Präsidentenwahl in Frankreich:

Bayrou präsentiert sich als Alternative zu Sarkozy

Es hat in Frankreich Tradition, dass sich abgehalfterte kleinbürgerliche Politiker zu Volkstribunen aufschwingen und, gestützt auf die Apparate der alten Arbeiterorganisationen, nach den Hebeln der Macht greifen. Vor dem Zweiten Weltkrieg spielte die Radikale Partei diese Rolle, die trotz ihres Namens zutiefst konservativ und arbeiterfeindlich war.

Die Radikalen bildeten 1936 gemeinsam mit den Sozialdemokraten die Volksfrontregierung, unterdrückten mit Unterstützung der Stalinisten eine mächtige Generalstreiksbewegung und retteten so die bürgerliche Ordnung. Auf diese Weise wurde eine der letzten Chancen vertan, die verhängnisvolle Rechtsentwicklung in Europa zu stoppen, die schließlich in den Zweiten Weltkrieg mündete. Édouard Daladier, der Führer der Radikalen, unterzeichnete zwei Jahre später das Münchener Abkommen, das Hitler freie Hand zur Zerschlagung der Tschechoslowakei gab, und verbot in Frankreich die Kommunistische Partei.

Heute versucht François Bayrou, der Präsidentschaftskandidat der bürgerlich-liberalen Union pour la Démocratie Française (UDF), in die Fußstapfen der Radikalen zu treten. Er macht sich den politischen Bankrott der reformistischen Parteien zunutze, um sich als einzigen Kandidaten darzustellen, der einen Wahlsieg Nicolas Sarkozys verhindern kann. Bayrous gesamter Wahlkampf beruht auf diesem Argument. Den breiten Bevölkerungsschichten, die den Kandidaten der gaullistischen UMP fürchten und hassen, bietet er sich als Retter vor Sarkozy an, den herrschenden Eliten als Politiker, der ihre Interessen durchsetzen kann, ohne - wie Sarkozy - eine soziale Explosion zu provozieren.

Die Kampagne Bayrous ist ganz auf diese Fragen abgestimmt. Der Rest sind salbungsvolle Phrasen, hohle Versprechen und belanglose Floskeln. Typisch ist seine zentrale Wahlparole, "Mit all unseren Kräften für Frankreich", die alles und nichts bedeuten kann.

Der 55-jährige Sohn eines Kleinbauern aus den Pyrenäen, wo er bis heute lebt, ist Gymnasiallehrer für klassische Literatur und praktizierender Katholik. Seine UDF erhielt bei der letzten Parlamentswahl gerade 4,8 Prozent der Stimmen und verfügt in der Nationalversammlung über 29 Sitze - dank Wahlabsprachen mit Sarkozys UMP. Dabei steht längst nicht die gesamte Partei hinter Bayrou. Führende Liberale - wie UDF-Gründer Valéry Giscard d’Estaing, Bildungsminister Gilles de Robien und die frühere Präsidentin des Europaparlaments Simone Veil - unterstützen die Kandidatur Sarkozys.

1993 bis 1997 amtierte Bayrou als Erziehungsminister. Damals gelang es ihm, eine Million Menschen gegen sein Vorhaben auf die Beine zu bringen, konfessionelle und private Schulen staatlich zu finanzieren. Was ihn heute nicht daran hindert, sich als Anwalt der Lehrer und Verteidiger der Laizität auszugeben.

Dieser gewiefte und wendige Politiker tritt nun als Kandidat an, der Frankreich "versöhnen", die Kluft zwischen Rechts und Links überwinden, den Menschen "Hoffnung" geben und das Land in eine bessere Zukunft führen kann. Er geißelt die etablierten Politiker auf der Rechten und der Linken als "Sektierer", weil sie sich einer Zusammenarbeit widersetzten und nur daran interessiert seien, "ihre Festungen und Burgen wieder aufzubauen, damit alles bleibt wie bisher". Ihnen müsse man "die Macht entreißen und sie in ihre Studierstuben zurückschicken", poltert er.

Am Mittwochabend organisierte Bayrou seine abschließende Wahlveranstaltung in der Sporthalle von Paris-Bercy. Der Zweck des Meetings bestand darin, den Beweis zu erbringen, dass Bayrou eine Halle mit 17.000 Plätzen füllen kann und damit den nötigen Rückhalt besitzt, um Sarkozy in der zweiten Wahlrunde zu schlagen. Meinungsforscher gehen davon aus, dass viele noch unentschiedene Wähler in der ersten Runde den Kandidaten unterstützen werden, dem sie die größten Chancen gegen Sarkozy einräumen.

