Späte Sühne für SS-Massaker in Marzabotto

Mehr als 60 Jahre nach einem brutalen Massaker, bei dem SS-Einheiten im norditalienischen Marzabotto Hunderte von Menschen umbrachten, hat ein italienisches Militärgericht am 13. Januar 2007 in La Spezia zehn beteiligte SS-Offiziere in Abwesenheit zu lebenslanger Haft und Entschädigungszahlungen in Höhe von 100 Millionen Euro an die Überlebenden und Angehörigen der Opfer verurteilt. Sieben weitere Angeklagte wurden freigesprochen.

Bei den jetzt Verurteilten handelt es sich nach Angaben des Gerichts um Paul Albers (88), Josef Baumann (82), Hubert Bichler (87), Max Roithmeier (85), Max Schneider (81), Heinz Fritz Traeger (84), Georg Wache (86), Helmut Wulf (84), Adolf Schneider (87) und Kurt Spieler (81).

Ein Mitglied des Verbands der Angehörigen der Marzabotto-Opfer kommentierte das Urteil mit den Worten: "Endlich hat die Gerechtigkeit gesiegt. Seit Jahrzehnten warten wir auf dieses Urteil."

Ferruccio Laffi, der 14 Verwandte bei dem Massaker verlor, sagte nach der Urteilsverkündung: "Es wurde Gerechtigkeit geübt - wenigstens ein Bisschen."

Was die Bestrafung der Täter betrifft, hat das Urteil vorwiegend symbolische Bedeutung, da sie alle in Deutschland leben und aller Wahrscheinlichkeit nach nicht nach Italien ausgeliefert werden. Aufgrund bisheriger Erfahrungen mit ähnlichen Fällen und des hohen Alters der Angeklagten ist es auch unwahrscheinlich, dass sie in Deutschland wegen den ihnen nachgewiesenen Verbrechen vor Gericht gestellt werden.

Das Massaker, das die SS-Einheiten der 16. SS-Panzergrenadierdivision unter Führung des berüchtigten SS-Sturmbannführers Walter Reder zwischen dem 29. September und 1. Oktober 1944 an der Zivilbevölkerung der norditalienischen Gemeinde Marzabotto anrichteten, gehört zu den schlimmsten und brutalsten Kriegsverbrechen der Nazis während des Zweiten Weltkriegs. 800 Menschen, hauptsächlich Frauen, Kinder und ältere Männer, wurden allein in Marzabotto niedergemetzelt und ermordet. Weitere 1.000 in umliegenden Orten, die zur Gemeinde Marzabotto gehören. Unter den Opfern waren etwa zweihundert Kinder, manche erst wenige Tage alt.

Die SS-Männer drangen in Wohnhäuser, Höfe, Schulen und Kirchen ein, erschossen ihre Opfer mit Maschinengewehren, warfen Handgranaten in Häuser und zündeten Gebäude und Kirchen an. Selbst auf Leichenberge wurde noch geschossen. Die wenigen Überlebenden entkamen nur deshalb dem Tod, weil sie von den Leichen ihrer Angehörigen und Nachbarn verdeckt waren oder sich verstecken konnten.

Wenige Wochen vorher, am 12. August 1944, hatte sich die gleiche SS-Einheit zusammen mit Wehrmachtssoldaten an dem Massaker von Sant’ Anna di Stazzema beteiligt, dem innerhalb weniger Stunden 560 Menschen zum Opfer fielen.

Die Schilderung der Vorgänge, die der Militärhistoriker Gerhard Schreiber in seinem Buch "Deutsche Kriegsverbrechen in Italien - Täter, Opfer, Strafverfolgung" gibt, lässt die Grausamkeit und Brutalität des Vorgehens der Wehrmachts- und SS-Truppen erahnen:

"Wehrmachts- und SS-Truppen sowie italienische SS-Männer bewegten sich in vier Stoßrichtungen auf Sant’ Anna zu und verübten bereits auf dem Weg mehrere Massaker. In Vaccareccia sperrte die Truppe 70 aufgegriffene Personen in einen Stall, ermordete sie dann mit Handgranaten und Maschinenpistolen und setzte zum Schluss Flammenwerfer ein. Der gesamte Ort wurde gleichsam eingeäschert. Das Gleiche passierte in Franchi und Pero. Wer nicht rechtzeitig fliehen konnte, wurde erbarmungslos niedergemacht."

"In Sant’ Anna selbst drängten Himmlers Panzergrenadiere die Einwohner und Flüchtlinge auf dem von einer Mauer umschlossenen Platz vor der Kirche zusammen," schildert Schreiber die dann folgenden Ereignisse. "Da es nur einen einzigen Zugang gab, befanden sich die Menschen in einer perfekten Falle. Die Mörder begannen nun ihr Werk, danach bildeten die sterblichen Überreste von 132 Männern, Frauen, Kindern und Kleinkindern einen Leichenberg. Nunmehr waren die Flammenwerfer an der Reihe, weshalb viele der Toten nie identifiziert werden konnten. Als sich der Verband anschließend wieder ins Tal nach Valdicastello begab, ließen die SS-Männer, die in Mulino Rosso noch einmal 14 und in Capezzano di Pietrasanta sechs Menschen umbrachten, insgesamt 560 Ermordete zurück. Nur bei 390 Toten, unter denen sich 75 Kinder im Alter bis zu zehn Jahren befanden, vermochten die Behörden später die Identität festzustellen. Das jüngste Opfer zählte drei Monate, das älteste 86 Jahre."

