Deutsch-polnischer Konflikt beherrscht EU-Gipfel in Brüssel

Der EU-Gipfel, der am gestrigen Donnerstag in Brüssel begann, sollte der krönende Abschluss der halbjährigen deutschen Ratspräsidentschaft werden. In monatelanger Kleinarbeit hatte die Berliner Regierung die Mitgliedsländer bearbeitet, um einen Vertrag auf den Weg zu bringen, der an die Stelle der 2005 an den Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheiterten europäischen Verfassung tritt.

Zurzeit steht noch völlig offen, ob es zur Einigung über einen neuen Vertragsentwurf kommt. Experten gehen davon aus, dass der Gipfel bis in die frühen Morgenstunden des Samstags verlängert und das Ergebnis erst nach einer langen Nachtsitzung feststehen wird.

Vor allem am Widerstand der polnischen Regierung droht der Gipfel zu scheitern. Präsident Lech und Regierungschef Jaroslaw Kaczynski weigern sich kategorisch, die im ursprünglichen Verfassungsentwurf festgeschriebene Stimmengewichtung bei Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren.

Diese Regelung, die die deutsche Regierung in den neuen Vertrag übernehmen will, beruht auf dem Prinzip der "doppelten Mehrheit": Um einen Beschluss zu fassen, müssen im Ministerrat mindestens 55 Prozent der Staaten mit 65 Prozent der Bevölkerung zustimmen. Polen dagegen fordert, dass das Stimmengewicht nach der Quadratwurzel aus der Bevölkerungszahl berechnet wird. Auf diese Weise würde der Einfluss der größten Staaten reduziert und derjenige der kleineren erhöht.

Andere Staaten - wie Spanien und Luxemburg - drohen mit einem Veto, falls auf die polnische Forderung eingegangen wird. Die deutsche Ratspräsidentschaft hat sich bisher geweigert, auf den polnischen Vorschlag einzugehen.

Die Stimmenverteilung ist aber nicht die einzige umstrittene Frage auf dem Gipfel. Insgesamt, verlautet aus Regierungskreisen, gibt es noch 15 ungeklärte Fragen.

Von britischer Seite gibt es Vorbehalte dagegen, dass die EU-Grundrechte-Charta für verbindlich erklärt und EU-Recht Vorrang vor britischem Recht hat. Außerdem will London die Kompetenzen eines zukünftigen EU-Außenministers so weit wie möglich beschneiden. Die Niederlande drängen auf größere Veto-Rechte und Tschechien unterstützt als einziges Land die polnische Forderung nach einer anderen Stimmengewichtung.

Sollte der Gipfel scheitern, wäre dies wohl der auf lange Zeit letzte Versuch gewesen, der EU in ihrer gegenwärtigen Form mehr Geschlossenheit und außenpolitische Schlagkraft zu verleihen. Dann würden alte Pläne über ein "Kerneuropa" wieder aus den Schubladen gezogen.

Ein Misserfolg würde "zwangsläufig zu einem Europa der zwei Geschwindigkeiten führen", drohte der luxemburgische Ministerpräsident Jean-Claude Juncker am Vorabend des Gipfels im Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF). Juncker tritt häufig als Wortführer für gemeinsame Interessen Deutschlands, Frankreichs und der Benelux-Länder in Erscheinung.

Vielen Politikern in diesen Ländern käme eine solche Entwicklung nicht ungelegen, da ein Kerneuropa wesentlich handlungsfähiger wäre als die schwerfällige, 27 Staaten umfassende EU. Schon jetzt gibt es im Rahmen der EU zahlreiche Initiativen, an denen sich nur ein "Kern" von Ländern beteiligt - die gemeinsame Währung, das Schengen-Abkommen über die Aufhebung der Binnengrenzen oder der Prüm-Vertrag über gemeinsame Datenbanken zur Verbrechensbekämpfung.

Setzt sich diese Entwicklung fort, wäre die Folge ein Auseinanderdriften der EU, das Überhandnehmen nationaler Egoismen und die Herausbildung neuer Machtblöcke auf dem alten Kontinent. "Europa wird sich in der Mitte enger zusammenschließen und an den Rändern erodieren", prophezeite der CDU-Parlamentarier Elmar Brok.

