Der Machtkampf in der Türkei eskaliert

Nach dem ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl am vergangenen Freitag ist der Machtkampf in der Türkei eskaliert. Die Militärführung drohte noch am Freitagabend kaum verhüllt mit einem Putsch, am Sonntag demonstrierten Hunderttausende gegen die Übernahme des Präsidentenamtes durch die gemäßigt islamistische AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung), und die größte Oppositionspartei, die dem Militär nahe stehende CHP (Republikanische Volkspartei), versucht mit Hilfe des Verfassungsgerichts die Wahl zu verhindern und das Parlament aufzulösen.

Einziger Kandidat für das Präsidentenamt ist Abdullah Gül, der gegenwärtige Außenminister, Mitbegründer der AKP und enge Vertraute von Regierungschef Recep Tayyip Erdogan. Da der Präsident vom Parlament gewählt wird und die AKP dort über eine große Mehrheit verfügt, gilt Güls Wahl als sicher. Die erforderliche Zweidrittelmehrheit von 367 Abgeordneten verfehlte er im ersten Wahlgang allerdings knapp, da die AKP nur über 353 Mandate verfügt. Spätestens im dritten Wahlgang ist Gül die dann nötige einfache Mehrheit aber sicher.

Dagegen laufen Generalstab und CHP Sturm. Sie versuchen dabei Ängste vor einer Islamisierung der türkischen Gesellschaft zu wecken und finden damit eine gewisse Resonanz. In erster Linie geht es ihnen aber darum, den Einfluss und die Pfründe des kemalistischen Establishments - der diskreditierten Bürokratie in Staat und Armee und der mit ihr verbundenen Banken und Großkonzerne - zu verteidigen.

Der für sieben Jahre gewählte Präsident verfügt über eine große Machtfülle. Er kann nicht nur Gesetze und die Ernennung von Beamten blockieren, was der scheidende Ahmet Necdet Sezer, ein parteiloser Kemalist, öfters gegen die AKP genutzt hat. Er ernennt unter anderem auch die Richter des Verfassungsgerichts, die obersten Staatsanwälte und Militärrichter, ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, sitzt dem Nationalen Sicherheitsrat vor, ist für die Verhängung des Ausnahmezustands zuständig und ernennt die Mitglieder der obersten Bildungsbehörde sowie die Universitätsrektoren. Wird Gül Präsident und verteidigt die AKP bei den diesjährigen Wahlen ihre Mehrheit im Parlament, würde sie formell die wichtigsten Hebel der Staatsmacht in den Händen halten.

Die Kemalisten haben in der Vergangenheit wiederholt bewiesen, dass sie auch vor brutaler Gewalt nicht zurückschrecken, um ihre Macht zu verteidigen. Drei Mal - 1960, 1971 und 1980 - hat das Militär geputscht. 1997 zwang es den islamistischen Regierungschef Necmettin Erbakan in einem kalten Putsch zum Rücktritt. Vor allem der Staatsstreich von 1980 verlief äußerst brutal: 650.000 Menschen wurden festgenommen und teilweise grausam gefoltert, oft mit tödlichen Folgen, zehntausend wurden in die Emigration getrieben und ihrer Staatsbürgerschaft beraubt. Wenn die Militärs nun erneut mit einem Putsch drohen, ist dies Anlass zu höchster Besorgnis.

Nur wenige Stunden nach dem ersten Wahlgang veröffentlichte die Militärführung eine ungewöhnlich scharfe Warnung an die AKP. "Die türkischen Streitkräfte beobachten die Lage mit Sorge", heißt es darin. Angriffe auf die Grundwerte der Republik, besonders den Säkularismus, seien eskaliert und hätten sich zu einer offenen Herausforderung des Staates entwickelt. Teilweise sei dies mit dem Wissen und der Erlaubnis der Regierungsbehörden geschehen. Die türkischen Streitkräfte seien gegen diese Diskussionen. Sie seien die Hüter der laizistischen Ordnung und würden ihre Position und ihre Einstellungen offen zeigen, wenn es notwendig werde. Daran solle niemand zweifeln.