Die Massaker an der italienischen Zivilbevölkerung waren Rache- und Vergeltungsaktionen für den Widerstand, den die Bevölkerung und italienischer Partisanengruppen gegen die deutsche Besatzung leisteten. Laut den Befehlen der Nazi- und Wehrmachtsführung sollten für ein deutsches Opfer 50 Italiener ermordet werden. Im Verlauf der Operationen im Raum Marzabotto wurde daraus eine Relation von eins zu hundert.

Die Massaker von Sant’ Anna di Stazzema und Marzabotto waren zwei von zahlreichen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Wehrmacht, SS und andere deutsche Verbände während des Zweiten Weltkriegs in der Sowjetunion, in Jugoslawien, in Osteuropa und in anderen besetzten Gebieten verübten. In Italien reihten sich diese Massaker in unzählige andere Kriegsverbrechen ein, die umso brutaler, grausamer und rücksichtsloser wurden, je mehr die deutschen Truppen durch den Vorstoß der Alliierten und den Widerstand von Partisanen in Bedrängnis gerieten.

Von den für die Massaker von Sant’ Anna di Stazzema und Marzabotto Hauptverantwortlichen der 16. SS-Panzergrenadier-Division wurde wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs als einziger ihr Anführer, SS-Sturmbannführer Walter Reder, juristisch zur Verantwortung gezogen.

Am 31. Oktober 1951 verurteilte ihn ein italienisches Militärgericht in Bologna zu lebenslanger Festungshaft. Die Berufungsinstanz bestätigte das Urteil 1954. Aufgrund von massivem Druck, den deutsche Regierungsvertreter und der Vatikan hinter den Kulissen ausübten, wurde sein Fall 1980 von einem Militärgericht in Bari erneut verhandelt, das seine Strafe herabsetzte. Fünf Jahre später, am 24. Januar 1985, konnte der Waffen-SS-Offizier Walter Reder als freier Mann in sein Heimatland Österreich zurückkehren und wurde dort von Verteidigungsminister Friedhelm Frischenschlager, einem Mitglied von Jörg Haiders FPÖ, mit Handschlag begrüßt.

In Italien löste dies eine Welle der Empörung aus. Überlebende und Angehörige der Opfer hatten sich gegen eine Begnadigung dieses Kriegsverbrechers ausgesprochen. Um seine Opfer noch weiter zu verhöhnen, widerrief Reder ein Jahr nach seiner Freilassung die Entschuldigung, die er während seiner Haft gegenüber der Gemeinde Marzabotto geheuchelt hatte, sowie die von ihm während des Prozesses in Bari bekundete "Reue". 1991 starb Reder im Alter von 75 Jahren in Wien.

Ungesühnte NS-Verbrechen

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren nur einige wenige Hauptverantwortliche des Nazi-Regimes in Nürnberg vor ein internationales Gericht gestellt und als Kriegsverbrecher zur Verantwortung gezogen worden. Schon kurze Zeit später kühlte das Interesse an einer weiteren Verfolgung der Nazi-Verbrechen merklich ab. Der Grund dafür lag vor allem in dem beginnenden Kalten Krieg gegen die Sowjetunion, bei dem die neu gegründete Bundesrepublik Deutschland als Bündnispartner im Rahmen der Nato eine wichtige Rolle spielte.

Viele, die sich in der Wehrmacht, im Verwaltungsapparat, in der Justiz und in der Wirtschaft die Finger schmutzig gemacht und an Verbrechen beteiligt hatten, wurden wieder gebraucht. Und eine Abrechnung der Arbeiterklasse mit dem gesellschaftlichen Nährboden des Naziregimes, dem kapitalistischen System, sollte unter allen Umständen verhindert werden. Insbesondere die deutsche Justiz hatte kein Interesse an der Aufarbeitung der Verbrechen der der Nazizeit, da viele der damals Verantwortlichen ihre Karrieren in der Bundesrepublik bruchlos fortgesetzt hatten.

Aber auch in Italien gab es - mit Ausnahme einiger Militärtribunale in der unmittelbaren Nachkriegszeit - kein allzu großes Interesse an der Strafverfolgung der nationalsozialistischen und faschistischen Verbrechen.

Im April des Jahres 2004 schrieb die Frankfurter Rundschau anlässlich der Eröffnung des Prozesses in La Spezia gegen Verantwortliche an dem Massaker in Sant’ Anna di Stazzema: "Denn nicht nur in Deutschland mahlen die Mühlen der Justiz langsam, auch in Italien ließ man die Verfahren zu zahllosen Massakern deutscher Truppen gegen die Zivilbevölkerung in der Endphase des Zweiten Weltkriegs weitgehend versanden. Zu Anfang der fünfziger Jahre, als die Erinnerung noch frisch war und viele Täter - deutsche Soldaten und oft italienische Faschisten - noch greifbar gewesen wären, wurden viele Aktendeckel geschlossen."

