Unfaires Verfahren endet mit Höchststrafe

Zum Urteil im Fall Motassadeq

Am 8. Januar ist der Marokkaner Mounir al Motassadeq vom Oberlandesgericht Hamburg aufgrund der Anschläge vom 11. September 2001 wegen Beihilfe zum Mord in 246 Fällen und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zur höchstmöglichen Strafe von 15 Jahren Gefängnis verurteilt worden.

Da das Bundesverfassungsgericht am 12. Januar eine Beschwerde des Angeklagten nicht zur Entscheidung angenommen hat und eine Revision gegen das Strafmaß als aussichtslos gilt, ist das Verfahren in Deutschland damit abgeschlossen. Die Anwälte von Motassadeq wollen allerdings noch vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ziehen.

Motassadeqs Fall war das weltweit erste Gerichtsverfahren wegen der Terroranschläge vom 11. September. Es hatte im Jahr 2002 begonnen. Das Oberlandesgericht (OLG) Hamburg hat sich dreimal, der Bundesgerichtshof (BGH) als höchstes ordentliches Gericht zweimal mit der Anklage gegen Motassadeq befasst. In liberalen Medien ist das Urteil mild kritisiert, in konservativen begrüßt worden.

Fest steht: Hier wurde ein Angeklagter zur Höchststrafe verurteilt, weil die wichtigsten Zeugen der Verteidigung in Guantanamo Bay oder ähnlichen Verliesen "verschwunden" sind, deutsche und amerikanische Behörden das abdecken, deutsche Gerichte dies legitimieren und ihr Urteil auf der Grundlage von dünnen Indizien aufbauen.

Das erste Urteil wurde Anfang 2003 gefällt und lautete auf Höchststrafe - 15 Jahre Haft - wegen Beihilfe zum Mord in 3.000 Fällen. Motassadeq wurde für schuldig befunden, zum innersten Kreis der Attentäter um Mohammed Atta und andere gehört und als deren "Statthalter" in Hamburg an den Attentaten beteiligt gewesen zu sein. Die Beweislast war äußerst dünn.

Die US-Regierung hatte eine Vernehmung der Hauptentlastungszeugen von Motassadeq abgelehnt, insbesondere von Ramzi Binalshibh, der eine führende Rolle bei den Anschlägen gespielt hatte und nun auf Guantanamo Bay eingekerkert sein soll. Ein Polizist der US-Bundespolizei FBI erhielt nur eine eingeschränkte Aussagegenehmigung vom US-Justizministerium und konnte wenig Neues über die Rolle Motassadeqs beitragen.

Auch der Bundesnachrichtendienst (BND) durfte den Richtern nichts über Aufenthalt oder über Vernehmungen eines mutmaßlichen Mitglieds von Al Qaida, des Deutsch-Syrers Mohammed Haydar Zammar berichten, der mit der Hamburger Zelle in engem Kontakt gestanden haben und mit ihrem Führer Mohammed Atta befreundet gewesen sein soll. Das Bundeskanzleramt untersagte dem BND eine Weitergabe dieser Informationen, da sie das vertrauensvolle Verhältnis zu anderen Geheimdiensten gefährden könne. Zammar sitzt im syrischen Foltergefängnis Far Falastin, wo er auch von deutschen Beamten befragt worden ist.

Gegen das Urteil legte Motassadeq damals Revision beim BGH in Karlsruhe ein. Dieser hob das Urteil dann tatsächlich auf und wies das OLG Hamburg an, den Fall erneut zu verhandeln. Der BGH begründete seine Entscheidung damit, dass das OLG im ersten Prozess die Hauptentlastungszeugen von Motassadeq oder zumindest die Aussagen insbesondere von Ramzi Binalshibh, nicht einbezogen habe.

Wörtlich führte der BGH aus: "Der Konflikt zwischen Geheimhaltungsinteressen der Exekutive einerseits und den Verteidigungsinteressen des Angeklagten sowie der Pflicht des Gerichts zur Wahrheitsermittlung andererseits darf nicht dazu führen, dass sich die Geheimhaltungsinteressen nachteilig für den Angeklagten auswirken. (...). Im Hinblick auf das Recht des Angeklagten auf eine faire Verfahrensgestaltung kann nicht hingenommen werden, dass ein ausländischer Staat durch die selektive Gewährung von Rechtshilfe den Ausgang des in Deutschland geführten Strafverfahrens in seinem Sinne steuert."