Die Streitkräfte seien absolut entschlossen, heißt es weiter, ihre gesetzlich verankerten Pflichten zum Schutz der unveränderlichen Grundwerte der Türkei zu erfüllen. Wer sich gegen die Losung Kemal Atatürks "Glücklich, wer von sich sagen kann ich bin ein Türke" stelle, sei ein Feind der Türkei und werde es bleiben.

Am Sonntag demonstrierten dann in Istanbul, wie schon zwei Wochen zuvor in der Hauptstadt Ankara, Hunderttausende mit türkischen Fahnen und Porträts des Staatsgründers Atatürk gegen Güls Kandidatur und den Rücktritt der Regierung. Auch Parolen gegen die USA und den EU-Beitritt der Türkei waren zu hören. Die Drohungen des Militärs hatten aber offenbar auch viele Demonstranten schockiert. "Wir wollen weder Scharia (islamisches Recht) noch einen Putsch, sondern eine demokratische Türkei", lautete eine der Parolen. Wie schon zwei Wochen zuvor wurde der Protest stark von Angehörigen der gebildeten und oft sozial besser gestellten Mittelschichten getragen, aber auch von Teilen der Arbeiterklasse und Bauern, die unter der wirtschaftsliberalen Politik der AKP-Regierung leiden müssen.

Premierminister und AKP-Chef Erdogan gab sich allerdings unbeeindruckt und meinte lakonisch, die AKP könne zehnmal so viele Menschen auf die Strasse bringen, wenn sie wolle. Sein Regierungssprecher, Justizminister Cemil Cicek, wies die Äußerungen des Generalstabs ungewöhnlich scharf zurück. Nach der Verfassung sei die Armee dem Premierminister unterstellt. In einem demokratischen Rechtsstaat sei es "unvorstellbar", dass der Generalstab sich gegen die Regierung ausspreche. Er warf der Armee außerdem vor, sie versuche die Justiz zu beeinflussen. Abdullah Gül bekräftigte, er werde als Präsident die säkulare Ordnung bewahren und seine Kandidatur auf keinen Fall zurückziehen.

Die kemalistische CHP (in der westlichen Presse oft als "sozialdemokratisch" bezeichnet) versucht Güls Wahl auch mit Hilfe des Verfassungsgerichts zu stoppen. Alle Oppositionsparteien haben den ersten Wahlgang boykottiert und unmittelbar danach das Verfassungsgericht angerufen, um ihn für ungültig erklären zu lassen. Sie begründen dies mit einem fadenscheinigen juristischen Konstrukt: Zwei Drittel der Abgeordneten müssten bei der Wahl anwesend sein, da gewesen seien aber nur 363, also vier zu wenig.

In der türkischen Verfassung gibt es dafür keine Grundlage. Trotzdem ist es möglich, dass das Verfassungsgericht zugunsten der Klage entscheidet. Sieben der elf Richter wurden vom scheidenden Präsidenten Sezer ernannt, der sich selbst an der Kampagne gegen die AKP-Regierung beteiligt hat. Sezer war vor seiner Präsidentschaft ebenfalls Verfassungsrichter und verdankte seine juristische Karriere dem Militärputsch von 1980. Viele Beobachter werten den Drohbrief der Militärs auch als Druckmittel, um das Gericht zur Annahme der Klage zu bewegen.

Ein derartiges Urteil wäre allerdings problematisch. Es würde einen Präzedenzfall schaffen, der die parlamentarische Minderheit in die Lage versetzt, beliebig Wahlen und Abstimmungen der Mehrheit für ungültig erklären zu lassen und die Auflösung des Parlaments zu erzwingen. Würde das Verfassungsgericht die Wahlen annullieren, müssten nämlich innerhalb von drei Monaten vorgezogene Neuwahlen stattfinden, die regulär für November angesetzt sind. Sezer bliebe weiter im Amt, bis das neue Parlament seinen Nachfolger bestimmt hat.

Für Neuwahlen haben sich neben der Opposition auch der Unternehmerverband TÜSIAD und die meisten Zeitungen ausgesprochen.

Wer ist Abdullah Gül?