Neben der Tatsache, dass die Bundesrepublik und Italien Bündnispartner in der Nato wurden, spielte auch die enge wirtschaftliche Zusammenarbeit im Rahmen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, dem Vorläufer der EU eine Rolle. Noch entscheidender war die Sorge der herrschenden Kreise um das labile soziale Gleichgewicht und die Absicherung der bürgerlichen Herrschaft in Italien selbst. Denn auch in Italien wurde die Arbeiterklasse an einer wirklichen Abrechnung mit dem Faschismus und Kapitalismus gehindert.

Die zentrale Verantwortung dafür trägt die stalinistische Kommunistische Partei unter ihrem damaligen Führer Palmiro Togliatti. Togliatti hatte 18 Jahre im Exil, davon die längste Zeit in Moskau als enger Vertrauter Stalins verbracht, bevor er 1944 nach Italien zurückkehrte. Während viele Mitglieder und Unterstützer der Kommunistischen Partei in der Widerstandsbewegung gegen den Faschismus und die deutsche Besatzung kämpften, trat Togliatti als Vertreter der Kommunistischen Partei der bürgerlichen Koalitionsregierung in Rom bei, um das Überleben des Kapitalismus in Italien zu sichern. Er übernahm das Amt des Justizministers und des stellvertretenden Ministerpräsidenten.

In seiner Funktion als Justizminister erließ Togliatti bereits im Juni 1946 eine Generalamnestie im Namen der "nationalen Versöhnung". Daraufhin wurde ein Großteil der Faschisten aus der Haft entlassen: Von 12.000 kamen 7.000 bis zum 31. Juli 1946 frei. Im Juli 1947 saßen nur noch 2.000 im Gefängnis; 1952 waren 266 übrig geblieben. Eine weitere Amnestie am 19. November 1953 führte nicht nur zur Freilassung fast aller restlichen Häftlinge, sondern galt auch für jene Faschisten, die untergetaucht waren. (Quelle: Norbert Frei (Hrsg.): "Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg", Göttingen 2006, S. 556)

Aufgrund der Wiederaufnahme der Prozesse gegen deutsche Kriegsverbrecher durch das Militärgericht in La Spezia im Jahr 2004 wurden die Massaker von Sant’ Anna di Stazzema und Marzabotto vor Gericht rekonstruiert und zumindest einige der Verantwortlichen angeklagt und verurteilt. Wegen dem Massaker in Sant’ Anna di Stazzema wurden im Juni 2005 zehn ehemalige deutsche SS-Soldaten in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt.

Von Seiten der deutschen Justiz wurden keinerlei Maßnahmen unternommen, um die in Deutschland lebenden Kriegsverbrecher zur Verantwortung zu ziehen. Zwei der in Italien verurteilten ehemaligen SS-Männer wurden durch Recherchen von Journalisten und Initiativen, die sich für die Aufarbeitung und Verurteilung von SS-Kriegsverbrechern in Deutschland einsetzen, aufgespürt und ihre Rolle öffentlich bekannt gemacht.

So berichtete das ARD-Magazin kontraste im August 2006 über den 82-jährigen Karl Gropler, der am Massaker von Sant’ Anna di Stazzema beteiligt war und seit Jahrzehnten unbehelligt in Wollin, einem Dorf in Brandenburg lebt.

Gerhard Sommer, ebenfalls von dem Gericht in La Spezia wegen seine Teilnahme an dem Massaker in Sant’ Anna di Stazzema verurteilt, lebt seit Anfang 2005 in einer Seniorenwohnanlage in Hamburg. Auch in diesem Fall weigert sich die zuständige Staatsanwaltschaft, Anklage gegen den Kriegsverbrecher zu erheben.

Die deutsche Justiz, die sich über Jahrzehnte einer Aufarbeitung der Nazi-Kriegsverbrechen verweigert und Entschädigungsklagen überlebender Opfer und deren Angehöriger abgewehrt hat, hat auch nach den jüngsten italienischen Urteilen keinerlei Interesse, diese Verbrechen aufzuarbeiten und ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken.

Angesichts der Teilnahme von Bundeswehr und KSK-Spezialeinheiten an zahlreichen internationalen Kriegseinsätzen und der deutschen Beteiligung am schmutzigen "Krieg gegen den Terror" soll kein Präzedenzfall geschaffen werden, der Verantwortliche an völkerrechtswidrigen Handlungen zur Verantwortung zieht.

Siehe auch:
Deutsche Kriegsverbrechen in Italien - Teil 1: 60 Jahre seit dem Massaker von Sant’ Anna di Stazzema
(3. September 2004)
Deutsche Kriegsverbrechen in Italien - Teil 2: Nazi-Terror und italienischer Widerstand
( 7. September 2004)
Deutsche Kriegsverbrechen in Italien - Teil 3: Politik der verbrannten Erde
( 8. September 2004)
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