Ex-Außenminister Fischer plädiert für europäische Großmachtpolitik unter deutscher Führung

Der ehemalige Außenminister der rot-grünen Bundesregierung, Joschka Fischer, hielt am vergangenen Freitag auf einer Tagung der europäischen Grünen im Audimax der Berliner Humboldt-Universität eine Rede. Fischer, der, seitdem er den Chefposten im Außenamt verlassen hat, als Gastprofessor an der US-Elite-Universität Princeton Vorlesungen über "Internationale Krisendiplomatie" hält, sprach zum Thema "Das Europa der gemeinsamen Interessen".

Lässt man den aufgesetzten und etwas lächerlich wirkenden professoralen Habitus beiseite, den Fischer zur Schau stellt, war seine Berliner-Rede vor allem ein Appell an die Bundesregierung, mehr Führungs- und Gestaltungskraft in Europa zu zeigen.

Es sei "erschreckend", so Fischer, dass der "zunehmende Bedeutungsverlust Europas in der Welt" in den europäischen Hauptstädten noch nicht einmal wahrgenommen werde. Das betreffe in ganz besonderem Maße Deutschland, das aufgrund seiner Größe und wirtschaftlichen Stärke eine Führungsrolle in der EU einnehmen müsse.

Vor knapp sieben Jahren hatte Fischer schon einmal am selben Ort eine europäische Grundsatzrede gehalten. Damals hatte er sich als "überzeugter Föderalist" bezeichnet, viel über "demokratische Strukturen" gesprochen und sich für einen "europäischen Bundesstaat" eingesetzt. Nun schlug er ganz andere Töne an. Die Wirklichkeit habe ihn eines Besseren belehrt. Mehr als ein "Europa der gemeinsamen Interessen" sei gegenwärtig nicht zu erreichen.

Hinter der bewusst harmlosen Formulierung "Europa der gemeinsamen Interessen" verbirgt Fischer seine Forderung nach europäischer Großmachtpolitik unter deutscher Führung. Denn das Problem besteht ja gerade darin, dass die Interessen in Europa unter dem wachsenden Druck der USA in jüngster Zeit wieder stärker auseinanderdriften. Gemeinsame europäische Interessen bedeutet da nichts anderes als die Durchsetzung der Interessen der stärksten europäischen Großmacht, und die heißt - so Fischer - Deutschland.

Es ist das alte Lied, das seit der Reichsgründung 1871 und dem damit verbundenen industriellen Aufschwung in verschieden Variationen immer wieder gesungen wurde. Die Dynamik der deutschen Produktion lässt sich im Rahmen des europäischen Staatensystems nicht bändigen und strebt danach, Europa zu dominieren, um Weltmachtpolitik zu betreiben. Von Bismarck über Kaiser Wilhelm bis Hitler führte diese Politik von einer Katastrophe in die nächste.

Beobachtet man den ehemaligen Frankfurter Straßenkämpfer und Häuserbesetzer, der mit seinem Aufstieg zum Princeton Professor wieder stark aufgedunsen ist, wie er sich im Audimax der Humboldt-Universität zu Berlin als Vorkämpfer für europäisch-deutsche Großmachtpolitik anpreist, so kann man sich die Bemerkung kaum verkneifen, der Satz, Geschichte wiederhole sich als Farce, gelte auch für Personen.

Doch auch eine Farce kann gefährlich sein, zumal in der Politik. Vor zehn Jahren spielten Fischer und die Grünen eine Schlüsselrolle dabei, die Beschränkungen des deutschen Militarismus aufzuheben und weltweite Einsätze der Bundeswehr durchzusetzen. Auch jetzt fordert Fischer militärische Aufrüstung. Als Militärmacht müsse Europa mehr Eigenständigkeit gewinnen, betonte er.