Die Auseinandersetzung um den zukünftigen türkischen Präsidenten zieht sich bereits seit Wochen hin. Lange Zeit war vermutet worden, Regierungschef Erdogan selbst werde sich um das höchste Staatsamt bewerben, und das Militär hatte wiederholt seine Opposition dagegen zu erkennen gegeben. So warnte Generalstabschef Yasar Büyükanit vor zwei Wochen auf einer Pressekonferenz, er hoffe, dass jemand Präsident werde, der die Grundprinzipien der Republik respektiere und nicht nur so tue.

Kurz vor Ablauf der Anmeldefrist gab Erdogan dann am letzten Dienstag die Kandidatur Güls bekannt, was in westlichen Medien als Zugeständnis an das kemalistische Establishment bewertet wurde. Es war aber lediglich insoweit ein Zugeständnis, als Erdogan nicht selbst antrat.

In den Wochen zuvor hatte es viele Spekulationen über einen Kompromisskandidaten gegeben. Genannt worden waren vor allem Familienministerin Nimet Cubukcu und Verteidigungsminister Vecdi Gönül. Cubukcu ist als einzige Frau Mitglied in Erdogans Kabinett und trägt kein Kopftuch. Gönül ist eher staatstragender rechter Nationalist als Islamist. Er verfügt als ehemaliger Gouverneur in Ankara und Izmir, früherer Präsident des obersten Rechnungshofes und Staatssekretär im Innenministerium über relativ gute Beziehungen zur etablierten Bürokratie. Außerdem trägt seine Frau ebenfalls kein Kopftuch.

Eine Frau mit Kopftuch im Präsidentenpalast gilt den Kemalisten als unerträgliche Provokation, während der Hardliner-Flügel der AKP um Parlamentspräsident Bülent Arinc umgekehrt keine First Lady ohne Kopftuch akzeptieren will. Güls Frau trägt Kopftuch und hat wegen dessen Verbot in öffentlichen Gebäuden sogar Klage gegen die Türkei vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erhoben, die sie erst zurückzog, als ihr Mann in die Regierung eintrat.

Gül vertritt ebenso wie Erdogan eine Schicht der türkischen Bourgeoisie, die vorwiegend aus der anatolischen Provinz kommt und im Namen des Islam die Dominanz der kemalistischen Bürokratie in Ankara und Istanbul und der mit ihr verbundenen Banken und Großkonzerne aufbrechen will. In dieser Frage stimmen sie mit dem internationalen Kapital überein, das ebenfalls die Türkei wirtschaftlich öffnen will.

Schon Güls Vater, ein Handwerker in der zentralanatolischen Stadt Kayseri, war in der islamistischen Bewegung aktiv und kandidierte für die MSP von Necmettin Erbakan, der sich dann auch der Sohn anschloss.

Abdullah Gül studierte Wirtschaft und schrieb in England seine Doktorarbeit. Schon als Student in den siebziger Jahren war er für die Islamisten aktiv und wurde deshalb nach dem Putsch von 1980 kurzzeitig verhaftet. In den 1980er Jahren arbeitete er für die islamische Entwicklungsbank in Saudi-Arabien. 1991 kehrte er in die Türkei zurück und wurde als Abgeordneter von Erbakans Wohlfahrtspartei ins Parlament gewählt. 1993 wurde er stellvertretender Parteivorsitzender.

Als Erbakan 1996 das Amt des Ministerpräsidenten übernahm, rückte Gül zum Regierungssprecher mit Ministerrang auf. 1997 wurde die Regierung vom Militär in einem "kalten Putsch" gestürzt, die Wohlfahrtspartei verboten. Gül spielte auch in der Nachfolgeorganisation Tugendpartei eine führende Rolle und gehörte zu den "Erneuerern", die für ein pragmatischeres, pro-westliches und weniger am Islam orientiertes Profil eintraten. Als die Tugendpartei später ebenfalls verboten wurde, baute er zusammen mit Erdogan die AKP auf und vollzog dabei den Bruch mit Erbakan.

Nach dem Wahlsieg der AKP im November 2002 war Gül vorübergehend Ministerpräsident, da Erdogan, dem die Wahlteilnahme im November wegen einer Vorstrafe noch verwehrt worden war, erst durch eine Nachwahl im März 2003 ins Parlament gelangte. Das Regierungsprogramm sah die Fortsetzung des auf Druck des IWF eingeleiteten neoliberalen Programms der Marktreformen vor, obwohl die AKP mit dem Versprechen von mehr sozialer Gerechtigkeit Stimmen gewonnen hatte.

