Nach dem Konflikt um Georgien

Raketenabwehr in Polen verschärft Gefahr einer amerikanisch-russischen Konfrontation

Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und der rechten polnischen Regierung über die Einrichtung eines amerikanischen Rakentenabwehrschildes ist die erste klare Antwort des amerikanischen Imperialismus auf die russische Intervention in Georgien.

Nicht ohne Druck hat die Bush-Regierung erreicht, dass Polen und die Tschechische Republik das amerikanische Raketenabwehrsystem und die Radaranlagen akzeptieren, die angeblich einen Angriff des Iran auf Europa verhindern sollen. In Wirklichkeit verfügt der Iran aber weder über die dafür nötigen ballistischen Raketen, noch über Atomwaffen. Trotz heftiger Proteste aus Moskau leugnen amerikanische Vertreter, dass das Raketenabwehrsystem eine Bedrohung für Russland darstellt.

Die Umstände, unter denen das Abkommen mit Polen unterzeichnet wurde, machen jedoch klar, dass es sich gegen Moskau richtet. Lange Zeit war das Abkommen blockiert, weil sich Warschau und Washington über die polnischen Forderungen nach Hightech-Luftabwehrsystemen als Preis für die Raketenstationierung nicht einigen konnten. Jetzt auf einmal, wenige Tage nach dem Auftritt des polnischen Präsidenten Lech Kaczynski mit dem georgischen Präsidenten Michael Saakaschwili auf einer anti-russischen Kundgebung in Tiflis, war der Vertrag rasch in trockenen Tüchern.

Nachdem Vertreter seiner Regierung das Abkommen in Warschau unterzeichnet hatten, erklärte der polnische Ministerpräsident Donald Tusk düster: "Wir haben den Rubikon überschritten." Es war klar, dass er damit nicht die Furcht vor einer mythischen Bedrohung aus dem Iran meinte, sondern vor dem russischen Militär, das im zwanzigsten Jahrhundert schon zwei Weltkriege auf polnischem Boden geführt hat.

Das Abkommen enthält zwei außergewöhnliche Bestimmungen als Anreiz für Polen. Erstens werden die USA sofort zwei Patriot-Raketenabwehrbatterien von Deutschland nach Slupsk an der Ostsee verlegen, etwa 160 Kilometer von der polnischen Grenze zur russischen Enklave Kaliningrad entfernt. Die New York Times bemerkte: "Amerikanische Truppen sollen sich, zumindest zeitweilig, mit polnischen Truppen an vorgeschobener Position zusammentun - mit Blickrichtung nach Osten, nach Russland." Die 110 amerikanischen Soldaten werden die Funktion eines Stolperdrahts übernehmen, um die Vereinigten Staaten sofort in jeden polnisch-russischen Konflikt mit hineinzuziehen.

Zweitens stimmten die USA einer Verpflichtung zu, Polen im Fall eines Angriffs schneller zu verteidigen, als es den normalen NATO-Prozeduren entspricht, denen Polen 1999 beigetreten ist. "Das Land Polen und seine Bewohner wollen keine Allianz, die irgendwann später Hilfe schickt - es nützt nichts, wenn die Hilfe nur noch Tote erreicht", sagte Ministerpräsident Tusk im polnischen Fernsehen. "Polen will eine Allianz, die in den ersten Stunden jedes möglichen Konflikts Hilfe schickt. Hoffen wir, dass es nicht dazu kommt."

Russische Sprecher reagierten auf das amerikanisch-polnische Abkommen mit apokalyptischen Äußerungen. Der stellvertretende Generalstabschef Anatoli Nogowizyn sagte, dass "Polen sich einem Gegenschlag aussetzt". Er erinnerte daran, dass die russische Militärdoktrin den Einsatz von Nuklearwaffen nicht nur gegen ein Land erlaube, das selbst Nuklearwaffen gegen Russland einsetze, sondern auch "gegen die Verbündeten von Ländern mit Atomwaffen, wenn jene ihnen helfen".

"Die USA sind im Moment sehr mit ihrer eigenen Raketenabwehr beschäftigt", sagte er, "Sie haben gerade Besseres zu tun, als Polen zu verteidigen. Polen gefährdet sich mit dem Aufbau von amerikanischen Abwehrraketen selbst. Das Land könnte zur Zielscheibe einer russischen Reaktion werden. Solche Zielobjekte würden [in einem Ernstfall] als erste vernichtet."