Offen kritisierte Fischer die Bundesregierung und die Bundestagsfraktion seiner grünen Partei, die "das Flehen der Nato nach schneller Unterstützung im Süden Afghanistans geflissentlich überhört" hätten, obwohl dort Verbündete in höchster Not gewesen seien. Bundeswehr-Tornados zur Unterstützung im Süden seien zwar richtig, aber bei weitem nicht ausreichend. Mehr Eigenverantwortung in der Außen- und Sicherheitspolitik erfordere auch größere Anstrengungen einer EU-Militärmacht.

Fischer machte sich über die deutsche Marine lustig, die an der Küste des Libanon die "außerordentlich gefährliche Armada der Hisbollah" in Schach halte, während andere Bündnispartner im Landesinneren "die Kastanien aus dem Feuer holen".

Dass Fischer dem deutschen Militarismus derart offen das Wort redet, ist Ausdruck der permanenten Rechtswende der Grünen. Seine Aussage muss im Zusammenhang mit Parteichef Reinhard Bütikofers Ankündigung gesehen werden, die Grünen strebten auf verschiedenen Ebenen eine Annäherung an die Union an. Auch wenn es schwer fällt, sollte man daher genau anhören, was Herr Professor Doktor h.c. Fischer zu sagen hat.

Durchsetzung europäischer Interessen

In den Mittelpunkt seiner Ausführungen stellte der ehemalige Außenminister die Frage: "Sind wir Europäer darauf vorbereitet die Probleme zu lösen, die sich aus der Selbstschwächung der Vereinigten Staaten durch ihre Politik des Unilateralismus ergeben, die sie in das Desaster des Irakkrieg geführt haben?"

Seine Antwort war ein deutliches Nein. Europa sei nicht vorbereitet auf die Herausforderungen der veränderten Weltlage. Stattdessen werde der "neuen außen- und sicherheitspolitischen Verantwortung beharrlich ausgewichen". Die Europäische Union befinde sich zwei Jahre nach der Ablehnung der EU-Verfassung in Frankreich und den Niederladen in einer tiefen Krise

Die Europakonferenz der Grünen, auf der Fischer sprach, war Teil der vielfältigen Aktivitäten, die gegenwärtig alle Parteien anlässlich des 50. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge und damit der Gründung der EU durchführen. Er begann mit einem kurzen Rückblick, weil nur der eine Perspektive geben könne, der die Vergangenheit kenne.

Die europäische Vereinigung des zurückliegenden halben Jahrhunderts sei "die größte Erfolgsgeschichte" der Nachkriegsperiode gewesen, erklärte Fischer. Die Entstehung und Entwicklung der Europäischen Union dürfe aber nicht losgelöst von den Verhältnissen des Kalten Kriegs betrachtet werden.

Daher habe die Wiedervereinigung des Kontinents - "und ich spreche hier ausdrücklich nicht nur von der Wiedervereinigung Deutschlands, sondern von der Überwindung der europäischen Spaltung und dem Ende des Kalten Krieges" - auf die innere Entwicklung Europas und die Rolle Europas in der Welt größte Auswirkungen gehabt. "Ich möchte in diesem Zusammenhang sogar den Begriff des politischen Ur-Knalls verwenden", sagte Fischer.

Gleichzeitig habe die fortschreitende Globalisierung völlig neue Verhältnisse für Europa geschaffen. Sie werde von den Menschen in den unterentwickelten Ländern und Schwellenländern aus einem ganz anderen Blickwinkel gesehen, als in den Industriestaaten.

"Fast sieben Milliarden Menschen träumen jetzt den Traum des Fortschritts, und das hat nicht nur große ökologische Konsequenzen, sondern auch massive ökonomische", sagte Fischer. Dabei gehe es auch um Verteilungskämpfe in Rohstoff- und Energiefragen, über die sich in einem Hörsaal wesentlich leichter sprechen lasse, als auf internationalen Konferenzen.