Neben der wirtschaftlichen setzte Gül auch eine begrenzte politische Liberalisierung in Gang, die den Kurdenkonflikt beilegen, den Einfluss des Militärs zurückdrängen und einen türkischen EU-Beitritt sichern sollte. Bereits kurz nach Güls Amtsantritt wurden zwei Gesetzespakete mit so genannten EU-Reformen vom Parlament verabschiedet.

Die Entscheidung des türkischen Parlaments vom 1. März 2003, den USA die Nutzung türkischer Basen für den Angriff auf den Irak zu verwehren, wird nicht zuletzt auch auf Güls Haltung zurückgeführt. Gül war zwar wie Erdogan, die Armeeführung und Präsident Sezer für eine Entscheidung zugunsten der USA eingetreten, der auch die Entsendung zehntausender türkischer Truppen in den kurdisch dominierten Nordirak vorsah. Wohl aus Angst vor einer Parteispaltung hatte Gül es aber abgelehnt, eine Fraktionsentscheidung herbeizuführen.

Der Angriff auf den Irak wurde nämlich von der Parteibasis der AKP praktisch geschlossen abgelehnt. Zahlreiche Abgeordnete der AKP stimmten deshalb gegen die Vorlage ihrer eigenen Regierung. Der extrem rechte Flügel im türkischen Establishment, besonders in der Armee, hat der AKP diese Parlamentsentscheidung bis heute ebenso wenig verziehen wie Teile der Bush-Administration. Der damalige stellvertretende US-Verteidigungsminister und heutige Weltbankchef Paul Wolfowitz warf dem türkischen Militär ganz offen vor, es habe sich zu wenig in die Politik eingemischt und sich nicht gegen die gewählte Regierung durchgesetzt.

Auch als Außenminister hat sich Gül den Unmut der türkischen Nationalisten zugezogen. Im Interesse eines türkischen EU-Beitritts trat er für einen Kompromiss im Zypernkonflikt ein. Für die türkische Armee ist Nordzypern, wo sie zahlreiche Truppen stationiert hat, von hohem strategischem und ideologischem Wert.

Internationale Reaktionen

In der EU haben die Putschdrohungen des Militärs Besorgnis hervorgerufen. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft äußerte die Erwartung, "dass die Wahlen und das Verfassungsgericht nicht durch äußeren Druck beeinflusst werden". Die Entwicklung in der Türkei werde "mit großer Aufmerksamkeit" verfolgt, hieß es in Berlin. Alle politisch Verantwortlichen müssten ihren Beitrag dazu leisten, dass die Präsidentenwahl "entsprechend der demokratischen und rechtsstaatlichen Regeln der Verfassung durchgeführt werden".

EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn erklärte: "Es ist wichtig, dass das Militär die Aufgaben der Demokratie der demokratisch gewählten Regierung überlässt." Der Generalsekretär des Europaparlaments, Terry Davis, forderte die türkische Armee auf, in ihren Kasernen zu bleiben.

In Washington äußerte man sich dagegen zurückhaltender und durch weniger hochrangiges Personal: "Wir hoffen und erwarten, dass die Türken ihre politischen Differenzen im Einklang mit ihrer säkularen Demokratie und Verfassung lösen werden", erklärte der stellvertretende US-Außenminister Dan Fried.

Zurzeit sind die Beziehungen zwischen Washington und der AKP-Regierung in Ankara recht gut, während es mit den türkischen Militärs vor allem in der Kurdenfrage Spannungen gibt. So drängen die Militärs auf grenzüberschreitende Operationen gegen Lager der kurdischen PKK im Nordirak, was von den USA mit Rücksicht auf ihre kurdischen Verbündeten im Irak abgelehnt wird. Außenminister Gül favorisiert in dieser Frage eher diplomatischen Druck auf die Zentralregierung in Bagdad und die irakischen Kurden.

Langfristig betrachtet Washington aber das Militär trotz seiner nationalistischen Rhetorik als zuverlässigsten Sachwalter seiner Interessen. Es hat schon früher die Militärputsche in der Türkei unterstützt und weiß, dass die Militärs von der Zusammenarbeit im Rahmen der Nato abhängig sind.

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