Der russische Präsident Dmitri Medwedew verurteilte das Abkommen in einer Pressekonferenz, in der er neben Kanzlerin Angela Merkel stand. "Die Stationierung einer neuen Raketenabwehr richtet sich gegen die russische Föderation", sagte er. "Deswegen haben solche Märchen über die Abschreckung anderer Staaten - dass damit angeblich irgendwelche Schurkenstaaten abgeschreckt werden sollen - ihre Wirkung verloren."

Die Logik der amerikanischen Politik führt, wie das Abkommen mit Polen beweist, unausweichlich in die Richtung einer militärischen Konfrontation zwischen den Vereinigten Staaten und Russland, die beide bis an die Zähne nuklear bewaffnet sind. Das beschwört erneut, wie in den Jahren vor 1914 und 1939, das Gespenst eines Weltkriegs herauf, diesmal mit der wahrscheinlichen Konsequenz der nuklearen Vernichtung.

Dabei geht es nicht einfach darum, über die Absichten Bushs und Cheneys zu spekulieren, die beide in fünf Monaten aus ihren Ämtern scheiden, oder über die Absichten Obamas oder McCains. Die Ereignisse und die Entscheidungen der vergangenen Woche haben ihre eigene Logik. Das bevorstehende Auftauchen amerikanischer Truppen in den ehemaligen "Pufferstaaten", die Russland von Zentraleuropa trennen, ist von enormer historischer und politischer Bedeutung.

In diesen Gebieten sind zwei Weltkriege ausgefochten worden, in denen etliche Millionen Menschen starben - 30 Millionen allein in der Sowjetunion infolge der Naziinvasion. Sie wurde damals durch das Gebiet geführt, in dem jetzt die Abwehrraketen aufgestellt werden sollen. (Bei allen historischen und politischen Unterschieden verfolgte Hitler das gleiche strategische Ziel wie Bush: Die Kontrolle über die Ölvorräte des Kaspischen Beckens zu erlangen.)

Es gibt in diesem riesigen Gebiet Dutzende kritische Punkte - ungelöste Grenzkonflikte zwischen Russland und diversen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion sowie Konflikte um von Russen bewohnte Enklaven wie Kaliningrad und Transnistrien an der moldawisch-ukrainischen Grenze. Außerdem gibt es bedeutende russischsprachige Minderheiten in den baltischen Staaten und der Ukraine. Jede dieser Fragen könnte den Funken für einen militärischen Konflikt liefern, in dem die Vereinigten Staaten jetzt möglicherweise Partei wären.

Die Bush-Regierung hat zu mehreren amerikanischen Medien durchsickern lassen, sie habe versucht, Saakaschwili von einem Angriff auf die pro-russischen abtrünnigen Republiken Südossetien und Abchasien abzuhalten. Der georgische Präsident habe jedoch ihren Rat ignoriert. Diese Version der Ereignisse ist völlig unglaubwürdig, wenn man bedenkt, dass amerikanische Militärberater in das militärische Oberkommando Georgiens integriert sind. Aber selbst wenn es wahr wäre, wäre es auch nicht viel besser, weil es bedeutete, dass Washington die Ereignisse so wenig unter Kontrolle hat, dass ein kleiner, verantwortungsloser Demagoge, der sich der amerikanischen Rückendeckung sicher weiß, eine große internationale Krise auslösen kann. Solche politischen Brandstifter spielen in allen osteuropäischen Ländern eine wichtige Rolle.

George Friedman von Stratfor.com, einer außenpolitischen Strategie-Web Site, erläuterte in einem Artikel vom 13. August: "Es ist völlig unvorstellbar, dass die Amerikaner nicht über Georgiens Mobilisierung und Absichten informiert waren. Es ist genauso unvorstellbar, dass die Amerikaner nicht darüber Bescheid wussten, dass die Russen eine umfangreiche Streitmacht an der Grenze zu Südossetien zusammengezogen hatten. Es konnte der amerikanischen technischen Überwachung, von Satellitenbildern und Kommunikationsüberwachung bis zu unbemannter Flugaufklärung, nicht entgangen sein, dass Tausende russische Truppen in vorgelagerte Positionen verlegt wurden."

