die Beschäftigten abzuwälzen. Das oben erwähnte Zagg-Gutachten kündigt bereits für das kommende Jahr auch für die Charité die "Misere" an. Gestützt auf den "ZuSi" können tarifliche Ansprüche der Beschäftigten ohne jeden Ausgleich um bis zu sechs Prozent gekürzt werden.

Die Fakten zeigen: Der Streik war nicht darauf ausgerichtet dauerhafte Verbesserungen zu erzielen. Deshalb wurde er auch auf Sparflamme geführt. Die Ziele wurden verwässert oder ohne Erklärung - beispielsweise beim wichtigen Punkt der Privatisierungen - fallen gelassen. Unernsthaftigkeit und Heuchelei bestimmten das Geschehen.

In der laufenden Woche sind nun an den verschiedenen Charité-Standorten Verdi-Mitgliederversammlungen geplant, auf denen das Verhandlungsergebnis besprochen werden soll. Das Produkt des hinter den Kulissen stattgefundenen Verhandlungsgemauschels lässt sich vielleicht am Besten als Placebo bezeichnen. Die minimalen Einkommensverbesserungen, die angesichts der Preissteigerungen und Einsparungen in anderen Bereichen keine sind, sollen die Beschäftigten ruhig stellen, während die Klinikleitung in Absprache mit dem rot-roten Senat weitere drastische Kürzungen vorbereitet.

Mit den üblichen Phrasen der Art, "mehr war nicht drin" oder "das Schlimmste haben wir verhindert", wird die Verdi-Verhandlungsführung versuchen, das Verhandlungsergebnis durchzusetzen. Statt das Ergebnis murrend anzunehmen, ist es notwendig, mit der Gewerkschaftsführung zu brechen, deren Funktionäre in exakt denselben Parteien sitzen, die im Senat die Sozialkürzungen beschließen und angesichts des Verfassungsgerichts-Urteils noch verschärfen werden.

Das Bündnis der gesamten - auch ärztlichen - Belegschaft der Charité, weiterer Kliniken sowie anderer Bereiche des öffentlichen Dienstes kann nur dann zustande kommen, wenn die Lohnabhängigen sich unabhängig von der Funktionärsbürokratie organisieren. Nur so können neue, unvermeidliche Auseinandersetzungen ernsthaft vorbereitet werden. Ernsthafte Kämpfe jedoch würden sofort politische Fragen aufwerfen und die Frage nach einem Programm stellen, das sich der kapitalistischen Logik widersetzt und auf die Errichtung einer Gesellschaft orientiert ist, deren Credo nicht private Gewinne, sondern die Bedürfnisse der Bevölkerung sind.

Siehe auch:
Berliner Charité im Streik
(15. September 2006)
Politische Lehren aus dem Ärztestreik
( 9. September 2006)
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