Steuerhinterziehung und moralische Erneuerung

Zu den Hintergründen des Falls Zumwinkel

"Das ist jenseits dessen, was ich mir habe vorstellen können." Mit diesen Worten wertete Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am vergangen Freitag den Vorwurf der Steuerhinterziehung gegen Postchef Klaus Zumwinkel. Am Vortag war die Kölner Villa des Spitzenmanagers und auch die Konzernzentrale der Post AG in Bonn von Steuerfahndern durchsucht worden. Zumwinkel wird vorgeworfen, 12 Millionen Euro am Fiskus vorbei auf geheimen Stiftungskonten in Liechtenstein versteckt und Steuern in Millionenhöhe hinterzogen zu haben.

Mittlerweile ist bekannt, dass das Finanzministerium detaillierte Unterlagen über knapp tausend Steuersünder besitzt, die ihr Geld auf der Liechtensteiner LGT Bank verborgen haben. Sie befinden sich auf einer CD, die der Bundesnachrichtendienst (BND) einem geheimen Informanten für 4,2 Millionen Euro abgekauft hat. Die Steuerfahndung hat etwa 900 Durchsuchungsbeschlüsse beantragt, und seit Wochenbeginn werden täglich mehrere Dutzend Wohnungen in den Nobelvierteln Münchens und anderer Großstädte durchsucht. Gleichzeitig gehen bei den Steuerbehörden laufend Selbstanzeigen von Leuten ein, die durch die freiwillige Nachzahlung der hinterzogenen Steuern ein Strafverfahren vermeiden wollen.

Merkels Entsetzen über den Skandal ist gespielt. Presseberichten zufolge war das Kanzleramt seit Monaten darüber informiert, dass der Bundesnachrichtendienst (BND) über einen Informanten Zugang zu "sensiblen Daten" über mehrere hundert, teils hochkarätige Steuerflüchtlinge hatte.

Es war außerdem nie ein Geheimnis, dass Liechtensteiner Banken ihr Geld verdienen, indem sie Steuerflüchtlingen absolute Anonymität zusichern. Die Bundesregierung selbst schätzt die Zahl der Stiftungen im Fürstentum auf 75.000. Davon sei ein "beachtlicher Teil" von Deutschen gegründet worden, heißt es in einem internen Regierungspapier. Es sei völlig klar, dass die Stiftungen "überwiegend zu Steuerhinterziehungszwecken eingesetzt werden".

Merkel selbst hat zudem einschlägige Erfahrungen mit Liechtensteiner Stiftungen. Sie verdankt ihren Aufstieg an die Spitze der CDU der Spendenaffäre, die vor gut zehn Jahren die Partei erschütterte. Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble und andere CDU-Größen mussten damals ins zweite Glied zurücktreten, weil sie in die Verschiebung von Schwarz-Geldern verwickelt waren, die zum Teil in Liechtensteiner Stiftungen gebunkert wurden. So ganz unvorstellbar und überraschend kann die kriminelle Energie der Steuerbetrüger für die Kanzlerin also nicht gewesen sein.

Merkel führt einen ganzen Chor von hochrangigen Politikern und Verbandssprechern an, die jetzt lautstark ihr Entsetzen heucheln. Sie reagieren auf die Enthüllungen der letzten Tage mit dem Ruf nach moralischer Aufrüstung und verlangen, Unternehmer und Manager in Führungspositionen müssten ihrer "moralischen Vorbildfunktion" nachkommen.

So forderte Jürgen Thumann, der Chef des Industrieverbandes BDI, Manager und Unternehmer mit markigen Worten auf, "ihrer Vorbildrolle" gerecht zu werden. "Wer das nicht akzeptiert, gehört nicht mehr dazu", sagte Thumann der Bild am Sonntag.

Innenminister Schäuble (CDU) warnte am Wochenende, ein derartiges Verhalten erschüttere "das Vertrauen in die soziale Marktwirtschaft", und warf den ertappten Steuersündern vor: "Diese Leute machen alles kaputt. Wenn die Eliten nicht mehr begreifen, dass sie sich an Gesetze halten müssen, ist das schlimm." Das Vertrauen in die soziale Marktwirtschaft werde gegenwärtig weniger durch die Gewerkschaften als durch einen nicht unerheblichen Teil der wirtschaftlichen Eliten gefährdet, beklagte sich Schäuble.

In dieselbe Kerbe schlug der sozialdemokratische Koalitionspartner. "Für diese Art von Raffgier habe ich null Verständnis", wetterte SPD-Bundesfraktionschef Peter Struck, und forderte die Anwendung der "unnachgiebigen Härte des Gesetzes".

Auch Kommentare in den Medien warnen, dass sich das "individuelle Fehlverhalten von Großanlegern im Urteil der Öffentlichkeit zu einem Systemfehler verdichtet" (Süddeutsche Zeitung), oder dass im Gegensatz zur Regierungschefin "viele Normalbürger den Managern inzwischen so ziemlich alles zutrauen" (Frankfurter Rundschau).