Friedman erklärt die scheinbare Überraschung der Bush-Regierung mit ihrer strategischen Inkompetenz, aber es gibt eine andere, beunruhigendere Erklärung: Obwohl die Zerschlagung des georgischen Angriffs durch die russische Armee unvermeidlich war, wollte die amerikanische Regierung, dass der Konflikt ausbrach, weil sie davon ausging, dass die Krise ihr in zweierlei Hinsicht nützlich sein werde. Sie versprach sich sowohl außenpolitischen Nutzen - siehe Polen -, wie auch Vorteile im Innern der USA, wo die republikanische Partei auf Kriegsfieber setzt, um ihrem schwächelnden Präsidentschaftswahlkampf auf die Beine zu helfen.

Seit dem Waffenstillstand in Georgien, der am Freitag nach langem Zögern und unter direktem Druck von US-Außenministerin Condoleezza Rice auch von Saakaschwili unterzeichnet wurde, wird immer klarer, dass die einwöchige diplomatische und Medienkampagne der USA ein Musterbeispiel für die Technik der "großen Lüge" ist.

Man weiß inzwischen, dass die russische Militärintervention von relativ kleinem Umfang war. Nur etwa 15.000 Soldaten waren beteiligt, kaum halb so viele, wie Georgien unter Waffen hat. Das lässt darauf schließen, dass Moskau wohl kaum die Absicht hatte, das Land zu überrennen. CNN berichtete am Freitag, dass die Gesamtzahl russischer Soldaten in Gori nur 200 Mann betrug. Und doch soll dessen Besetzung angeblich der Versuch gewesen sein, Georgien in zwei Teile zu teilen.

Die amerikanische Darstellung der Ereignisse bestand bisher im Wesentlichen aus unbelegten Vorwürfen über russische und ossetische Gräueltaten gegen georgische Zivilisten. Dagegen gab es so gut wie gar keine Berichte über den georgischen Angriff auf Südossetien, der den Konflikt überhaupt erst ins Rollen brachte.

Der russische Botschafter bei den Vereinten Nationen, Wassili Tschurkin, wies den Vorwurf der USA zurück, Russland führe in Georgien einen "Terrorkrieg". Solche Worte seien "absolut unakzeptabel", sagte er, "besonders aus dem Munde des permanenten Vertreters eines Landes, dessen Handeln wir kennen, z.B. sein Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung im Irak, in Afghanistan und Serbien."

Die groteske Doppelmoral der Bush-Regierung, die eigene Verletzungen internationalen Rechts und den Tod unschuldiger Zivilisten ignoriert, während sie weit weniger provokatives Vorgehen anderer Mächte verteufelt und deren Führer dämonisiert, wird von den amerikanischen Medien fast völlig totgeschwiegen.

In Georgien, gerade jenseits seiner Grenzen, setzt Russland z.B. weniger als zehn Prozent der Truppen ein, mit denen Amerika Tausende Meilen entfernt den Irak und Afghanistan überfallen hat, um die dortigen Regierungen zu stürzen und amerikanische Marionettenregierungen einzusetzen.

So konnte Bush in einer Presseerklärung am Freitag schreiben: "Die Tage der Satellitenstaaten und Einflusssphären liegen hinter uns." Der Mann, der 2002 drei souveräne Staaten als "Achse des Bösen" diffamierte, am Ende einen von ihnen überfiel und gegen die beiden anderen einen Wirtschaftskrieg führte, fuhr fort: "Bedrohung und Einschüchterung haben keinen Platz mehr in der Außenpolitik des 21. Jahrhunderts."

Senator John McCain, der bei weitem entschiedenste Vertreter eines Konfrontationskurses gegenüber Russland, schlug einen ähnlich heuchlerischen Ton an, als er bei einem Wahlkampfauftritt in Michigan gegenüber Reportern erklärte: "Im 21. Jahrhundert überfallen Länder keine anderen Länder mehr." Der Republikanische Präsidentschaftskandidat war immer der entschlossenste Befürworter einer militärischen Eskalation im Irak, während seiner Demokratischer Rivale Barack Obama die gleiche Rolle in Bezug auf Afghanistan spielt.