Das Meeting in Bercy war sorgfältig inszeniert, unter Einsatz modernster Videotechniken und unerträglich lauter Musik. Der Kandidat erschien mit einer Stunde Verspätung, durchquerte händeschüttelnd, sichtbar nur auf großen Videowänden, den Saal und stellte sich schließlich auf eine überdimensionierte Bühne, umringt von zwei Jubelchören, die das Publikum zu Ola-Wellen animierten.

Die Bühne war ganz in Orange gehalten. Ebenso die T-Shirts des Parteivolks. Man hatte aus Belgrad, Kiew und Tiflis gelernt, auf deren bunten Revolutionen sich Bayrou ausdrücklich berief. Wer heutzutage Ordnung und Eigentum mittels einer "Revolution" verteidigen will, hüllt sich in die Farbe Orange. Auch die Parole "Wird sind das Volk" hat Bayrou recycelt. "Wir sind Bayrou", stand auf den orangen T-Shirts zu lesen.

Das Publikum in Bercy war auffallend weiß. Man musste lange suchen, um in der vollbesetzten Sporthalle ein Gesicht zu entdecken, das auf einen Immigrationshintergrund schließen ließ. Und obwohl die Veranstaltung in Paris stattfand, war ein großer Teil der Veranstaltungsteilnehmer unübersehbar ländlicher Herkunft. Der ländliche Mittelstand, der unter den Auswirkungen der Globalisierung zu leiden hat, bildet die eigentliche Klientel Bayrous. An ihn richtet sich sein Wahlprogramm.

Leo Trotzki bezeichnete die Radikalen einst als "Partei, mit deren Hilfe die Großbourgeoisie die Hoffnungen des Kleinbürgertums auf eine allmähliche und friedliche Besserung seiner Lage wach hielt". Diese Charakterisierung trifft auch auf Bayrou zu. Ein großer Teil seiner Rede war den kleinen und mittleren Unternehmen gewidmet, denen er mehr öffentliche Aufträge, niedrigere Steuern, weniger Bürokratie und das Recht auf zwei Arbeitsplätze ohne Steuer- und Sozialabgaben versprach.

Bayrous Wahlprogramm bedient die Sehnsüchte nach einer idealistisch verklärten Vergangenheit, in der Frankreich noch groß, die Welt in Ordnung und die sozialen Spannungen erträglich waren. Es liest sich über weite Strecken wie ein sozial- oder christdemokratisches Programm aus den sechziger Jahren. Es verspricht eine größere Rolle der Sozialpartner, mehr Mittel für Forschung und Erziehung, bessere öffentliche Dienstleistungen in den Problemvierteln und auf dem Lande, Umweltschutz, sozialen Wohnungsbau, Erhöhung der Mindestrenten, Demokratisierung des öffentlichen Lebens und vieles mehr.

Die Beschwörung einer idealisierten Vergangenheit ist überhaupt ein Merkmal des gegenwärtigen Wahlkampfs. Sie kennzeichnet die Kampagnen sämtlicher Kandidaten. Die Realitäten des 21. Jahrhunderts - die Folgen der Globalisierung, die Außenpolitik, der Krieg im Irak - kommen praktisch nicht vor, sie werden ausgeblendet. Drei Kandidaten - Philippe de Villiers vom Mouvement pour la France, Frédéric Nihous von der Jägerpartei und Gérard Schivardi vom Parti des Travailleurs - haben die Verteidigung der ruralitè, des ländlichen Lebens, sogar zum Mittelpunkt ihrer Kampagne gemacht.

Verfolgt man den Wahlkampf aus dem Innern des Landes, fühlt man sich, als wäre man auf einem anderen Planeten. Wunschdenken und Verdrängung der Realität beherrschen über weite Strecken den Wahlkampf. Das erfüllt einen politischen Zweck. Das Schüren von Illusionen dient dem Wählerfang und soll der Bevölkerung die Augen verschließen vor dem, was auf sie zukommt.

Bayrous soziale Versprechen werden Makulatur sein, sollte er den Einzug ins Elysée schaffen - was wenig wahrscheinlich ist. Im Mittelpunkt seines Programms steht die Sanierung der Staatsfinanzen, und das schließt jede Erhöhung der Ausgaben für gesellschaftliche Zwecke aus. Außerdem verteidigt Bayrou vehement die neoliberale Wirtschaftspolitik der Europäische Union. Die Ablehnung der Europäschen Verfassung durch die französischen Wähler bezeichnet er als Missverständnis, zurückzuführen auf die unverständliche Formulierung des Verfassungstextes.