Der BGH sah allerdings im Verhalten der deutschen und amerikanischen Regierung kein Prozesshindernis, wegen dem sie das Verfahren hätten einstellen müssen. Dies hatte Motassadeqs Verteidigung gefordert. Karlsruhe begnügte sich vielmehr mit der Ermahnung, die "Verkürzung der Beweisgrundlage" bei der Urteilsfindung zu berücksichtigen. Daran halten sollte sich niemand, auch nicht der BGH selbst.

In dem darauf folgenden zweiten Verfahren im Jahr 2004, das wieder vor dem OLG Hamburg stattfand, an das der BGH den Fall zurückverwiesen hatte, wurden dann Aussagen Binalshibhs und anderer hochrangiger Mitglieder der Al Qaida verwertet. Sie besagten, dass Motassadeq in die Planungen für den 11. September nicht eingeweiht war.

Auch der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Heinz Fromm sagte aus, die Anschläge seien nicht von der "Hamburger Zelle", wie das noch im ersten Urteil festgestellt worden war, sondern in Afghanistan geplant worden.

Im Dezember 2003 wurde Abdelghani Mzoudi, Motassadeqs Landsmann, der ebenfalls wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 3.000 Fällen und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt worden war, vom OLG Hamburg freigesprochen, nachdem dem Gericht vom Bundeskriminalamt ein Fax übermittelt worden war, laut dem Mzoudi vermutlich nicht in die Attentatspläne eingeweiht gewesen war. Dies habe eine "Auskunftsperson" ausgesagt, die sich im Gewahrsam der US-Geheimdienste befände und von ihnen verhört worden sei. Es wurde allgemein angenommen, dass damit Ramzi Binalshibh gemeint war.

Im Motassadeq-Verfahren weigerte sich die US-Regierung nicht nur, Binalshibh selbst als Zeugen zur Verfügung zu stellen. Dasselbe galt für seine Verhörspersonen. Sie stellte noch nicht einmal die vollständigen Vernehmungsprotokolle zur Verfügung. Das einzige, was im Prozess Verwertung fand, war ein Fax, in dem die US-Regierung auf wenigen Seiten Verhöre von Binalshibh zusammenfasste. Das OLG ließ das Fax als Beweismittel zu, da es nicht "nachweislich" unter Folter zustande gekommen sei - was es nicht überprüft hatte.

Offenbar mit Blick auf Guantanamo Bay stellte der Senat fest, das Lager sei nicht schlimm. Ein Beweisverwertungsverbot komme nur in Fällen "besonders gewichtiger Menschenrechtsverletzungen" in Betracht. "Dazu zählt die bloße Nichtgewährung von Freiheit und Außenkontakten sowie die Versagung eines geordneten Gerichtsverfahrens (...) nach dem hier anzunehmenden bisherigen Zeitraum von höchstens noch unter drei Jahren (...) noch nicht."

Im Jahresbericht von amnesty international für 2005 kommentierte die Organisation nüchtern: "Im Verfahren gegen Mounir al-Motassadeq wegen Beihilfe zum Mord im Zusammenhang mit den Anschlägen vom 11. September 2001 lässt das Hanseatische Oberlandesgericht in Hamburg Zeugenaussagen zu, obwohl sie möglicherweise unter Folter zustande gekommen sind. Es handelt sich dabei um Auszüge aus Verhören von Ramsi Binalshibh, Mahamed Ould Slahi und Khaled Sheikh Mohamed, die sich an einem unbekannten Ort in der Gewalt der USA befinden. Die US-Regierung stellte die Aussagen zur Verfügung, verweigerte dem Gericht und der Verteidigung aber die Möglichkeit eines eigenen Verhörs bzw. Kreuzverhörs sowie Einsicht in die vollständigen Verhörakten. Indem es die Aussagen dennoch zulässt, verstößt das Oberlandesgericht gegen die Vorgaben aus Artikel 15 der Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlung, und Artikel 7 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte, denen Deutschland beigetreten ist."

Das Urteil in dem zweiten Verfahren gegen Motassadeq lautete sieben Jahre wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Unter anderem hatte Motassadeq selbst zugegeben, in einem Ausbildungslager der Al Qaida in Afghanistan gewesen zu sein.