Die Sicherheitslage des Kalten Krieges - "so gefährlich sie war" - werde heute durch eine Sicherheitslage abgelöst, "die weitaus unübersichtlicher ist". Wer glaube, dass die amerikanische Regierung auch künftig die sicherheitspolitischen Interessen Europas vertreten werde, unterliege einem gewaltigen Irrtum. Im Irak seien die Grenzen amerikanischer Macht sichtbar geworden.

Mehrmals sprach Fischer in diesem Zusammenhang von einer "Selbstschwächung der Vereinigten Staaten durch ihre Politik des Unilateralismus".

"Wir sind die geopolitischen Nachbarn des Nahen Ostens - vergessen wir das nicht", rief der ehemalige Außenminister und fragte: "Was ist, wenn die Amerikaner sich zurückziehen - was sie gegenwärtig zwar nicht vorhaben - aber ihr Vorgehen wird sich in absehbarer Zeit anders gestalten?" Die Krise im Nahen Osten werde auch dann noch bestehen und müsse gelöst werden. Die Frage sei: "Durch wen und wie?"

Europa müsse erwachsen werden und seine außen- und sicherheitspolitischen Interessen selbst und konsequent vertreten. Das erfordere erstens: die europäischen Interessen zu erkennen; zweitens: sie zu definieren; und drittens: sie durchzusetzen.

Die Währungsunion habe zwar neue Verhältnisse und eine neue Qualität der europäischen Vereinigung und Integration geschaffen. Sie werde auch langfristige Konsequenzen haben. Aber das alleine reiche nicht aus. In der Außen- und Sicherheitspolitik müssten ebenso bleibende und nachhaltige Veränderungen geschaffen werden.

Europa dürfe nicht zulassen, dass jeder mache, was er wolle. Es sei "regelrecht gespenstisch" zu beobachten, dass die amerikanische Regierung in bilateralen Verhandlungen mit Polen und Tschechien - "die beide EU-Mitglieder sind" - den Aufbau von Raketenabwehrsystemen vereinbare, ohne dass in den europäischen Hauptstädten und den EU-Gremien darüber diskutiert, geschweige denn entschieden werde.

Unter dem Beifall der versammelten Grünen-Parteispitze richtete Fischer eine Bemerkung an Kanzlerin Angela Merkel (CDU): "In dieser Angelegenheit wird die Betonung der Nato nicht ausreichen, Frau Kanzlerin. Hier ist eine eindeutige Entscheidung Europas gefragt."

Auf der anderen Seite reagiere Russland, das mit dieser und anderen Entscheidungen nicht übereinstimme, völlig unabhängig, führe seine eigenen bilateralen Verhallungen mit dem EU-Mitgliedsstaat Griechenland und unterzeichne Verträge über künftige Öl- und Gaspipelines. So könne ein Europa der gemeinsamen Interessen niemals geschaffen werden. Der Rückfall in nationale Egoismen sei sehr real und habe katastrophale Konsequenzen.

Vorstoß an die Grenze Russlands

Die Stoßrichtung des deutschen Imperialismus richtete sich traditionell gegen Osten, und auch in dieser Hinsicht folgte Fischer der historischen Tradition. Er plädierte für die Ausweitung der EU bis an die russische Westgrenze. Weißrussland und die Ukraine - zwei ehemalige Sowjetrepubliken, die seit Jahrhunderten eng mit Russland verbunden sind und von Moskau auch heute noch als Einflussgebiet betrachtet werden - gehören seiner Ansicht nach in die Europäische Union.

Um die gemeinsamen Interessen zu definieren müsse auch über den Grenzverlauf Klarheit bestehen, sagte Fischer. "Im Westen ist das ziemlich eindeutig. So lange Amerika noch keinen Aufnahmeantrag in die EU gestellt hat, endet die Europäische Union irgendwo auf den Azoren. Im Süden bildet das Mittelmeer und im Norden das Polarmeer die Grenze. Aber wo endet die EU im Osten?" fragte er.