Durch die Fassade der sozialen Demokratie, der Gerechtigkeit und der Solidarität, die Bayrous Wahlprogramm ziert, schimmert überall dessen rechter, autoritärer Kern. In Bercy bezeichnete er sich als Linker in Fragen der "Chancen- und Rechtsgleichheit" und als Rechter in Fragen der "Härte und Strenge". Er fordert eine raschere Verurteilung straffälliger Jugendlicher, betonte, die Erziehung müsse auf Anforderungen und nicht auf Laschheit beruhen, und trat für den Bau eines zweiten französischen Flugzeugträgers ein. Er befürwortet eine strikte Kontrolle der Immigration und lehnt eine allgemeine Legalisierung der Einwanderer ohne Papiere ab.

Wie seine Vorgänger in der Radikalen Partei wird Bayrou nicht zögern, brutal gegen jede Bewegung von unten vorzugehen, die die bestehende kapitalistische Ordnung in Frage stellt. Seine Differenzen mit Sarkozy sind rein taktischer Natur. Wie dieser verteidigt er uneingeschränkt die Interessen des großen Kapitals.

Dass sich dieser rechte Provinzpolitiker ohne Anhang als Alternative zu Sarkozy aufspielen kann, verdankt er dem politischen Bankrott der Sozialdemokraten und Stalinisten. Die Sozialistische Partei hat sich durch ihre Politik in der Ära Mitterrand und Jospin weitgehend diskreditiert und ist mit der Wahl Ségolène Royals zur Präsidentschaftskandidatin noch weiter nach rechts gegangen. Die Kommunistische Partei, einst die größte des Landes, hat sich 35 Jahre lang im Schlepptau der Sozialisten bewegt und ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Ihre Kandidatin Marie-George Buffet muss froh sein, wenn sie zwei Prozent der Stimmen erreicht.

Mittlerweile sind drei prominente Sozialisten - Michel Rocard, Bernard Kouchner und Claude Allègre - ins Lager Bayrous übergelaufen, wie Bayrou in Bercy triumphierend verkündete.

Rocard, ein früherer Premierminister, traf sich am Sonntag mit Bayrou zum Mittagessen. Kurz davor hatte er ein Bündnis von Sozialisten und UDF noch vor dem ersten Wahlgang vorgeschlagen, was praktisch auf die Unterstützung Bayrous hinauslief. Inzwischen beschimpft er die Gegner eines solchen Bündnisses als Helfer Sarkozys. "Ich beschuldige die Hüter des sozialistischen Dogmas, die jedes Bündnis außer mit den Kommunisten für unrein halten, dass sie effektive Verbündete Sarkozys sind", sagte er.

Auch die Parteien der radikalen Linken haben maßgeblich dazu beigetragen Bayrou zu stärken. Sie weigern sich beharrlich, für einen Bruch mit der Sozialistischen Partei und den Aufbau einer unabhängigen politischen Bewegung der Arbeiterklasse einzutreten. Stattdessen verbreiten sie die Illusion, man könne Royal durch Druck von unten zu einer anderen Politik bewegen.

Die Vertreter der herrschenden Klasse sind sich der Rolle dieser Parteien seit langem bewusst. Die Medien behandeln sie mit ausgesuchter Zuvorkommenheit. Sie wissen, dass sie als Sicherheitsventil für die weitverbreitete soziale Unzufriedenheit nötig sind und keine Gefahr für die bestehende Ordnung darstellen. Der bekannte Publizist Alain Duhamel, ein Unterstützer Bayrous, hat dies kürzlich in der Zeitung Libération auf den Punkt gebracht.

Duhamel schreibt über die sechs Kandidaten links der Sozialistischen Partei: "Alle sechs führen eine Sprache, die eher protestierend als revolutionär ist. Einige singen noch die Internationale und schwenken rote Fahnen, aber es besteht keine Gefahr, dass sie den Burggrafen der 40 führenden Aktiengesellschaften Angstträume einjagen. ... Sie stellen ihren ideologischen Popanz zurück und konzentrieren ihre Anstrengungen auf soziale Ziele, die keinen Bruch mit dem Kapitalismus voraussetzen. Sie debattieren ernsthaft über die wünschbare Höhe des Mindestlohns (netto, nicht brutto, wie sie präzisieren), wie es 1980 auch die Sozialistische Partei getan hätte. Im Grunde ihres Herzens bewahren sie sicher ihre alte Religion. Aber unmittelbar haben sie nur den Ehrgeiz, als sozialer Hebel zu dienen, der träumt, er könne Ségolène Royal zwingen, einige zusätzliche kleine Schritte zu machen. Ihr Bescheidenheit mäßigt sie."

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