Eine Beihilfe zum Mord sah das OLG Hamburg aber nicht mehr als gegeben an. Zwar sei Motassadeq mit den Attentätern eng befreundet gewesen und habe ihre Konten verwaltet, Überweisungen für sie getätigt und ähnliches mehr. Außerdem habe er ihre radikalreligiösen antiamerikanischen und antijüdischen Ansichten geteilt. Dennoch könne er nicht wegen Beihilfe zum Mord verurteilt werden; denn er habe die Dimension des Unrechts nicht gekannt. Der Plan, die Flugzeuge in das World Trade Centre und das Pentagon zu lenken, sei ihm unbekannt gewesen.

Gegen dieses Urteil legten Anklage und Verteidigung erneut Revision ein. Doch der BGH kritisierte das OLG nicht, weil es Aussagen verwertet hatte, die möglicherweise unter Folter zustande gekommen waren, und deren Protokolle dem Gericht dann nur sehr selektiv, nach einer Zensur durch die US-Regierung zugänglich gemacht wurden, ohne dass auch nur schriftliche Nachfragen erlaubt waren.

Karlsruhe folgte - wie schon das OLG Hamburg - fast ausschließlich der Argumentation der Bundesanwaltschaft und eben jener US-Regierung, die für die Verhör- und Haftbedingungen Binalshibhs und anderer Entlastungszeugen verantwortlich ist.

Das amerikanische Justizministerium und die Bundesanwaltschaft hatten die entlastenden Aussagen als unglaubwürdig und nur zum Schutz von Mittätern gemacht bezeichnet. Motassadeqs Anwalt hielt dem einen Bericht der offiziellen amerikanischen 9/11-Kommission entgegen, wonach Binalshibh manche Mittäter auch massiv belastet hatte, beispielsweise Zacarias Moussaoui, dem in den USA die Todesstrafe droht.

Darauf ging der BGH nicht ein, obwohl derselbe Senat der 2005 den Freispruch - durch das Oberlandesgericht Hamburg! - von Mzoudi aufgrund der Aussagen desselben Binalshibh bestätigt hatte.

Der BGH folgte der Beweiswürdigung des OLG und kam zu dem Schluss, Motassadeq sei der Beihilfe zum Mord schuldig, weil er zwar möglicherweise nichts von den konkreten Anschlagsplänen zum 11. September gewusst habe, wohl aber ganz allgemein von geplanten Abstürzen entführter Flugzeuge. Dies hatte bereits das OLG festgestellt, und sich dabei auf vage Aussagen von ehemaligen Kommilitonen Motassadeqs gestützt, die amerikafeindliche Äußerungen und die Worte Flugzeug und Pilot gehört haben wollten. Andere Mitstudenten hatten dagegen betont, Motassadeq sei definitiv kein religiöser Extremist gewesen.

Der BGH zog anders als das OLG den Schluss, Motassadeq habe deshalb zumindest den Tod der Insassen der Passagiermaschinen billigend in Kauf genommen. Er müsse deshalb zwar nicht wie von der Bundesanwaltschaft gefordert wegen Beihilfe zum Mord in über 3.000, wohl aber wegen desselben Delikts in 246 Fällen verurteilt werden. So viele Menschen waren am 11. September in den entführten Flugzeugen gestorben. Mit dieser Vorgabe verwies der BGH Mitte November 2006 die Sache erneut nach Hamburg zurück, um das Strafmaß festzusetzen.

Dort wurde zu diesem Zweck extra ein neuer Strafsenat eingerichtet - der Einwand der Verteidigung, hier handele es sich um ein laut Grundgesetz verbotenes Ausnahmegericht wurde, wie auch alle anderen Anträge der Verteidigung, abgeschmettert - und nach nur sechs Wochen und zwei Verhandlungstagen das Urteil auf Höchststrafe gefällt.

Was ist das Fazit? Ein Mann muss 15 Jahre ins Gefängnis, weil er - das ist das einzige, was wirklich bewiesen ist - andere kannte, die später Terroranschläge begingen, sich um ihre Finanzen und Verträge kümmerte, als sie länger im Ausland waren, und weil er in einem afghanischen Ausbildungslager der Qaida war.

Ein Verfahren, in dem so lange verhandelt wird, bis am Ende ein Ausnahmegericht die Höchststrafe verkündet, in dem die wichtigsten Zeugen der Verteidigung eingekerkert, vermutlich gefoltert und deren Aussagen nur so im Verfahren berücksichtigt werden, wie es der Regierung genehm ist - die Methoden der Bush-Regierung haben in Deutschland einmal mehr willige Helfer gefunden.

Loading