De Gaulles Formel "vom Atlantik bis zum Ural" sei nicht richtig. Zwar müsse die EU enge und gute Beziehungen zur Russland anstreben, aber die EU-Ostgrenze bilde die russische Westgrenze. Darüber müsse Klarheit bestehen. Nur so könne in Polen, der Ukraine oder Weißrussland klar gemacht werden, dass diese Länder zur EU gehörten, beziehungsweise ihre Aufnahme angestrebt werde. In diesem Zusammenhang erinnerte Fischer daran, dass die "Orange-Revolution" in der Ukraine von Berlin aus stark unterstützt worden sei.

Fischer versuchte zwar, einer deutschen Dominanz in Europa nicht allzu offen das Wort zu reden. Aber mehrmals betonte er die "deutsche Verantwortung für die Formulierung und Vertretung europäischer Interessen". Das richte sich "nicht gegen die kleineren europäischen Staaten", aber Deutschland müsse aufgrund seiner Größe und Wirtschaftskraft mehr Führung übernehmen und "die Lokomotive des europäischen Geleitzuges" bilden.

Bilanz

Der ehemalige Außenminister spricht für einen beträchtlichen Teil der herrschenden Elite Deutschlands. Zwei Tage nach Fischer stieß Bundespräsident Horst Köhler ins selbe Horn und forderte mit Blick aufs Kanzleramt und die deutsche Europaratspräsidentschaft mehr europäische Selbstständigkeit und Selbstvertrauen.

Unter den Bedingungen des Kalten Krieges war die Vorherrschaft der USA im westlichen Bündnis akzeptiert worden. Im Windschatten Washingtons hatte Deutschland überall auf der Welt gute Geschäfte gemacht. Seit einigen Jahren bezeichnet es sich als Exportweltmeister. Doch die Entwicklung der Produktion und die Dynamik der Produktivkräfte hat die Rivalitäten und Konflikte zwischen den Großmächten verschärft. Der Kampf um Absatzmärkte, Rohstoffe und vor allem Energieversorgung nimmt immer heftigere Formen an. Dazu kommt der Wettlauf um Macht und Einfluss in den aufsteigenden Wachstumsmärkten Asiens: in China und Indien.

Deutschland kann nicht hinnehmen, dass die amerikanische Regierung die wichtigsten Energiequellen des Nahen Osten beherrscht, Liefermengen und Preise diktiert und die deutsche Wirtschaft von ihren lukrativen Geschäften im Iran abschneidet. Ebenso wenig kann es hinnehmen, dass die US-Truppen und deren Bündnispartner im Irak ein politisches und militärisches Desaster anrichten und mit einem militärischen Angriff auf den Iran die ganz Region in Brand setzen. Bisher wagte die Regierung in Berlin es aber nicht, dem entgegenzutreten, aus Angst vor den wirtschaftlichen, politischen und militärischen Konsequenzen.

Das soll sich nun ändern. Fischer trommelt im Namen deutscher Interessen zum Widerstand. Er stützt sich dabei auf die Grünen, die vorwiegend die Interessen einer gehobenen Mittelschicht vertreten, die sich in den "Speckgürteln der Großstädte" angesiedelt hat und deren einstiger Pazifismus fast ausschließlich gegen die USA gerichtet war.

Die Arbeiterklasse muss auf der Hut sein. Eine derartige Großmachtpolitik und militärische Aufrüstung ist immer mit scharfen Angriffen auf soziale und demokratische Rechte verbunden. Um dem Philister aus Princeton entgegenzutreten, ist es notwendig, für die Vereinigung Europas von unten zu kämpfen durch die gemeinsame Mobilisierung für ein internationales, sozialistisches Programm.

Siehe auch:
Bundesparteitag der Grünen: Frieden aus den Gewehrläufen
(8. Dezember 2006)
Joschka Fischer wirbt für eine imperialistische Außenpolitik
( 2. September 2006)
Joschka Fischer und die Grünen verteidigen den israelischen Bombenterror im Libanon
( 28. Juli 2006)
Grüner Militarismus: Ströbele wirbt für Kongo-Einsatz
( 25. Mai 2006)
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