Merkels Vertragsentwurf

Setzt sich die deutsche Regierung mit ihren Plänen durch, würde auch dies die EU stark verändern. Große Teile des Verfassungsvertrags, der in der europäischen Bevölkerung auf massive Ablehnung stößt, würden dann umgesetzt. Die Rolle der großen Mächte - insbesondere Deutschlands, aber auch Frankreichs, Italiens und Großbritanniens - würde erheblich gestärkt. Sie wären in der Lage, ihren Willen per Mehrheitsentscheidung durchzusetzen und eine wesentlich aggressivere Außenpolitik zu betreiben. Das schließt ein Aufbrechen neuer Konflikte in Europa allerdings nicht aus, sondern würde zwangsläufig solche nach sich ziehen.

Vor allem die deutsche Regierung drängt auf ein rasches Tempo. Kommt es in Brüssel zu einer Einigung, soll der neue Vertrag von einer Regierungskonferenz endgültig verabschiedet und bereits in zwei Jahren in Kraft gesetzt werden.

Ein Kommentar, der am Dienstag in der Süddeutschen Zeitung erschien, macht deutlich, warum sich Berlin so beeilt. "Der Kalte Krieg ... ist vorbei", schreibt Stefan Ulrich. "Die Zeiten überschlagen sich. Die Schutzmacht Amerika wirkt selbst hilfsbedürftig, Russland reckt wieder ein bedrohliches Haupt, in China und Indien entstehen Weltmächte, Iran baut an der Bombe, der Nahe Osten brennt, das Klima erhitzt sich. Den europäischen Staaten läuft die Zeit davon, wenn sie den Globus mitgestalten und ihr Zivilisations-Modell erhalten wollen. Sie können sich nur gemeinsam behaupten - und sie können nicht mehr warten, bis das auch die Herren Kaczynski verstehen."

Den "Globus mitgestalten" und das "Zivilisations-Modell erhalten" sind klassische Kennworte zur Bemäntelung imperialistischer Ziele. Es geht um den Zugang zu Märkten und Rohstoffen, um die Verteidigung des eigenen wirtschaftlichen und politischen Einflusses gegen China, Indien und die USA. Dazu reicht das Gewicht eines einzelnen europäischen Landes nicht aus, daher das deutsche Bemühen um eine handlungsfähige EU, in dem Deutschland als bevölkerungsreichstes und wirtschaftlich stärkstes Land die führende Rolle spielt.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich ein relativ einfaches Konzept ausgedacht, um dem gescheiteren europäischen Verfassungsvertrag doch noch zum Durchbruch zu verhelfen. Von der Substanz soll möglichst viel erhalten bleiben, während Äußerlichkeiten wie gemeinsame Flagge, Hymne, Charta der Grundrechte und der Begriff "Verfassung" fallen gelassen werden.

Der Verzicht auf symbolisches Beiwerk soll die Regierungen, die den alten Verfassungsvertrag nicht ratifiziert haben oder an einem Referendum gescheitert sind, in die Lage versetzen, den neuen Vertrag ohne vorherige Volksbefragung zu unterzeichnen. Der neue französische Präsident Nicoals Sarkozy hatte bereits im Wahlkampf zugesagt, er werde einer verschlankten Version des Vertrags ohne neuerliche Volksabstimmung zustimmen. Er steckt jetzt allerdings in Schwierigkeiten, weil er bei den Parlamentswahlen die dazu notwendige Zweidrittelmehrheit in der Nationalversammlung verfehlt hat.

Der Verzicht auf die äußeren Merkmale einer Verfassung soll außerdem jene besänftigen, die - wie die britische und die niederländische Regierung - befürchten, die EU werde die nationale Souveränität der Einzelstaaten zu sehr beschneiden.

Die institutionellen Regelungen des alten Verfassungsvertrags - die Bestimmungen über Größe und Funktion von Kommission, Rat, Parlament sowie die Abstimmungsmodalitäten - werden dagegen auch im neuen Entwurf unverändert übernommen. Sie bilden aus deutscher Sicht den Kern des EU-Vertrags, da sie die Machtverhältnisse innerhalb der EU regeln.

Bislang gelten die Regeln, die vor sieben Jahren in Nizza beschlossen wurden, als die EU nur etwa halb so viele Mitglieder zählte wie heute. Sie erlauben nur in einigen wenigen Fragen eine Mehrheitsentscheidung, bei allen anderen Fragen verfügt jeder einzelne der 27 Mitgliedsstaaten über ein Veto-Recht.

Die Stimmengewichte sind dabei recht willkürlich verteilt. Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien verfügen trotz unterschiedlicher Einwohnerzahlen über jeweils 29 Stimmen; Polen und Spanien, die weniger als halb so viele Einwohner wie Deutschland haben, über je 27. Zu dieser Regelung war es gekommen, weil der französische Präsident Jacques Chirac mit dem Scheitern des Gipfels gedroht hatte, falls Frankreich nicht dieselbe Anzahl Stimmen erhalte wie Deutschland.