Der Ruf nach Moral soll verhindern, dass über die Ursachen der weit verbreiteten Steuerkriminalität nachgedacht wird. Warum gilt Steuerbetrug in Millionenhöhe als Kavaliersdelikt? Warum hat ein Mann wie Postchef Zumwinkel, der nie auf die Idee käme, ein Auto zu klauen, keine Skrupel, Millionen am Fiskus vorbeizuschleusen, obwohl Steuerbetrug in schweren Fällen mit bis zu zehn Jahren Gefängnis bestraft wird?

Das hat ganz offensichtlich etwas mit dem Zustand der Gesellschaft zu tun. Die hemmungslose Bereicherung der Besitzenden auf Kosten der Allgemeinheit bildet seit über dreißig Jahren den offiziellen Inhalt der Regierungspolitik. Die Senkung der Steuern auf Spitzeneinkommen und Unternehmensgewinne ist seither fester Bestandteil des Programms jeder Bundesregierung.

Allein zwischen 1998 und 2005 sank der Spitzensteuersatz von 53 auf 42 Prozent. Angela Merkel, die 2005 die rot-grüne Koalition ablöste, wollte sogar die Steuerprogression abschaffen und durch die Einführung einer Flat Tax den Vermögenden ein milliardenschweres Steuergeschenk machen. Sie musste diesen Plan dann aufgrund des Widerstands gegen seinen Autor, Wirtschaftsprofessor Paul Kirchhof, allerdings wieder aufgeben.

Während Kapitaleigner und Spitzenmanager systematisch ermutigt wurden, sich zu bereichern, wurden staatliche Sozialausgaben als Verschwendung gebrandmarkt und zusammengestrichen. Wer nur dank staatlicher Unterstützung überleben konnte, wurde als "Sozialschmarotzer" beschimpft. Am unteren Ende der Gesellschaft entwickelte sich durch immer schlimmeren Sozialabbau eine beispiellose Verelendung.

In diesem gesellschaftlichen Klima war es nur natürlich, dass Millionäre wie Zumwinkel den Steuerabbau in Eigenregie fortsetzten und einen Teil ihres Vermögens in Steueroasen versteckten. Sie taten schließlich nur, was in der Politik als erstrebenwert galt: Sie kürzten die Gelder, die dem Staat für öffentliche Aufgaben zur Verfügung stehen, im Interesse der persönlichen Bereicherung. Wurden sie entgegen alle Wahrscheinlichkeit erwischt, konnten sie damit rechnen, dass die Sache gegen Entrichtung eines Bußgelds diskret eingestellt wird. Viele Großunternehmen brüsteten sich in den vergangenen Jahren sogar öffentlich, sie bezahlten trotz Gewinnsteigerung keinen einzigen Cent an Steuern.

Zumwinkel hatte nun das Pech, dass er von den Steuerfahndern öffentlich an den Pranger gestellt wurde. Die Medien waren über die bevorstehende Hausdurchsuchung informiert worden und der Postchef wurde vor laufenden Kameras ins Polizeipräsidium abgeführt. Gleichzeitig verkündete die Staatsanwaltschaft, sie werde in den kommenden Tagen und Wochen hunderte Hausdurchsuchungen vornehmen. Sie wollte damit offenbar den Steuerhinterziehern einen Schreck einzujagen und möglichst viele zur Selbstanzeige bewegen. Seither wird wieder diskret und im Verborgenen gefahndet - und die Täter sind gewarnt.

Klaus Zumwinkel verkörperte als Chef der Bundespost, des einst größten deutschen Staatsunternehmens, bis zu einem gewissen Grad die offizielle Regierungspolitik. Es ist kein Zufall, dass er noch vor kurzem als Berater der Regierung fungierte, als Manager des Jahres gefeiert und mit dem Großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde.

Nach der Teilprivatisierung der Post Mitte der neunziger Jahre hatte Zumwinkel in enger Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft 150.000 Arbeitsplätze abgebaut sowie Sozialleistungen und Löhne der Beschäftigten gekürzt, während gleichzeitig die Einkommen der Spitzenmanager und Vorstandsmitglieder ins Astronomische stiegen. All das war legal und wurde von der herrschenden Elite in Wirtschaft und Politik bejubelt.

Nun reagiert sie auf Zumwinkels Fall mit dem Ruf nach moralischer Erneuerung. Er soll das Publikum davon abhalten, über die gesellschaftlichen Hintergründe der weit verbreiteten Korruption nachzudenken und die Empörung über die soziale Ungleichheit dämpfen.

Verantwortlich, lautet die Botschaft der Moralpredigt, sind nicht die Politik und das Gesellschaftssystem, die die hemmungslose Bereicherung einiger Weniger fördern, sondern die Gier, die in jedem von uns steckt - ob Arm oder Reich. Schließlich gibt es überall schwarze Schafe - oben wie unten.

Amen.

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