Die parteiübergreifende Einheit zwischen Bush, McCain und Obama im russisch-georgischen Konflikt zeigt erneut, dass die große Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung - die gegen den Krieg im Irak ist und kein Interesse an einem Krieg mit Russland hat -, bei der Präsidentschaftswahl in Wirklichkeit keine echte Wahl hat. Es hat in der breiten Öffentlichkeit praktisch keine Diskussion über die Implikationen des amerikanisch-polnischen Abkommens gegeben, das die amerikanische Bevölkerung in einen militärischen Konflikt von unkalkulierbaren Ausmaßen stürzen könnte.

Die Krise in Georgien hat die internationalen Beziehungen erschüttert. Die Auswirkungen werden nicht nur in Osteuropa zu spüren sein, wie man an der Entwicklung in Polen sehen kann, sondern auch in der kaukasischen Region, im Nahen und Mittleren Osten und in Zentralasien.

Im Kaukasus war die erste Auswirkung die Sperrung von Teilstücken der Pipeline, die kaspisches Öl aus Aserbeidschan durch Georgien zum türkischen Hafen Ceyhan transportiert. Die Baku-Tiflis-Ceyhan (B-T-C) Pipeline war auf amerikanisches Betreiben hin gebaut worden, um Öl unabhängig von Russland und dem Iran auf den Weltmarkt zu bringen, denn Washington betrachtet diese beiden Länder als seine größten Gegner in der Region.

Auch die Türkei und Israel wurden in die Krise hineingezogen. Präsident Bush hatte erklärt, dass die US-Navy "humanitäre Hilfe" in georgischen Häfen anlanden und damit Russlands Bereitschaft testen werde, die Freiheit der Meere zu gewährleisten. Aber zuerst muss die Türkei ihre Zustimmung zur Durchfahrung der Kriegsschiffe durch den Bosporus und die Dardanellen in das Schwarze Meer erteilen. Das Außenministerium hat angedeutet, dass die Entsendung der Marine wegen türkischer Bedenken möglicherweise gestrichen werden müsse.

Auch Israel ist tief in den Konflikt verwickelt. Die israelische Web Site Ynet bemerkte: "Die Kämpfe, die am Wochenende zwischen Russland und Georgien ausbrachen, haben Israels intensive Verwicklung in der Region ins Scheinwerferlicht gerückt. Diese Verwicklung erstreckt sich auf die Lieferung moderner Waffen an Georgien und die Ausbildung georgischer Infanterie."

Das russische Regime unter Putin und Medwedew seinerseits verfolgt eine reaktionäre nationalistische Politik und appelliert an die rückständigsten Stimmungen in der russischen Gesellschaft. Ihre Arroganz und ihre Drohungen dienen nur dazu, die Völker Georgiens, der Ukraine, Polens und der baltischen Staaten und die internationale Arbeiterklasse vor den Kopf zu stoßen.

Das Putin-Regime ist das Werkzeug der halbkriminellen neuen Bourgeoisie, die nach der Auflösung der Sowjetunion entstand und sich überwiegend aus der alten stalinistischen Bürokratie rekrutierte, deren sämtliche Laster sie aufweist - vor allem den nationalen Chauvinismus, der zum Merkmal des Stalinismus wurde.

Letztendlich ist der Konflikt zwischen den Vereinigten Staaten und Russland das unvermeidliche Ergebnis der Weltkrise des kapitalistischen Systems, die nicht nur die Form von Wirtschaftszusammenbruch und Finanzkrisen annimmt, sondern auch von Konflikten zwischen den Großmächten, die unausweichlich zu imperialistischem Krieg führen.

Die einzige gesellschaftliche Kraft, die verhindern kann, dass der Imperialismus die Menschheit in einen militärischen Holocaust reißt, ist die internationale Arbeiterklasse. Sie muss vereint und für das Programm der sozialistischen Weltrevolution gewonnen werden. Nur so kann sie den Kapitalismus und das reaktionäre Nationalstaatensystem beenden, welche die Ursache für Militarismus und Krieg darstellen.

Siehe auch:
Bush schickt Militär nach Georgien
(15. August 2008)
Russland reagiert auf amerikanisches Antiraketen-System in Europa
( 19. August 2008)
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