Die neuen Regelungen verteilen nun das Stimmengewicht entsprechend der Einwohnerzahl. Die Themen, über die mit Mehrheit entschieden werden kann, werden gleichzeitig ausgeweitet. Den Interessen kleinerer Länder wird durch die "doppelte Mehrheit" Rechnung getragen, die es einem Bündnis kleinerer Staaten ermöglicht, Mehrheitsbeschlüsse von wenigen großen Staaten zu verhindern.

Selbst wenn man dies berücksichtigt, verändern sich die Stimmengewichte durch die neue Regelung erheblich. Das Gewicht Deutschlands als größtes EU-Land verdoppelt sich gegenüber Nizza auf über 16 Prozent, während dasjenige Polens mit 8 Prozent etwa gleich bleibt. Kleinststaaten mit weniger als einer Million Einwohner fallen kaum mehr ins Gewicht.

Konflikt mit Polen

Gegen diese Regelung läuft die polnische Regierung seit Wochen Sturm. Sie wirft der deutschen Regierung offen vor, sie strebe die Vorherrschaft über Europa an.

So sagte Mariusz Muszynski, Beauftragter des polnischen Außenministers für die deutsch-polnische Zusammenarbeit, dem Spiegel, die deutsche Ratspräsidentschaft verbrauche "die meiste Energie für eine Vergrößerung ihres Machtbereichs in der EU, statt sich mit inhaltlichen Problemen zu beschäftigen". Die Deutschen wollten "um jeden Preis mehr Macht im Rat erlangen".

In den Medien beider Länder tobt seit Wochen eine Schlammschlacht. Während auf polnischer Seite alle Register des Nationalismus gezogen und hemmungslos antideutsche Ressentiments geschürt werden, wirft die deutsche Seite Polen Obstruktion und Undankbarkeit vor.

Das auflagenstarke Nachrichtenmagazin Der Spiegel erschien am Montag mit einem Titelbild der Kaczynski-Zwillinge, die fröhlich auf einer leidenden Angela Merkel reiten. Schlagzeile: "Die ungeliebten Nachbarn. Wie die Polen Europa nerven." Die Karikatur ist eine Retourkutsche auf ein Titelbild des polnischen Magazins Wprost aus dem Jahr 2003, das die Vertriebenenpolitikerin Erika Steinbach in Nazi-Uniform auf dem damaligen deutschen Kanzler Schröder reitend zeigt.

Diese Kampagne ist auf beiden Seiten reaktionär.

Die Kaczynskis vertreten einen polnischen Nationalismus, der krankhaften Antikommunismus mit katholischer Bigotterie vereint. Sie sprechen für jene Mittelklassen, die das stalinistische Regime vor allem deshalb hassten, weil es ihrer eigenen Bereicherung im Wege stand. Nun fürchten sie, zwischen Deutschland auf der einen und Russland auf der anderen Seite zerrieben zu werden. Sie hängen sich an die Schoßzipfel der USA, unterstützen den Irakkrieg und bieten Polen als Abschussrampe für den amerikanischen Raketenabwehrschild an - während sie gleichzeitig der größte Empfänger von EU-Subventionen sind.

Die Regierung Merkel verkörpert das Großmachtstreben des vereinigten Deutschlands, das wieder auf die Weltbühne drängt. In den Tagen vor dem Gipfel hat Berlin die polnische Regierung massiv unter Druck gesetzt. In enger Abstimmung mit der deutschen Bundeskanzlerin fuhren mehrere europäische Regierungschefs zu den Kaczynskis, um sie durch Druck und Schmeicheleien zum Nachgeben zu bewegen. Merkel selbst empfing den polnischen Präsidenten am letzten Samstag im brandenburgischen Meseberg.

Der heftige Konflikt zwischen Deutschland und Polen ist Ausdruck der Unmöglichkeit, Europa auf kapitalistischer Grundlage voran zu bringen. Der bornierte polnische Nationalismus und das deutsches Großmachtgehabe sind zwei Seiten derselben Medaille, eines um sich greifenden nationalen Egoismus. Eine fortschrittliche Entwicklung Europas ist nur durch eine Bewegung von unten möglich: durch den Aufbau Vereinigter Sozialistischer Staaten von Europa.

Siehe auch:
Deutsche Großmachtpolitik hinter europäischer Fassade
(28. März 2007)
Ex-Außenminister Fischer plädiert für europäische Großmachtpolitik unter deutscher Führung
(22. März 2007)
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